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Gibt es einen jüdischen Antisemitismus?

Eine Polemik des Publizisten Henryk M. Broder gegen den Autor Hajo Meyer und seinen Verleger Abraham Melzer beschäftigt derzeit das Landgericht Frankfurt am Main. Broder hatte ihnen in scharfen Worten Antisemitismus vorgeworfen. Weil alle drei Beteiligten Juden sind, wirft der Prozess auch die Frage auf, ob es einen jüdischen Antisemitismus gibt. Micha Brumlik, langjähriger Leiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, betont, dass es zumindest jüdische Antisemiten auf jeden Fall gebe und immer gegeben habe.

Moderation: Karin Fischer | 12.01.2006
    Karin Fischer: Der deutsche jüdische Publizist und Spiegelautor Henryk M. Broder ist ein begnadeter Polemiker, manche sagen auch, er ist ein unappetitlicher Polemiker. Ihm geht vieles in Deutschland auf die Nerven. Das von unterschwelligen Schuldgefühlen gesteuerte philosemitische Gutmenschentum genauso wie die bequeme Israelschelte. Linken Antisemitismus nannte er das einst in einem Buch, dass vor 20 Jahren erschien und vielen die Augen öffnete. Hajo Meyer gehörte zu den heftigen Kritikern der israelischen Politik - nur - er ist niederländischer Jude und KZ-Überlebender. Der Fall: Broder nannte Meyer einen koscheren Antisemiten, was ihm per einstweiliger Verfügung zu äußern untersagt wurde. Dagegen klagte Broder und das Landgericht Frankfurt am Main sollte heute die exzentrisch klingende Frage beantworten, ob ein Jude den anderen Antisemit nennen darf. Die Verhandlung wurde vertagt, weil die Richter sich zum Thema Judäophobie, wie er es nannte, kundig machen will. Für uns zu klären ist dazu an dieser Stelle die Frage: Gibt es jüdischen Antisemitismus überhaupt? Und diese Frage geht an Micha Brumlik, den langjährigen Leiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt.

    Micha Brumlik: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass es jüdischen Antisemitismus gibt, aber was es auf jeden Fall gibt und auch in der Geschichte immer gegeben hat, das waren Juden, die sich antisemitisch geäußert und auch antisemitisch gehandelt haben. Die Motive dafür können vielfältig sein. Vor einigen Jahrzehnten ist man gerne vom Konstrukt des so genannten jüdischen Selbsthasses ausgegangen. In dem Fall jetzt, der vor dem Frankfurter Landgericht verhandelt wurde, geht es wohl eher um eine bestimmte, hoch sensible moralische Reaktion, die einige Juden im Gefolge der nationalsozialistischen Verbrechen äußern. Sie hängen zum Teil der alten, guten jüdischen Überzeugung an, dass Juden auf jeden Fall so viel besser als andere sein müssen, dass sie anderen Judenvertretern des israelischen Staates Maßnahmen, wie sie leider oft genug Staaten, wenn sie sich verteidigen müssen, ergreifen, auch nur die heftigsten moralischen Vorwürfe machen.

    Fischer: Eine These, die ja in der Wirklichkeit nicht haltbar ist, wie wir alle sehen.

    Brumlik: Ja. Und das ist eine Haltung, die dann mindestens in der Rezeption durch die Außenwelt von anderem - sagen wir - normalen Antisemitismus, kaum noch zu unterscheiden ist. Also ich will nur sagen, es gibt homosexuelle Schwulenfeinde, es gibt Frauen hassende, Feminismus hassende Frauen, also warum nicht auch jüdische Antisemiten.

    Fischer: Ist es das, was Henryk M. Broder mit koscherem Antisemit meinte, was Sie gerade geschildert haben.

    Brumlik: Also das kann man so nennen. Das ist natürlich eine witzige, paradoxe Bemerkung. Mit koscher wollte Broder einfach zum Ausdruck bringen, jemand der selbst Jude ist und natürlich die Massenvernichtung überlebt hat, der scheint vor einer derartigen Kritik gefeit zu sein, insofern koscher, ja.

    Fischer: Sie haben auf die lange Tradition des jüdischen Selbsthasses angesprochen, die ja historisch schon zu verfolgen ist. Was ist der Unterschied zwischen dieser Tradition des jüdischen Selbsthasses? Wo kommt der her und wann könnte er umschlagen in das, was man Antisemitismus nennt, was ja ein Widerspruch in sich wäre?

    Brumlik: Im späten 19. Jahrhundert, als das aufgeklärte europäische Judentum sich nun an die fortgeschrittenen, modernen europäischen Gesellschaften mit all ihrer Kultur assimilieren wollte, hat man sich oft genug dieses Judentums geschämt, der jüdischen Herkunft, und diese Scham ist dann oft genug in wütende Ablehnung, ja geradezu in Hass und dann in der Tat in einigen Fällen auch in Selbsthass umgeschlagen. Der bekannteste Fall war der Wiener Schriftsteller Otto Weiniger. Er trat zum Protestantismus über, war ein Bewunderer Beethovens und hat sich dann doch umgebracht, weil er mit dem Umstand nicht fertig werden konnte, dass er aus einer jüdischen Familie kam.

    Fischer: Die Entscheidung heute in Frankfurt ist vertagt worden. Wie würden Sie, Micha Brumlik, entscheiden auf die Frage: Darf ein Jude den anderen einen Judenfeind nennen?

    Brumlik: Also das ist auf jeden Fall im Sinne der Meinungsfreiheit gedeckt. Das kann überhaupt nicht strafbar sein. Unabhängig davon wäre nun wirklich auch einmal wissenschaftlich, objektive zu klären, was unter diesen Umständen Judenfeindschaft heißen kann. Aber wie gesagt, wenn es schwule Homosexuellenfeinde und den Feminismus hassende Frauen gibt, kann es auf jeden Fall auch jüdische Antisemiten geben.