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Giegold: Ratspräsidentschaft hat Volkshochschulcharakter

Sven Giegold sagt, dass die wechselnde EU-Ratspräsidentschaft mit großer Ineffizienz verbunden sei. Vor allem dann, wenn die vorsitzenden Länder aus Eigeninteressen wichtige europäische Prozesse aufhalten, so der EU-Parlamentarierer der Grünen.

Sven Giegold im Gespräch mit Reinhard Bieck | 02.01.2012
    Silvia Engel: Die halbjährige Wechselei der EU-Präsidentschaft. ist das noch zeitgemäß? Das fragte mein Kollege Reinhard Bieck den Grünen-Europaabgeordneten Sven Giegold.

    Sven Giegold: Also, eigentlich ist das natürlich ein Anachronismus. Das kommt aus der Zeit eines reinen Staatenbundes, wo jedes Land völlig unabhängig vom anderen regiert und folglich auch jedes Land genau gleich sein wollte und man bloß nicht zu viel Macht an einen, etwa irgendeine Zentralbehörde abgeben wollte. Das belastet natürlich gerade auch die Rettung des Euros, denn im Wirtschaftsbereich ist dieses Gewechsel ganz besonders extrem, weil noch hinzukommt, dass es dort mehrere Gremien gibt, die jeweils unter unterschiedlichen Vorsitzen tagen. Mal Herr Juncker, mal Herr Rehn, dann der wechselnde Finanzminister, Herr Van Rompuy. Also, wir haben eigentlich vier Vorsitzende im Bereich des Euros. Verrückt ist das, oder!

    Reinhard Bieck: Ja, und dabei gibt es doch im Moment eigentlich gar kein anderes Thema als den Euro. Und jetzt müssen wir ja noch eins bedenken: Mit Polen und Dänemark sind zwei Länder Ratspräsident, die den Euro ja gar nicht haben. Das wirkt wie eine Fehlbesetzung, oder nicht?

    Giegold: Ja und nein. Also, ich würde erst mal Dänemark und Polen nicht so in einem Atemzug nennen. Polen ist auch kein kleines Land, sondern Polen ist ein wichtiges Land in Europa und eigentlich das Einzige in Osteuropa, das wirklich mit großem Selbstbewusstsein auftritt. Und das hat man auch in der Ratspräsidentschaft gespürt. Dänemark ist natürlich ein kleines Land und da muss man sagen, es hat eben neben Großbritannien als einziges das Recht, den Euro nicht einzuführen. Alle anderen Länder haben sich dazu verpflichtet und Polen möchte das auch und drängt auch - und ich finde, mit vollem Recht, und das sollte ein Grund zur Freue sein - in das Zentrum Europas. Das ist also nicht das Gleiche. Aber der Anachronismus besteht natürlich darin: Wenn Sie die nächsten Ratspräsidentschaften dann anschauen, ja, also, nach Dänemark, Zypern, Irland, Litauen, Griechenland, dann können Sie schon abschätzen, dass das natürlich nicht die Machtzentren sein werden, die Europa steuern können, und faktisch das natürlich zu informellen Strukturen parallel zu den Ratspräsidentschaften führt. Viele sagen, die Präsidentschaft des Rates liegt derzeit sowieso in Berlin.

    Bieck: Bei Angela Merkel. - Gesetzgebungsverfahren sind bekanntermaßen langwierig, ich nenne einfach mal nur als Beispiel Abgasvorschriften: Da muss sich ein Land wie Dänemark, das selbst keine nennenswerte Automobilproduktion hat, ganz mühsam einarbeiten und nach sechs Monaten ist dann schon wieder alles vorbei. Ist so was effektiv?

    Giegold: Ja, also, die Frage kann man in der Tat stellen, ob das effektiv ist. Im Grunde hat das Ganze mehr einen Volkshochschulcharakter für das jeweilige Land, denn es führt ja dazu, dass praktisch alle Ministerien, die verschiedenen Parteien, die Regierung einmal aus der doch eher begrenzten Blickweise des nationalen Tellerrands herausmüssen und sich über gesamteuropäische Interessen Gedanken machen. Das macht in gewisser Weise Sinn, weil, wir haben ganz entschieden zu wenig Orientierung an gesamteuropäischen Interessen, sondern jeder macht eine Politik der roten Linien. Und wer mächtiger ist, kann das eben auch machtvoller tun. Deutschland fährt derzeit sehr stark eine solche Politik der roten Linien. Die Ratspräsidentschaft zwingt, diesen Blickwinkel zu überwinden. Aber das ist natürlich mit großer Ineffizienz verbunden, wie Sie das eben gesagt haben, und es wäre viel besser, wenn es endlich in allen Rechtsbereichen effektive und transparente europäische Entscheidungen auch im Rat gäbe und nicht nur im Parlament. Dann könnte man diesen Zirkus in der Tat wirklich beenden.

    Bieck: Seien wir doch zum Jahresbeginn mal etwas versöhnlich: Nennen Sie uns doch mal aus Ihrer Praxis ein Beispiel für sinnstiftende Arbeit einer EU-Ratspräsidentschaft!

    Giegold: Ach, ich sage es mal so: Ich war ja sehr beteiligt an dem Aufbau einer neuen europäischen Finanzaufsicht, was ja dringend notwendig ist nach der Krise und immer noch in der Krise. Das ist dann schließlich gelungen, nachdem ein halbes Jahr Spanien das unter seiner Präsidentschaft blockiert hat. Und wir hatten als Parlamentsverhandler dort praktisch keine Chance, uns dort zu einigen. Das ging ein halbes Jahr und dann kamen die Belgier. Die Belgier sind sehr erfahren in europäischen Fragen, die haben innerhalb weniger Wochen diese Kuh vom Eis bekommen. Das heißt, es kommt eben schon auch darauf an, wer da sitzt. Und das macht es eben so problematisch, wenn das auch immer wieder Länder sind, die auch aus Eigeninteressen dann wichtige europäische Prozesse aufhalten. Aber ich will was Positives noch sagen: Ich glaube, irgendwann wird das überwunden werden und die Eurokrise wird es jetzt erzwingen. Richtig ist aber, dass das nur geht, wenn wir die europäischen Verträge ändern. Und deshalb brauchen wir als Konsequenz aus dieser Krise eine offene demokratische Debatte im Rahmen eines europäischen Konvents, um diese Ineffizienzen zu lösen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.