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Giftgaskatastrophe von Seveso
Chaotisches Krisenmanagement und seine Folgen

Am 10. Juli 1976 wurde bei einem Unglück in einer norditalienischen Chemiefabrik das hochgiftige Dioxin freigesetzt. Betroffen waren Bewohner der Ortschaft Seveso und Nachbargemeinden unweit von Mailand. Chlorakne entstellte die Gesichter von Kindern und bis heute bleibt die Angst vor gesundheitlichen Spätfolgen.

Von Henning Klüver | 10.07.2016
    Folgen des Seveso-Unglücks am 10. Juli 1976: Spezialisten in Schutzanzügen sind auf dem Weg in das verseuchte Gebiet, um Pflanzen- und Bodenproben zu entnehmen und sie auf Rückstände zu untersuchen.
    Folgen des Seveso-Unglücks am 10. Juli 1976: Spezialisten in Schutzanzügen sind auf dem Weg in das verseuchte Gebiet, um Pflanzen- und Bodenproben zu entnehmen und sie auf Rückstände zu untersuchen. (picture-alliance / dpa - ANSA )
    Es ist sonnig warm an jenem Samstag Vormittag, dem 10. Juli 1976. In der Brianza, einem industriell geprägten Landstrich rund 20 Kilometer nördlich von Mailand, denken die Bewohner bereits an die kommenden Sommerferien. Kinder spielen auf den Straßen oder in den Gärten, in denen die Arbeiter der Fabriken zwischen Meda, Seveso oder Cesano Maderno Obst und Gemüse ziehen. Am Ortsrand von Meda liegt die Chemiefabrik Icmesa – ein Unternehmen der Schweizer Gruppe Givaudan, die wiederum zum Konzern Hoffmann-La Roche gehört.
    "An diesem Samstag ging mein Cousin am Nachmittag nach Meda und kam an der Fabrik vorbei. Er erzählte, dass es penetrant nach faulen Eiern gerochen habe. Aber wir wussten nicht, was los war und dachten uns weiter nichts dabei."
    Maurizio Zilio ist damals 24 Jahre alt und Facharbeiter einer Maschinenfabrik. Was er und die Anwohner nicht ahnen: Als am Ende der Nachtschicht am Samstag Morgen die Anlage heruntergefahren wird, kommt es aufgrund von Wartungsfehlern zu einem dramatischen Anstieg der Temperatur in einem Reaktionskessel. Die Folge ist ein unkontrollierter Anstieg des Kesseldrucks. Um 12.27 Uhr entlädt sich der Überdruck über ein Sicherheitsventil ungefiltert in die Umwelt. La Roche hatte aus Kostengründen auf ein Auffanggefäß für ein Explosionsentlastungsrohr verzichtet. Eine halbe Stunde lang entweicht ein Gasgemisch, das eine giftige weißliche Wolke bildet und über Gärten und Kanäle nach Seveso zieht. Über das Ausmaß und die Folgen des Unglücks lässt die Firmenleitung die Anwohner zunächst völlig im Unklaren:
    "Man sagte uns nur, wir sollten möglichst keine Gartenfrüchte essen und uns immer die Hände waschen - solche Vorsichtsmaßnahmen eben."
    Erst acht Tage nach dem Unglück wird verseuchte Gebiet evakuiert
    Doch die Wolke enthält eine hochgiftige Substanz: TCDD oder vereinfacht Dioxin genannt. Es kann bei überhöhten Temperaturen als Nebenprodukt bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln entstehen. Bald verlieren Bäume und Sträucher ihre Blätter. Haustiere verenden. Ärzte stehen ratlos vor der Chlorakne, einem aggressiven, ihnen unbekannten Hautausschlag, der vor allem Kinder betrifft. Angst macht sich breit, die Arbeiter der Icmesa streiken. Erst acht Tage nach dem Unglück wird die Fabrik geschlossen und das verseuchte Gebiet evakuiert. Alberto Colombo ist damals 15 Jahre alt.
    "Dann kamen die Soldaten. Ich erinnere mich noch gut, wie sie um die Fabrik einen Drahtverhau errichteten, um den Zugang zu verhindern."
    Betroffen sind auf 108 Hektar Boden der sogenannten Zone A vor allem Teile der Gemeinde Seveso mit 204 Familien, 37 Klein- und drei Industrieunternehmen, mehreren Geschäften sowie einem landwirtschaftlichen Betrieb. Um das evakuierte Gelände wird die Zone B eingerichtet, in der man Schutzmaßnahmen anordnet.
    "Es herrschte Konfusion. Zum ersten Mal betraf ein Industrieunglück mit einem Giftstoff wie dem Dioxin nicht nur die Arbeiter einer Fabrik, sondern die ganze Bevölkerung. Auch Schulen wurden geschlossen."
    Bewohner werden wie Aussätzige behandelt
    Man rät schwangeren Frauen aus Furcht vor möglichen Missbildungen zur Abtreibung. Die Bewohner, die Haus und Hof verlassen müssen, werden teilweise wie Aussätzige behandelt. Auch wenn sich die schlimmsten Befürchtungen über die langfristigen Auswirkungen des Dioxins in den folgenden Jahrzehnten nicht bestätigt haben, liegt doch der Anteil etwa von Tumor- wie von Gefäßerkrankungen bei der betroffenen Bevölkerung höher als in der restlichen Brianza. Die Verantwortlichen der Icmesa und der Hoffmann-La Roche Gruppe kommen mit leichten Strafen davon, die auch noch zur Bewährung ausgesetzt werden.
    Das Gelände wurde inzwischen aufwendig saniert. Alberto Colombo, der als Vertreter einer Umweltpartei im Stadtrat von Meda sitzt, führt auf einen kleinen Hügel, der direkt neben dem ehemaligen Firmengelände liegt.
    "Genau unter unseren Füßen befindet sich eine luft- und wasserdicht abgeschlossene Wanne. Darin lagern verseuchte Rückstände des Unglücks der Icmesa."
    Keine 20 Meter weiter rauscht eine Schnellstraße vorbei. Die soll jetzt verbreitert und zu einer Autobahn ausgebaut werden. Umweltschützer laufen Sturm gegen die Pläne. Sie fürchten, dass bei den Arbeiten wieder Dioxin freigesetzt werden könnte.