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Gigant unter Zwergen

Virologie. – In der aktuellen "Science" berichten französische Wissenschaftler über das größte bislang gefundene Virus. Dieses Mimivirus genannte Wesen ist ungefähr so groß wie ein kleines Bakterium und wurde in Amöben gefunden, die Kühltanks im englischen Bradford besiedelt hatten.

28.03.2003
    Von Kristin Raabe

    Verschiedene Einzeller, Fadenwürmer, Viren, Bakterien - Die Anzahl der Feinde war groß, vielgestaltig und mit einem perfekten Verteidigungssystem ausgerüstet - bestehend aus einer Vielzahl von Resistenzen gegen diverse Antibiotika und Desinfektionsmittel. Aber die britischen Mikrobiologen wussten genau, wonach sie in den Kühltanks des Krankenhauses suchen mussten: Der Übeltäter lebt in einer Amöbe. In den Einzellern produzieren Legionellenbakterien tausendfachen Nachwuchs. Und der kann sich dann über die Klimaanlage verbreiten und die gefährliche Lungenentzündung auslösen. Schnell hatten die britischen Experten in Kühltanks einen Erreger gefunden, der bevorzugt in Amöben hauste. Allerdings schien es sich dabei nicht um ein Legionellenbakterium zu handeln:

    Sie dachten einfach, das ist ein neues Bakterium. Dann kamen die Proben zu Didier Raoult nach Marseille. Er und seine Mitarbeiter haben versucht, dieses Bakterium zu isolieren. Das haben sie ein Jahr vergebens probiert. Irgendwann kam dann jemand auf die Idee, sich dieses Ding einmal unter dem Elektronenmikroskop anzuschauen. Und was sie dort sahen, war tatsächlich kein Bakterium. Es sah vielmehr aus wie ein Virus.

    An diesem Punkt kam Jean-Michel Claverie ins Spiel. An der Universität in Marseille ist er der Experte für Viren. So ein Virus hatte er allerdings noch nie gesehen. Es war ein Gigant unter den Mikroben:

    Dieses Virus ist wirklich riesig. Tatsächlich ist es das erste Virus überhaupt, das man schon unter dem normalen Lichtmikroskop sehen kann, wenn man es vorher anfärbt. Und noch etwas macht dieses Virus einzigartig. Es lässt sich nicht filtern. Für den großen Pasteur war das ein wichtiges Merkmal zur Unterscheidung von Viren und Bakterien. Viren gehen durch die üblichen Porzellanfilter zur Reinigung von Wasser hindurch. Bakterien bleiben jedoch in diesen Filtern hängen, weil sie zu groß sind. Dieses Virus ist aber genauso groß wie viele Bakterien und bleibt deswegen auch in den Filtern hängen. Es ist das einzige bekannte nicht filterbare Virus.

    Weil dieses Virus sich wie manche Bakterien anfärben ließ und nicht filterbar war gaben die Forscher dem neuen Virus den Namen "Mimivirus" von Mimikri, was soviel bedeutet wie Nachahmen oder Imitieren. Wie einzigartig das riesige Mimivirus tatsächlich ist, zeigte sich, als Jean-Michel Claverie die Erbsubstanz des Virus untersuchte. Das Genom war größer als das von Bakterien. Von den rund 1000 Genen kamen dem Forscher allerdings nur 15 irgendwie bekannt vor. Durch die Analyse der Gene wollte er eigentlich den Stammbaum des Mimivirus rekonstruieren. Claverie:

    In diesem Fall haben wir keinen gemeinsamen Vorfahren gefunden. Wenn man sich den Stammbaum aller DNA-Viren anschaut, dann bildet sich der Ast für das Mimivirus bereits ganz früh in der Nähe der Wurzeln. Es ist mit keiner bisher bekannten Virusfamilie verwandt. Im Moment sieht es so aus also würde, das Mimivirus direkt von dem Vorfahren aller Viren abstammen. Diese Geschichte zeigt uns, dass wir so gut wie gar nichts über die Welt der Mikroben wissen. Die Tatsache, dass ein so ungewöhnliches Virus plötzlich in der Klimaanlage eines britischen Krankenhauses auftaucht, und so lange unbekannt bleibt macht eines deutlich: In unserer direkten Umgebung gibt es eine riesige Anzahl von unbekannten Viren und Bakterien, von denen wir absolut nichts wissen.

    Winzige Einzeller tummeln sich im Abfluss in unserer Küche. Fadenwürmer kriechen gemächlich über die Schale eines Apfels, in den wir gerade hineinbeißen, mikroskopisch kleine Milben bewohnen unsere Kleidung, in unserem Darm wimmelt es von unbekannte Bakterien, und aus der Klimaanlage rauschen Sporen von Pilzen und Viren - die wahren Herrscher über die Welt sind unsichtbar.