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Gilles Kepel: "Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft"
Ein Buch, dem die Geduld abhanden gekommen ist

Der islamistische Terror spalte die französische Gesellschaft gezielt - das ist eine These, die Gilles Kepel in seinem neuen Buch "Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft" entwickelt. Er schreibt gar von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" im Land. Die verbale Aufrüstung des Soziologen irritiert.

Von Kathrin Hondl | 18.03.2017
    Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois
    Der Bruch in Frankreichs Gesellschaft wird in den tristen Banlieues besonders deutlich. (picture-alliance / Robert B. Fishman)
    Auf dem Buchcover gleicht Frankreich einem zersplitterten Spiegel: Ein ausgefranstes Sechseck, durchzogen von deutlichen Rissen. Gilles Kepels Diagnose: ein "identitärer Bruch in der Gesellschaft". Im von Massenarbeitslosigkeit gebeutelten Frankreich sei die Spaltung zunächst eine ökonomische – zwischen denen, die Arbeit und Wohlstand haben, und den anderen. Kepel nennt sie "Outsider".
    "Es gibt zwei Typen dieser Outsider: Zum einen Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Banlieues der Großstädte, zum anderen das "weiße Frankreich" vom Land oder in den Kleinstädten. Die einen verfallen der Logik einer islamischen Parallelgesellschaft, die anderen den Rechtsextremen."
    Ausgrenzung macht Muslime empfänglich für islamistische Propaganda
    Wie schon im Vorgängerbuch "Terror in Frankreich" führt Gilles Kepel aus, wie der dschihadistische Terror diese Spaltung gezielt vorantreibt. Der Aufstieg rechtsextremer islamfeindlicher Parteien gehöre zum Kalkül. Denn Ausgrenzung und Diskriminierung machten Muslime empfänglich für islamistische Propaganda.
    Den Politikern wirft Kepel Ignoranz vor: Gegenüber der Strategie der Dschihadisten und auch was deren "Nährboden" angeht, den Salafismus.
    "Kurzsichtige Politiker", schreibt Kepel, hätten "weder versucht zu verstehen, wie noch warum sich eine Kultur freiwilliger Abschottung in Enklaven herausbilden konnte, die sich im Bruch mit der europäischen Gesellschaft und mit europäischen Werten befindet." Auch im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf werde das Thema gemieden.
    Islamophobie als Kampfbegriff
    "Der Wahlkampf verläuft, als ob es die 239 Attentatsopfer nicht gegeben hätte. Der konservative Kandidat Fillon ist der einzige, der jetzt davon spricht, aber nur weil er sich in Richtung rechts radikalisiert, um von seinen Problemen mit der Justiz abzulenken. Ich glaube, die Präsidentschaftskandidaten haben noch nicht begriffen, was die Spaltung der Gesellschaft über die Attentate hinaus bedeutet."
    Kepel beobachtet und kritisiert eine - so wörtlich - "Verschleierung des Dschihadismus in Europa unter dem Vorwand, Islamophobie sei das bedeutendere soziale Phänomen". Islamophobie, so seine These, sei zu einem Kampfbegriff geworden, der die Gesellschaft weiter spalte.
    "Es gibt heute alle möglichen Vereine, die vorgeben die Islamophobie zu bekämpfen, die damit aber eine abgeschottete islamische Identität schaffen wollen. Dem gegenüber steht eine andere abgeschottete Identität, nämlich der Front National, der - grob gesagt - meint, Muslime seien keine Franzosen."
    Kepels Vehemenz irritiert
    Die Vehemenz, mit der der Soziologe Kepel die Islamophobie-Bekämpfer in Frankreich kritisiert, irritiert. In Zeiten, wo auf der anderen Seite des Atlantiks ein US-Präsident Muslimen aus bestimmten Ländern pauschal die Einreise verweigern will, ist es problematisch, dass Kepel das Wort Islamophobie hartnäckig in Anführungszeichen setzt. Auch wenn es letztlich die Dschihadisten sind, die Muslime in eine Opferrolle drängen wollen. Doch Kepels großes Thema ist die gespaltene Gesellschaft Frankreichs, ein Land, in dem, so schreibt er alarmistisch, "zunehmend bürgerkriegsähnliche Zustände" herrschten.
    Auch diese verbale Aufrüstung verwundert. Denn gerade Gilles Kepel hat sich in den vergangenen Jahren als äußerst nüchterner Analytiker erwiesen. Einer, der die vielfältigen Ursachen des Terrors in ihrer ganzen Komplexität untersucht und benennt und sich dabei sowohl auf seine Kompetenz als Kenner der arabischen Welt und Sprache, als auch auf seine soziologischen Studien in Frankreich stützt.
    Ein Buch, dem die Geduld abhanden gekommen ist
    "Der Bruch" ist ein Buch, dem die Geduld abhanden gekommen ist, in dem die Spaltung Frankreichs nicht nur analysiert sondern direkt spürbar wird. Gilles Kepels Name steht auf einer Todesliste des IS. Im Nachwort seines Buchs schreibt er: "Man wartet auf die politische Vision, die der Versuchung des Bruchs zu widerstehen vermag."
    "Ich habe das Buch geschrieben, während die Attentate Frankreich erschütterten und ich selbst zum Tode verurteilt war. Für mich war das eine Art auf die Todesdrohung zu antworten. Weil man mich mit dem Tod bedroht, werde ich nicht schweigen. Im Gegenteil: Ich schreibe erst recht noch ein Buch."
    Gilles Kepel: "Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft"
    Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 240 Seiten, 20 Euro.