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Glauben
Im Anfang waren die Götter

Große Tempelanlagen wurden von großen, komplexen Gesellschaften errichtet. Das legt nahe, dass zunächst die Zivilisation entstand und dann erst der Glaube. Doch dieses Bild ist zu einfach, vermuten Archäologen, Anthropologen und Psychologen. Vielleicht war es sogar umgekehrt.

Von Volkhart Wildermuth | 23.12.2016
    Die monumentalen T-Pfeiler des Göbekli Tepe
    Die monumentalen T-Pfeiler des Göbekli Tepe (NICO BECKER/DAI)
    Der Göbekli Tepe liegt weit weg von Wasser, Wiesen oder Wäldern auf einem kahlen Bergrücken. Hier haben Forscher wie Oliver Dietrich vom Deutschen Archäologischen Institut Dutzend Kreise aus Steinsäulen ausgegraben. In deren Mitte jeweils zwei mächtige Pfeiler, fünf Meter hoch, an den Seiten angedeutete Arme und Hände, ein Lendenschurz.
    "Das ist ein Ehrfurcht gebietender Moment, wenn man das zum ersten Mal sieht. Ich würde jederzeit zustimmen, dass das übermenschliche Wesen sind. Ob man sie als Götter bezeichnen muss, weiß ich nicht", sagt Dietrich.
    Göbekli Tepe wurde nicht von einer blühenden Zivilisation errichtet, sondern von kleinen, mobilen Gruppen steinzeitlicher Jäger und Sammler. Der Psychologe Ara Norezayan von der Universität von Vancouver vermutet, dass diese Menschen eine neue Form der Spiritualität entwickelten, die es ihnen ermöglichte, zu Hunderten zusammenzuarbeiten, um die tonnenschweren Pfeiler aus dem Fels zu schlagen und zu Monumenten zu arrangieren.
    Geister heutiger Jäger und Sammler-Völker sind meist in der Natur verwurzelt
    "Lange galten religiöse Traditionen als Produkt der komplexen Gesellschaften. Aber wir vermuten, dass es auch andersherum sein könnte. Dass der Glaube an diese mächtigen, an Moral interessierten Götter die Menschen zu einem sozialen Verhalten befähigte. Und dass diese Gruppen dann andere Gruppen ohne solche Götter verdrängt haben. Das ist der Kern meiner Theorie."
    Die Geister heutiger Jäger und Sammler-Völker sind meist in der Natur verwurzelt, die Sphäre der Menschen kümmert sie kaum. Das ist auch nicht notwendig. In den kleinen Gruppen kennt jeder jeden, Übertritte werden sofort von der Familie oder dem Klan geahndet. In größeren Gemeinschaften muss man sich aber auch auf Fremde verlassen können. Und dieses Vertrauen könnte ein gemeinsamer Glaube an wachsame Götter ermöglicht haben. Ara Norezayan hat überall auf der Welt Menschen nach ihren Glaubensüberzeugungen befragt und sie dann ein Spiel spielen lassen, bei dem sie zum eigenen Vorteil leicht betrügen konnten.
    "Und je mehr die Leute überzeugt waren, dass ihre Geister oder Götter ein Auge auf sie haben und dass sie Fehlverhalten auch bestrafen würden, desto kooperativer waren die Leute. Zumindest wenn ihre Mitspieler zur gleichen Gruppe gehörten", sagt Norezayan.
    Die Seele des Einzelnen im Mittelpunkt
    Überwachte Leute sind nette Leute, fasst Ara Norezayan das Ergebnis zusammen und nette Leute kooperieren, können gemeinsam Monumente wie Göbekli Tepe errichten und später auch auf den Feldern zusammenarbeiten, Städte gründen, mit fernen Ländern.
    Handel treiben. Wachsame Götter gibt es in vielen Varianten. In den Jahrhunderten vor dem Beginn unserer Zeitrechnung entstanden in Indien, China und im Mittelmeerraum aber Religionen, die nicht die Angst vor Strafe in den Mittelpunkt stellten, sondern die Seele des Einzelnen. Weise wie Sokrates, Buddha oder Konfuzius betonten Selbstdisziplin, Zurückhaltung, Askese. Der Anthropologe Pascal Boyer von der Washington Universität in St. Louis vermutet, dass es diesmal der wirtschaftliche Fortschritt war, der die spirituelle Entwicklung angestoßen hat. Erstmals musste zumindest die Oberschicht nicht mehr von der Hand in den Mund leben, sondern konnte langfristige Ziele verfolgen. Das erfordert Impulskontrolle und dauerhafte Beziehungen.
    "Wenn man dann einer Religion begegnet, die das befürwortet, wird diese sehr populär. Einfach weil sie gut heißt, was die Leute sowieso gemacht hätten. In diesen Gesellschaften gab es eine Nachfrage nach Religionen, die sagen, vergesst das Streben nach Macht und schneller Fortpflanzung, mäßigt Euch, kultiviert Freundschaften, kooperiert", sagt Boyer.
    Religion und Regierung sind austauschbar
    Heute verliert die Religion in westlichen Gesellschaften an Boden. Weltliche Institutionen wie Verträge, Gerichte und Polizei übernehmen die Funktion des wachsamen Auges, stellen die Kooperation sicher.
    Norezayan erklärt: "Je besser die funktionieren, desto weniger nutzen die Menschen religiöse Institutionen, um ihr Gemeinschaftsleben zu organisieren. Man könnte sagen, Religion und Regierung sind austauschbar."
    Aber erst heute nach einer langen Entwicklung, die vor über 10.000 Jahren von einer neuen Form der Spiritualität angestoßen wurde. Zum Beispiel am Göbekli Tepe.
    "Der Grundgedanke ist sicherlich richtig, dass der Glaube in diesem Fall wirklich Berge bewegt und dass das eine der Voraussetzungen dazu ist, dass Menschen ihre Lebensweise ändern."