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Glaubenskonflikt
Alawiten fühlen sich im Libanon bedroht

In der kleinen libanesischen Stadt Tripoli leben rund 50.000 Alawiten, die sich zunehmend durch die Anhänger des sunnitischen Islams bedroht sehen. Die beschuldigen die Alawiten als Ungläubige und Anhänger des syrischen Machthabers Assad.

Von Silke Mertins | 26.11.2013
    Ein Checkpoint der Armee kontrolliert jeden, der die steile Straße hinauf nach Jabal Mohsen will. Gerade erst hat sich die Lage nach tagelangen schweren Kämpfen zwischen Alawiten und Sunniten beruhigt. Die Patronenhülsen liegen noch auf den Straßen. Das Alawitenviertel ist eine Welt für sich. An den Wänden hängen Porträts das syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seines Vaters Hafez. Auch sie sind Alawiten. Die Frauen hier tragen keine Kopftücher. Und es eilt an diesem Freitagmorgen auch niemand zur Moschee zum Freitagsgebet. Ein Alawit, der vor seinem Laden Tee trinkt, sagt:
    "Wir sind keine Fanatiker, wir sind offener als andere muslimische Gruppen. Man kann sagen, dass wir liberaler, moderner und auch einfacher als andere islamische Glaubensgemeinschaften sind. Wir akzeptieren andere. Wir fordern sie – die anderen Muslime – auf, auch uns, so wie wir sind, zu akzeptieren."
    Akzeptanz ist das Problem der alawitischen Minderheit in Libanon und Syrien. Viele Sunniten sehen sie nicht als Teil der islamischen Gemeinschaft an. Alawiten praktizieren ihren Glauben anders als andere Muslime. Das kollektive Gebet in der Moschee, die Verschleierung der Frauen, die Rituale und Verbote – all das steht bei den Alawiten nicht im Zentrum ihres Glaubens. Carine Lahoud, Expertin für die Alawiten am Forschungszentrum Bric in Beirut erklärt:
    "Die Alawiten glauben an die zwölf Imame der Schia. Das ist der Hauptgrund, warum sie zu den Schiiten gezählt werden. Aber gleichzeitig gibt es wichtige Unterschiede zwischen den Alawiten und den übrigen Schiiten. Die zentralen Punkte kann man so zusammenfassen: die Vergöttlichung von Imam Ali, der Glaube an die Seelenwanderung und an die Wiedergeburt der Seele und die symbolische Interpretation der fünf Säulen des Islam. Das ist der Grund, warum sie nicht fasten und nach Mekka pilgern müssen. Der alawitische Glaube war vielen Einflüssen ausgesetzt, wie zum Beispiel christlichen. Deswegen findet man bei den Alawiten auch christliche Feiern, sie feiern Weihnachten."
    Doch nicht die Weihnachtsfeiern der Alawiten rufen bei den anderen muslimischen Konfessionen die größte Kritik hervor, sondern die Vergöttlichung von Ali. Imam Ali ist der Schwiegersohn, Cousin und Gefährte des Propheten Mohammed gewesen. Nach Ansicht aller Schiiten hätte ihm die Nachfolge des Propheten zugestanden. Bei den Alawiten ist Ali zum zentralen Element ihres Glaubens geworden. Das gibt auch der alawitische Scheich Ahmed Mohammed Assi in Jabal Mohsen zu:
    "Die Art, wie wir Imam Ali sehen, ist davon geprägt, was er für den Islam getan und wie er ihn verteidigt hat. Dafür bewundern wir ihn. Vielleicht ist die Liebe für ihn wirklich übergroß, die Art, wie wir über ihn sprechen. Aber wann immer die Menschen deshalb schlecht über uns reden, wird das nur dazu führen, dass wir ihn noch mehr lieben. Wir wurden oft vertrieben – in vielen Ländern – und auch gefoltert, weil wir diese tiefe Liebe für Imam Ali haben."
    Unten im Tal, in Bab al-Tabaneh, wo die Sunniten leben, die die große Mehrheit der Muslime ausmachen, ist diese Art der Verehrung völlig inakzeptabel. Sie verstößt ihrer Ansicht nach gegen das Gebot des Monotheismus. Nur wenige Meter entfernt von der Syrien-Straße, die beide Viertel trennt, wartet ein gläubiger Sunnit auf den Gebetsruf.
    "Jeder sagt, ich bin Muslim, aber wahr ist, sie sind keine Muslime, sie sind nicht wie wir. Wir, ich rede von den Sunniten, glauben an Ali, wir glauben an Jesus, und an all die anderen. Aber es gibt nur einen Gott. Und einen Mohammed – nicht Ali, nicht Jesus, nicht Moses, nicht Abu Bakir. Sie sind keine Muslime, denn alles ist bei ihnen anders. Sie beten anders, sie fasten nicht wie wir. Sie sagen, sie sind Muslime, aber sie sind keine Muslime."
    Das ärmliche Viertel Bab al-Tabaneh, das auch viele Extremisten beherbergt, liefert sich seit Jahren regelmäßig schwere Kämpfe mit den Alawiten. Der Krieg in Syrien und zwei Anschläge auf sunnitische Moscheen in Tripoli haben die Spannungen weiter verstärkt. Was auf der Straße geredet wird, entspricht dem, was auch Scheich Mazen Mohammed in der Harba-Moschee beim Freitagsgebet predigt.
    "Die Alawiten praktizieren jenseits dessen, was ihre religiöse Führung vollzieht, keinerlei religiösen Rituale. Da wir hier sehr nah beieinander leben, kann ich definitiv sagen, dass man sie nie beten sieht, auch nicht beim Freitagsgebet. Auch wenn sie versuchen, einen anderen Eindruck zu erwecken. Verglichen mit dem, was wir tun, ist es nichts. Sie werden zwar als Teil der muslimischen Gemeinschaft angesehen, aber sie sind weit davon entfernt, Muslime zu sein. Ehrlich, wenn man ihre Moscheen beobachtet, ist offensichtlich, dass sie überhaupt nicht beten und fasten."
    Sunnitische Extremisten beziehen sich auf eine Fatwa aus dem 14. Jahrhundert. Sie ruft zur systematischen Verfolgung der Alawiten auf. Anfeindungen wie diese hatten in Syrien dazu geführt, dass das Assad-Regime versucht hat, die Alawiten zu sunnifizieren – sie stärker den Sunniten anzupassen. Auch in Jabal Mohsen gibt es mittlerweile zwei Moscheen. Die Glaubensunterschiede, betont der alawitische Scheich Ahmed Assi, seien im Grunde minimal und unwesentlich. Über das rituelle Geheimwissen, dass nur innerhalb der religiösen Elite mündlich weitergegeben wird, will er nicht einmal sprechen. Je größer die Bedrohung wird, desto mehr leugnen die Alawiten ihre Andersartigkeit. Expertin Carine Lahoud sagt dazu:
    "Es ist eine kleine Gemeinschaft im Libanon, die in einem Ghetto lebt. Sie leben in einem Ghetto, umgeben von Sunniten. Natürlich haben sie Angst in Tripoli."