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Globalisierungskritik
Fortschritt durch Lernen und Bildung

Joseph Stiglitz prangert zusammen mit Bruce Greenwald auch in seinem neuen Buch die neoliberale Marschrichtung und ihre negativen Auswirkungen für Entwicklungsländer an - allerdings wird bei der Lektüre sehr viel Fachwissen vorausgesetzt.

Von Silke Hahne | 16.11.2015
    Blockupy-Proteste gegen die EZB: Aktivisten befestigen ein Transparent mit der Aufschrift "Kapitalismus tötet" an der Fassade des Hochhauses Skyper
    Blockupy-Proteste gegen die EZB: Aktivisten befestigen ein Transparent mit der Aufschrift "Kapitalismus tötet" an der Fassade des Hochhauses Skyper (Michael Braun)
    Wenn Politiker von der Schaffung einer Wissensgesellschaft sprechen, dann fordern sie meist im gleichen Atemzug mehr Geld für Schulen und Universitäten; für den öffentlichen Bildungssektor also.
    Die Ökonomen Joseph Stiglitz und Bruce Greenwald hingegen wählen für ihre Vorstellung einer wissensbasierten Gesellschaft einen sehr viel breiteren Ansatz: Von der Rolle einzelner Unternehmen über Branchen und Märkte bis hin zur Wirtschaftspolitik nehmen sie so ziemlich alle Teile einer Volkswirtschaft in den Blick – und fragen: Wie kann hier Lernen entstehen?
    Die Grundlage fürs Lernen ist für sie: Dinge selber zu machen. Die wirtschaftswissenschaftliche Anwendung der Formel "Learning by Doing" geht auf den Ökonomen Kenneth Arrow zurück, dessen Schüler Jospeh Stiglitz war:
    "Wir alle wissen, dass wir durchs Tun lernen. Was wir in der Schule lernen, ist ja nur ein kleiner Teil. Wir lernen auch bei der Arbeit. Das zeigt das Beispiel Südkorea: Das Land baute Stahlfabriken. Und binnen kurzer Zeit wurde es zum effizientesten Produzenten von Stahl weltweit. Das hätte es nie gelernt, wenn es keine Stahlfabriken gehabt hätte. Das kann man nicht aus Büchern lernen."
    Ziel, die Welt gerechter zu machen
    Beide Autoren sind seit vielen Jahren damit beschäftigt und dafür bekannt, dass sie die Welt gerechter machen wollen. Insbesondere Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger und derzeit an der Columbia Universität in New York, gilt als großer, linker Vordenker der Wirtschaftswissenschaft.
    Stiglitz und Greenwald nehmen an, dass Entwicklungsländer durch Lernen zu den entwickelten Ländern wirtschaftlich aufschließen können. Und welche Wirtschaftspolitik das Lernen fördert, diese Frage steht im Zentrum des Buches. Die Rezepturen der Welthandelsorganisation (WTO) oder des Internationalen Währungsfonds (IWF) jedenfalls nicht, stellen sie fest:
    "Die meisten Länder haben ja die WTO-Abkommen unterzeichnet. Diese Abkommen wurden hauptsächlich von den entwickelten Ländern vorangetrieben. Sie haben darin festgehalten, was sie beschäftigte. Die Struktur der Zölle wurde so gestaltet, dass die Entwicklungsländer lediglich weiter Rohstoffe produzieren und nicht wirtschaftlich aufholen können. Anstatt ihre Rohstoffe wertsteigernd weiterzuverarbeiten – und so zu lernen und ihr Einkommen zu steigern –, zwang sie sowohl die Struktur als auch die Höhe der Zölle dazu, in ihrem weniger entwickelten Stadium zu verharren."
    Insbesondere der sogenannte Washington-Consensus ist den Autoren ein Dorn im Auge – ein Maßnahmenpaket von 1990, für das sich unter anderem Weltbank und IWF lange starkgemacht haben und das ihnen Jahrzehnte lang als Grundlage für Wachstum und Stabilität galt. Der Washington-Consensus umfasst zum Beispiel die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Beseitigung von Handelshemmnissen und den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft. Das alles, kritisieren Stiglitz und Greenwald, behindere in Wahrheit Lernen und Innovation:
    "Eine Politik, die Lernprozesse behindert – indem sie beispielsweise den Einsatz der Industriepolitik begrenzt –, wird langfristig den Wohlstand schmälern. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, angesichts derer wir die Ansicht vertreten, dass traditionelle entwicklungspolitische Ansätze wie jene, die auf dem Washington-Consensus beruhen, in die Irre führen: Gut durchdachte Handelsbeschränkungen, Subventionen und Wechselkursinterventionen können dazu beitragen, das Lernen zu fördern."
    Die Autoren argumentieren – und das ist einleuchtend –, dass der Staat sowieso die Wirtschaft beeinflusse, ob er sie nun aktiv politisch gestaltet oder sich daraus zurückzieht. Sie plädieren für eine Wirtschaftspolitik, die sich nicht darauf verlässt, dass der Markt es zum Wohle aller schon richten wird.
    "Stattdessen kann es sinnvoller sein, wenn der Staat die Mittel direkt zuteilt. Die Annahme, der private Sektor verstehe sich besser darauf, knappes Kapital zu verteilen, wurde durch die Ereignisse, die zur Finanzkrise von 2008 führten, eindeutig widerlegt."
    Staaten als bewusste, steuernde Akteure einer Volkswirtschaft – Stiglitz ist Anhänger der keynesianischen Lehre. Die eigentliche Expertise des Co-Autors Bruce Greenwald, das wertorientierte Anlegen an Finanzmärkten, findet im Buch hingegen keinen Niederschlag. Die beiden Autoren verbindet, dass sie zur wirtschaftlichen Bedeutung von Informationen geforscht haben. Und zwar schon vor Jahrzehnten.
    Nicht unbedingt frische Argumente und Theorien
    Auch die anderen theoretischen Grundlagen des Buches sind nicht unbedingt frisch. Und die Schlüsse, die Stiglitz und Greenwald ziehen, sind nicht wirklich überraschend – links eben und im Zweifel gegen die wirtschaftspolitische Dominanz der entwickelten Länder. Interessant ist aber das Dazwischen: Die Betrachtung der bekannten Theorien ausschließlich durch die Brille von Wissenszuwachs und Innovation. Zum Beispiel im Kapitel über Patentgesetze:
    "Regelungen zum Schutz der geistigen Eigentumsrechte sollen Innovationen fördern, indem sie Innovatoren die Möglichkeit geben, den Lohn ihrer Arbeit zu ernten, und damit Anreize zur Forschung schaffen. Aber das geistige Eigentum stört die Weitergabe und Verbreitung von Wissen und fördert die Geheimhaltung. Und diese Effekte behindern Lernprozesse."
    So lautet auch der politische Grundtenor des Buches: Von wirtschaftlichem Wachstum profitieren sollen nicht einzelne Unternehmen, sondern möglichst alle Menschen in allen Ländern. Und so begegnet Stiglitz auch der Kritik an der Idee des ewigen Wachstums wie folgt:
    "Ich denke, die Einkommen müssen nicht Jahr um Jahr steigen, wenn wir es schaffen, dass diejenigen am unteren Ende und in der Mitte dahinkommen, wo die restlichen Länder schon sind. Wenn Leute sagen: Ich habe genug, wir haben genug, dann vergessen sie, dass ein großer Teil der Welt eben noch nicht genug hat – nicht einmal genug, um über die Runden zu kommen."
    So simpel das klingen mag: Diese Botschaft ist im Text sorgfältig versteckt hinter einer ganzen Menge komplizierter volkswirtschaftlicher Theorien und Fachbegriffe, deren Kenntnis von den Autoren vorausgesetzt wird. Wer mit dem Schumpeter'schen Wettbewerb oder externen Skaleneffekten nichts anfangen kann – sich aber trotzdem für ein konsequent zu Ende gedachtes Werk über die Wissensgesellschaft interessiert – der könnte die Gelegenheit nutzen, sich auch gleich ein gutes Wirtschaftslexikon anzuschaffen. Denn ohne das ist dieses Buch zumindest für volkswirtschaftliche Laien kaum konsumierbar.
    Buchinfos:
    Joseph Stiglitz/Bruce Greenwald: "Die innovative Gesellschaft. Wie Fortschritt gelingt und warum grenzenloser Freihandel die Wirtschaft bremst", Econ Verlag, 462 Seiten, Preis: 25,00 Euro