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Glosse: Frühjahrskatalog von Kösel
Literarische Homöopathie

Lese-Depression durch Bücherflut? Das muss nicht sein! Einfach den Katalog "Kösel Frühjahr 2018" studieren - die Bücher selbst muss man dann gar nicht mehr lesen. Und die schiere Zusicherung, dass es auch für ihn ein ganz spezielles Trostbuch gäbe, entlastet den Leser von allem Gram und Leid.

Von Florian Felix Weyh | 05.01.2018
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Zwei Mal im Jahr Neuerscheinungen kaufen? Nicht nötig - dank Kösel-Katalog (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Beginnen wir mit den äußeren Daten: Das vorliegende Werk eines anonymen Autorenkollektivs besitzt ein angenehm ruhiges Cover mit lindgrünem Blattmuster. Im Genre der avantgardistischen Sachbuch-Collage kommt ihm Präzendenzcharakter zu, da das Autorenkollektiv unsere komplexe Welt in all ihren Facetten abbilden will, ohne irgendjemanden mit seinen zwar nicht vorhandenen, aber theoretisch denkbaren Problemen auf der Strecke zu lassen. Jeder wird mitgenommen und auf 66 durchgehend farbig illustrierten Seiten zu einem individuellen Ruhepunkt geführt, an dem ihm die schiere Zusicherung, dass es auch für ihn ein ganz spezielles Trostbuch gäbe, von allem Gram und Leid entlastet.
    Das Buch selbst muss man nicht mehr lesen
    Das Buch selbst muss nach Lektüre von "Kösel Frühjahr 2018" dann nicht mehr gelesen werden, da nach den Prinzipien der literarischen Homöopathie der Katalog an sich wirkmächtig ist. In der längst veralteten Buchhandels-Sachgruppen-Systematik würde man von Psychologie, Lebenshilfe, Esoterik, Religion, Pädagogik und Autobiografie sprechen, doch in der vorliegenden komprimierten Katalogform entsteht etwas völlig Neues. Es beginnt mit dem Motto:
    "Kümmern Sie sich um die eigene Person - niemand kann das besser als Sie!"
    Dieser Satz lässt sich mehrdeutig lesen, was das hohe Niveau des vorliegenden Textes betont. Neben der dem Leser empathisch zugewandten Botschaft besagt er auch, dass sich das Autorenkollektiv Kritik verbittet. Es sei deswegen hier nur am Rande erwähnt - und keinesfalls kritisiert -, dass auf Seite neun die "Gelebte Reinkarnation" angekündigt wird, was den intelligenten Leser zumindest irritieren dürfte, denn was wäre nicht gelebte Reinkarnation? Eben: keine Reinkarnation mehr.
    Von unsicheren Großeltern und kleinen Arschlöchern
    "Kümmern Sie sich um die eigene Person!"
    Ein beherzigenswerter Ratschlag der ganz auf der beruhigenden Linie des vorliegenden Werkes liegt. Nehmen wir "Enkelfreuden & Großelternglück":
    "Großeltern sind oft unsicher, wie sie die kostbare Zeit mit ihren Enkeln gestalten sollen."
    Mein Gott, ja! Denn Großeltern hatten nie Kinder - bekanntlich ist das biologisch ausgeschlossen - und wissen deswegen nicht, was man mit ihnen anstellen soll. Und dann die vielen juristischen Fallstricke!
    "Rechtliche Tipps runden diesen Ratgeber ab."
    Kinder sind ohnehin nichts als ein Problemfall.
    "Beim zweiten Hund wird alles anders."
    Das wäre die Ausweichstrategie, aber bleiben wir bei den Kindern.
    "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" ...
    ... hilft es, selbst nur ein kleines Arschloch zu sein. Das ist die wunderbar konzise Zusammenfassung eines 176-Seiten-Buches, das man dank "Kösel Frühjahr 2018" nicht mehr zu lesen braucht.
    Trendthema "gefühlsstarkes Kind"
    Dafür bleibt dann Zeit für ein echtes, nervenaufreibendes Problem:
    "Wenn Kinder starke Gefühle haben"
    Ah, jetzt krieg ich aber mal schlechte Laune!
    "So viel Freude, so viel Wut"
    ... steckt in mir bei dieser Rezensionsarbeit. Aber natürlich - bestimmt war ich selbst mal ein "gefühlsstarkes Kind". Ganz bestimmt!
    "Dieses Buch zeigt, wie man gefühlsstarke Kinder erkennt, was sie brauchen und welche großartigen Potenziale in ihnen stecken."
    Ah, da bin ich aber erleichtert! Von ferne erinnere ich mich, wie wohltuend und identitätsstärkend allein der Buchtitel "Das Drama des begabten Kindes" in den 80er-Jahren auf mich wirkte, gewissermaßen als Therapieersatz für alle Erlebnisse persönlichen Scheiterns. Eine ganze Generation hat damit eine narzisstisch motivierte Selbsttherapie gemacht. Jetzt also Trendthema "gefühlsstarkes Kind". Daran liegt’s!
    Geballte Fachkompetenz der Autoren
    "[Die Autorin] hat selbst drei Kinder - eines davon gefühlsstark."
    Womit wir bei der Fachkompetenz der Kösel-Autoren angekommen wären. Hier wird nicht elitärer Bildungshuberei das Wort geredet, hier zählen praktische Kompetenzen, mit denen man zwar keinen Nobelpreis erringt, aber amerikanischer Präsident werden kann. Die "artgerechte Kleinkindhaltung" ...
    "artgerecht - das andere Kleinkinderbuch. artgerecht - der andere Familienkalender. artgerecht - das andere Babybuch."
    ... ist zuvor in "Wildnis-Camps" praktisch ausprobiert worden. Vielleicht ein Tipp für ratlose Großeltern, die ihre Enkel nicht leiden können? Das Buch "Was ist katholisch" schreibt ein EDV-Techniker und das "Trendthema weibliches Mondwissen" wird von einer "selbstständigen Ayurveda-Beraterin" aufbereitet, die ja im Gegensatz zu den Heerscharen an verbeamteten Ayurveda-Beraterinnen weisungsungebunden arbeitet. Ihr "Mondschön" ist das Komplementärstück zur "Gelebten Reinkarnation", damit man im derzeitigen Verkörperungszustand bella figura macht.
    Kontrollierter Hirnstillstand durch Kösel-Katalog-Lektüre
    "Während ein Blutgerinnsel ihr Gehirn verstopfte, versuchte sie in einem Blog auszudrücken, wie seltsam sie sich fühlt."
    ... heißt es auf Seite 20 von "Kösel Frühjahr 2018" und beschreibt in etwa, was man bei der Kataloglektüre empfindet. Zusammengefasst im Buchtitel:
    "Der Tag, an dem mein Hirn stillstand"
    Genau das meine ich ... und empfehle allen, die sich immer noch - bildungsbürgerlich geprägt - verpflichtet fühlen, zweimal im Jahr Neuerscheinungen zu kaufen, den kontrollierten Hirnstillstand. Erzeugt mit dem Kösel-Katalog ist er die heilsame Therapie der durch Buchmarkt-Überfüllung hervorgerufenen Lese-Depression. Und wie immer gilt:
    "Für Angehörige und Betroffene"
    Sind wir das nicht alle?