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Glosse
Fußball, wir folgen dir

Zu viel Fußball im Fernsehen? Großer Raum für wenig Inhalt? Die EM in Frankreich überflutet die deutschen Medien. Oder aber die deutschen Medien produzieren eine EM-Flut. Alles Quatsch, findet Jürgen Roth.

Von Jürgen Roth | 26.06.2016
    Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft
    Fans der deutschen Nationalmannschaft beim Public Viewing (dpa)
    "Wie schön wäre das denn, immer und überall Fußball gucken zu können?" fragte sich am 14. Juni ein süßlich tschilpender Strahleganter in der himmlisch marmordoofen RTL-Sendung Guten Morgen Deutschland. Den Volleyschuß nicht gehört, guter Mann? Den Anpfiff verpennt? Dat jeht doch, Alter! In, deinen Vollpfostenladen ausgenommen, nahezu allen Programmen und beinahe sämtlichen Formaten, Kamerad Schnürschuh!
    Nun mögen die unbelehrbaren und bedauerlicherweise noch immer nicht nach Nordkorea oder Südfrankreich verbannten Kritikaster und notorischen Nörgler herumnölen, unter der Ägide des einmal mehr freudetrunken zelebrierten und friedensstiftenden Fußballs müsse aber auch noch der allerletzte Reizüberflutungsrotz in den Äther gedroschen werden. Nun mögen diese sehr zweifelhaften Leute geifern, mit der Gülle, die seit vierzehn Tagen unablässig durch die Medienkanäle fließt, ließe sich die Sahara urbar machen. Und nun mag Wolfgang Herles, der ehemalige Leiter der Redaktion der ZDF-Kultursendung aspekte, ätzen und zürnen, der Fußball lasse "den Programmauftrag implodieren", sei insbesondere dieser Tage, da er sogar die Pausennachrichten in Beschlag genommen hat, "die absurdeste und aberwitzigste Sendezeitverschwendung" seit der Seßhaftwerdung des ohnehin bescheuerten Homo ludens und habe eine "Diktatur der Dummheit auf Gebühr" installiert – wir sehen das indessen so leger und bergwerktiefenentspannt wie der in der Nullitätenshow EM aktuell auf Sport1 zum "Bundesbuddha" ernannte Nationalcoach Joachim Löw.
    Vom Verband am Gängelband durch die Manege gezerrt
    Gottchen, ja, im übrigen ist ja richtig: Vor vier Jahren, vor der EM in Polen und der Ukraine, hatten sich Tom Bartels und Béla Réthy in einem Zeitungsinterview gegen jegliche "Form der Zensur" ausgesprochen. Es sei "unmöglich", so Réthy damals, daß "die reine Ware [Fußball] präsentiert werden soll und nicht die Realität"; weshalb die beiden kreischenden Kommentatorenkracher in den ersten zwei wunderbaren Wochen nun konsequenterweise nicht ein einziges Wort dazu verloren, wie die Fernsehanstalten auch heuer neuerlich – und aus freien Stücken – vom federführenden Verband am Gängelband durch die Manege gezerrt werden.
    Freilich: Paramilitärischer Pöbel, Randale, rasende Mobs – und ARD und ZDF zeigen weitgehend "das klinisch reine Fußballvergnügen" und "senden ungekennzeichnet Massen an UEFA-Promomaterial", mosert die taz. Doch wir labten uns beispielsweise an Mareile Höppner, die gleichfalls am 14. Juni, auf ihrem speziellen Schrottsendeplatz, im brillanten ARD-Boulevardmagazin Brisant, schnurrte: "Man kann ja zum Beispiel auch mal reden über die neue Frisur von Schweini." Wir ergötzten uns an der Tagesschau vom 15. Juni, in der die Rangiermanöver des deutschen Teambusses vor dem Stade de France in extenso zu verfolgen waren. Wir jubelten innerlich, als auf Tagesschau 24 darüber sinniert ward, ob "die sozialen Netzwerke eine neue Stufe erreicht haben" und wie dufte es sei, daß jetzt mit laufenden Handybildern belegt sei, "daß Podolski auch ein sehr formidabler Basketballspieler geworden wäre".
    Wir frohlockten, als Markus Othmer vom BR am 16. Juni im ARD-Mittagsmagazin bezüglich bevorstehender Eßvorgänge im DFB-Lager zu eruieren versuchte: "Was steht auf dem Speiseplan?" – und anschließend die Rolle des Vor-dem-Hotel-Herumlungerers entschieden glorreich interpretierte, indem er irgendwas über all die Orakels, ja, genau: die Orakels, aus seinem Kopf herauszupfte, mithin über, weiß der Kuckuck, Blindschleichen, Grottenolme oder Maulwürfe, die den Ausgang des nächsten Spiels mit deutscher Beteiligung vorhersagten.
    Lach- und Schnatterblase
    Jedesmal wieder jauchzten wir, sobald Katrin Müller-Hohenstein zugeschaltet wurde, das fleischgewordene fröhliche Gemüt, das aus dem Gute-Laune-Haben nicht und nicht mehr herauskommt, nicht mal angesichts der verheerenden "Rasenkatastrophe" in Lille und der entsetzlichen "Hotelprobleme" in Roubaix, die die deutsche Auswahl plagen.
    Nein, nein, jeder Tag, den uns KMH und die gesamte Lach- und Schnatterblase versüßen und verkleistern, ist, mit Anna Kraft vom ZDF zu pienzen, ein "Sahnetag", zumal wenn Frau KMH mit Mark "Macht das Sinn?" Forster haarsträubend witzelnd über Einlaufkinder schwadroniert, die die Nationalhymne plärren können müssen, oder wenn beim Schmunzelmeister Alexander Bommes Herbert Grönemeyer und Felix Jaehn ihre vom musikexpress in Grund und Boden gestampften "Tropical-Großraumdisse-House-Beats" mit "pathetischem Wir-halten-alle-zusammen-sind-ein-Team-Chorus" intonieren.
    Ja, "es geht auf und nach vorne, / Eine neue Aufgabe, / Es wird gespielt, nicht verlor’n. / Im Ball der Gefühle, / Als Teil der Symphonie, / Alle Gedanken geben auf, / Ein Wurf, Dein Team."
    Wie schrieb Max Horkheimer in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts? "Im Spätkapitalismus verwandeln sich Völker […] in Gefolgschaften." Fußball, wir folgen dir!