Donnerstag, 18. April 2024

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Glosse: Sportjahr 2017
Drauf gepfiffen

Von Radsportlern, die "aus Versehen bis oben hin voll" waren, bis zu "diesem radikal leistungsfetischistischen Reibachzirkus", der auch Profifußball genannt wird: Jürgen Roth geht mit dem Sportjahr 2017 hart ins Gericht.

Von Jürgen Roth | 01.01.2018
    Fußball: Bundesliga, Hertha BSC - Werder Bremen, 3. Spieltag am 10.09.2017 im Olympiastadion in Berlin. Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus pfeift einen Freistoß.
    Abpfiff: Der satirische Rückblick auf das Sportjahr 2017. (picture alliance / Soeren Stache/dpa)
    Gerade wollten wir, geplättet und intellektuell planiert, das Sportjahr 2017 in den gelben Sausack stopfen, da schrieben die Sprachzerstörer von Spiegel Online: "Keine Olympischen Spiele, keine Fußballendrunde - das Sportjahr 2017 kam auch ohne die ganz großen Turniere zurecht", fragten nach unserem "Sportmoment 2017" und schlugen neben irgendwelchen Beachvolleyballgeschehnissen und irgendeinem Ironman-Schwachsinn tatsächlich "die technischen Pannen des Eurosportplayers" vor.
    Statt etwas länger über die beglückende Wirkung einer technischen Dauerpanne in den Hamburger Redaktionsstuben zu sinnieren, wandten wir uns dem Schweizer Fernsehen zu, das das längste Eishockeymatch aller Zeiten, das in Norwegen runtergerissen worden war, ein neunstelliges Preisgeld in der Sparte Faustkampf und das Scheitern der Squadra Azzurra in der Qualifikation zur Fußballweltmeisterschaft erwählte - und uns Depperln dabei das Wort "Barrage-Rückspiel" spendierte.
    Radsport: "Aus Versehen bis oben hin voll"
    Ein kräftiges "Grüezi!" möchten wir - als Chronisten der beim besten und härtesten Willen nicht mehr faßlichen hirnzermahlenden Sportlerei - desgleichen all den Pech- und Pannenvögeln entbieten, die uns heuer abermals so zuverlässig peinigten, als da diesmal, wie kaum zu erwarten, waren und wären: die Radler, von denen der Ex-Profi Michael Rasmussen, der von 1998 bis 2010 ununterbrochen unter Starkstoffstrom gestanden hatte, im Juli zu berichten wusste, das mehr oder weniger gesamte Peloton, das durch Frankreich strampele, sei aus Versehen bis oben hin voll. Und just während Chris Froome zum vierten Mal die Tour gewann, spottete Rasmussen: "Leistungen werden jetzt mit mehr Rückenwind, anderen Rennverläufen, besseren Kopfkissen und weniger Nutella zum Frühstück erklärt." So dass uns stark wunderte, dass eine im Dezember aufgetauchte Dopingprobe Froomes doppelt so viel Salbutamol (eines dieser berühmten Asthmamittel) wie erlaubt enthielt.
    Als da ebenfalls wären: die Leichtathleten in Gestalt der 100-Meter-Sprinter. Nachdem der Aufputschcrack Justin Gatlin Weltmeister geworden war und den von Geburt an cleanen Usain Bolt in dessen letzten Rennen niedergerungen hatte, sprach die Süddeutsche Zeitung auf Grund der Buhrufe der Zuschauer von einer "großen Welle der Scheinheiligkeit" und einer "surrealen Veranstaltung", denn Gatlin sei "genau der Weltmeister, den sich der Sport verdient hat". Was sich Gatlin offenbar zu Herzen genommen hatte: Im Dezember wurden - hach, jedes Jahr was Neues - neuerliche, laut IAAF-Präsident Sebastian Coe, "extrem schwerwiegende" Dopingvorwürfe in Gatlins Richtung ruchbar.
    Immerhin das Schwimmen hielt sich sauber, das mit seinem in Budapest zelebrierten Kongress des Weltverbandes FINA laut Spiegel Online der "Chronik absurder Sportkongresse" eine weitere "bizarre Episode" hinzufügte: "Korruption? Doping? Wo?!"
    Aus Rio wurde uns wiederum die überraschende Meldung herübergereicht, dass die für Olympia mit öffentlichen Geldern hingeklotzten Sportstätten meistenteils in Trümmern liegen und das Organisationskomitee auf dreißig Millionen Euro Schulden hockt, die das IOC selbstredend nicht zu übernehmen gedenkt, alldieweil die lustigen Herren, als sei aber auch gar nüscht gewesen, fröhlich weiter am hauseigenen Filz werkeln. "Alles Lug und Trug", kommentierte die FAZ ermattet. "Es ist realistisch und nicht etwa paranoid, wenn man Leuten, die vorgeblich den Fair-Play-Gedanken leben, nichts mehr glaubt."
    "Praktisch russenfreie Winterspiele"
    Die praktisch russenfreien Winterspiele in Pyeongchang indes werden uns Apostaten auf den Pfad der Orthodoxie zurückführen. Die in der Geschichte größte Sportshow dieser Art, die uns als Beweis dafür dünken möchte, dass der Fortschritt des Menschengeschlechts ein unendlicher ist, nämlich steht unter dem Motto "Passion. Connected". Ja, die unverbrüchliche Leidenschaft zum Geld verbindet, das hat die Schwesterorganisation des IOC, die FIFA, im Berichtszeitraum auch nochmals hinlänglich bewiesen, indem zum Beispiel mehr als vierzig Kumpane aus ihren Reihen auftauchten, die unter Tarnnamen wie "VW", "Benz" und "Toyota" jahrelang Millionen an Freundschaftsgeldern eingefahren hatten.
    Das Sportjahr 2017 also: keines des Durchschnaufens, obschon der strunzdumme Confed-Cup an uns vorbeigerauscht ist und wir während der Frauenfußball-EM geschlafen und andere sinnvolle Dinge gemacht haben. Vergnügt jedoch gewahrten wir, dass der FIFA-Schluri Gianni Infantino kurzerhand den Chefs der Ethikkommission in den Hintern trat, da dieselben neben Hunderten anderen Ermittlungsverfahren eine Untersuchung gegen ihn, den kleinen Johannes, eingeleitet hatten - hinsichtlich diverser Gaunereien bei afrikanischen Fußballvorgängen.
    Daraufhin nahm uns die FAZ die Arbeit ab, drosch gnadenlos auf den "Trump ohne Haare" ein, der im Mai von "Fake-News" seitens der Presse gefaselt hatte, und legte darüber hinaus dar, die "Trumphaftigkeit" im Fußball habe vorher bereits der zutiefst reu- und demütige Journalistenfresser und Topmensch Uli Hoeneß erfunden gehabt; der nun seinerseits ausgerechnet in Liechtenstein ausgerechnet im Rahmen eines Galadinners heldenhaft und natürlich wahrheitswidrig herummaulte: "Ich bin der einzige Deutsche, der Selbstanzeige gemacht hat und trotzdem im Gefängnis war. Ein Freispruch wäre völlig normal gewesen." Hier hülfe, mit Verlaub, nur noch Haue.
    Dem Profifußball "eine ballern"
    Und vermutlich müsste man dem Profifußball an sich eine ballern: diesem radikal leistungsfetischistischen Reibachzirkus, in dem einen Tag nach einem Terroranschlag die Spieler gezwungen werden aufzulaufen und der in toto ein Höllenschlund ist. Human Rights Watch dokumentiert, dass in Katar nach wie vor Arbeiter zu Tode kommen, und dasselbe Emirat wirbt jetzt auf den Trikots des FC Bayern und blättert für den Transfer Neymars von Barcelona nach Paris 222 Millionen hin. "Und der Gott des Geldes wird immer größer", sagt Freiburgs Trainer Christian Streich, "und irgendwann verschlingt er alles", und ausgenommen werden sein die Idole und Vorbilder der Jugend der Welt: Ronaldo, der pro Jahr vierzig Millionen nach Hause trägt, eine festgeschriebene Ablösesumme von einer Milliarde und 14,7 Millionen Euro Steuern hinterzogen haben soll, und Lionel Messi, der eines ähnlichen Vergehens wegen zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt wurde und danach in seiner Heimat, einem argentinischen Elendsviertel, heiratete, flankiert von zwanzig Friseuren und 460 Polizisten.
    Ach, und die kommende Fußball-WM im Riesenreich der Finsternis, für die die FIFA, Geschenk des Himmels!, erst ein Drittel der Sponsorenpakete losschlagen konnte? Die werden wir uns pfeilgerade rein- und dabei geradewegs darauf pfeifen, dass etliche Stadien von nordkoreanischen Sklavenarbeitern errichtet worden sind. Abpfiff. Und zwar pronto, ohne Video- und höchstens mit Hörbeweis.