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Glosse
Theatrum mundi de futebol

Das vergangene Sportjahr? Weder wurde ein Fußball-Weltmeister gekrönt noch um olympische Medaillen gekämpft. Dennoch dürfte 2015 in prägnanter Erinnerung bleiben, was mediale Stilblüten, aber auch Betrug, Korruption und Heuchelei angeht, wie unser Autor rückblickend feststellen musste.

Von Jürgen Roth | 01.01.2016
    Joseph Blatter steckt sich bei einer Pressekonferenz die Zeigefinger in beide Ohren.
    Noch-FIFA-Präsident Joseph Blatter (picture alliance / dpa / Patrick B. Kraemer)
    Im Dezember trudelten via FAZ doch noch zwei missliche Meldungen herein. Erstens: "Deutsche Handball-Frauen streiten sich um eine Pizza." Es ist zum Haare raufen. Und zweitens: Der an Heiligabend von der Schweiz an Uruguay überstellte ehemalige FIFA-Vizepräsident Eugenio Figueredo habe gestanden, "große Summen Geld" eingesackt zu haben; das hätten zehn Präsidenten südamerikanischer Fußballverbände ja nicht anders gehalten. Man könnt' die Blattern kriegen.
    Aber sonst – sehr schön, sehr gelungen, das Sportjahr 2015. Im September schlug, wie ein geistig restlos entfesselter Zeitungsreporter schrieb, "der Meteorit [Robert] Lewandowski ein", schoss in Gestalt eines Steinklumpens fünf Tore innerhalb von neun Minuten und "trampelte" dergestalt, weil er sich währenddessen von unbelebter Materie in einen Trupp Wildrinder verwandelt hatte, der aus einem Tier bestand, als "Ein-Mann-Bisonherde den armen VfL Wolfsburg ganz alleine über den Haufen". Kein Zweifel, der Sportjournalismus ist weiterhin auf einem guten Weg.
    Das zerebral zerzauselte ZDF hinwieder bekrähte und bejohlte in seinem Jahresrückblick ein "großartiges Wintermärchen für Goldjungs und Superfrauen""(es ging da um Skihüpfen und ähnlichen Zeitvernichtungshumbug) sowie, eine Formulierung von einem Nürnberger Reichsparteitag vor exakt achtzig Jahren aufgreifend, die "unerreicht eisenharte menschliche Fortbewegung" eines Triathleten; kam allerdings nicht umhin, verschämt und halb verbrämt einzuräumen, die Leichtathletik sei "womöglich ein Wespennest des Dopings [...], alles offenbar gedeckt vom Weltverband". Weshalb man, genug des Gemäkels, zefix!, getrost unter den Schneidetisch fallenlassen konnte, dass bereits im Januar in Katar eine Handball-WM der Männer mit einem zusammengekauften Heimteam, vor gekauften Fans und vor gekauften Journalisten abgewickelt worden war. Katar, übrigens – ist das nicht ein Akronym? Kauf alles – Tore, Ansehen, Ruhm. Nicht? Na schön.
    Das Sportjahr 2015 jedenfalls – sehr apart, sehr reizend war's. Während sich, wie durchsickerte, Spitzenfußballer in aller Welt systematisch des Steuerbetrugs in Uli-Hoeneß-Dimensionen befleißigen, versuchte hierzulande das Zentralorgan der organisierten Obszönität, die Bild-Zeitung, im Zuge der Flüchtlingswirrnisse den Profifußball für eine widerwärtig-verheuchelte Imagekampagne zu kapern. Immerhin, ein Drittel der Zweitligaklubs, vorneweg der FC St. Pauli, sagte: Njet! Nix da! Schleicht euch, ausg'schamte Schmierer!
    Gut einen Monat später, Mitte Oktober, fuhr daraufhin Alfred Draxler, Chefredakteur der historischen Fachzeitschrift Sport Bild, dem linken Querulantengelichter in der Vollidiotenfernsehrunde Doppelpass anlässlich einer anderen bezaubernden Causa in die Parade: "Was der Spiegel da gerade treibt, geht überhaupt nicht! Ich hab' mit Franz Beckenbauer [...] telefoniert. Er sagt: 'Es ist einfach nicht wahr.' Er sagt: 'Es ist glaubhaft nicht wahr.'"
    Der Spiegel hatte, teils unter Berufung auf den, so die FAZ, "Bombenleger" Theo Zwanziger, in epischer Breite Indizien dafür präsentiert, dass die WM 2006, das nachmalige so genannte Sommermärchen – ohnehin nichts anderes als der Ausfluss ausdauernder Autosuggestion besinnungsloser Medien und Machtinhaber –, im Juli 2000 mit Hilfe von pechschwarzen Geldern des damaligen adidas-Bosses Robert Louis-Dreyfus an Land gezogen worden war. "Warum" auch, fragte das Blatt, "sollten die Deutschen die einzigen Koi-Karpfen in diesem Dreckstümpel", im FIFA-Sumpf, "gewesen sein?"
    "Ich bin nie, zu keinem Zeitpunkt mit Korruption in Kontakt gekommen", hatte Franz Beckenbauer, in den sechziger Jahren der erste Nutznießer des von Adidas installierten weltweiten Bestechungs-, Schranzen-, Schieber- und Schmiergeldsystems, 2012 gegenüber dem TV-Sender Al Jazeera auf englisch kundgetan. Nun schwieg – außer gegenüber Herrn Draxler – der Sportbotschafter von Gazprom, dem die ARD kurz zuvor noch eine herrlich zusammengehudelte hagiographische Dokumentation zu Füßen gelegt hatte.
    Die FIFA sei ein "Schweinesystem", säuselte jetzt Oliver Fritsch auf Zeit Online, "der Schlamm fließt mitten durch Deutschland." "Schafft endlich den Kaiser ab!" flötete Dietrich Schulze-Marmeling in der taz. Doch nicht den Protagonisten, den konspirativen Kitzbüheler Kaiserkasper, raffte die Lawine der Enthüllungen hinweg, sondern den würdelos naiven, tumben Tor in diesem Theatrum mundi de futebol, den DFB-Präsidenten Niersbach, der sich von einer grandios grotesk-wahnsinnigen Version, zu welchem Zwecke das Dreyfus-Darlehen wann von wo nach wo geschlafwandelt sei, zur nächsten fortlog und -märte – kulminierend in einer säkularen Pressekonferenz ("Keine Ahnung", "Das entzieht sich meiner Kenntnis", "Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten") und in einer das trostlose Täuschungsgehampel wahrlich transzendierenden Rücktrittserklärung. Er habe, so Wolfgang Niersbach, "absolut sauber und gewissenhaft gearbeitet". Aber es seien in der verfluchten Vergangenheit "offenbar Dinge passiert, von denen auch ich keine Kenntnisse hatte". Diese Dinge fielen ihm dann Mitte Dezember wundersamer Weise wieder ein: Das Dreyfus-Beckenbauer-Bimbes habe 2002 die Wiederwahl Blatters sichergestellt.
    Zwischenfrage, bevor wir zum Abschluss dieser kleinen Retrospektive kommen: Müssten nicht für das, was die FIFA und der Sport insgesamt treiben, neue Wörter her? Wie wäre es mit Heuchelhauseniade? Bigottgläubigkeit? Alcaponismus? Mit neoneapolitanischem Nepobyzantinismus? Oder doch einfach mit dem schon älteren Wort Schopenhauers von der "Lumpazität"?
    Dessen ungeachtet: Zum Gelingen des Sportjahres 2015, zum prachtvollen Anno horribilis 2015, trug schließlich weiß Gott nicht unwesentlich unser Joseph Blatter bei; der Jahwegleiche; der "Schweizer des Jahres", zu dem ihn die Weltwoche erkieste; der Gottesnahe, auf den im Juli während einer PK sechshundert gesegnete Dollarscheine herabregneten; der Vater Theresia aus dem Weltall oder dem Wallis; der narzisstische Fratz, Sektenführer und Strippenverknüpfer – der nach vierzig Jahren Filz und Fideldumdei kurz vor Heiligabend von der FIFA-Ethikkommission mitsamt Michel Platini ins Off befördert wurde und einen heiligen Terminator-Schwur sprach: "I'll be back."
    Wird er am 26. Februar 2016 zum Sonderkongress der FIFA mit einem Panzer vorfahren? Sich an der Schlangenbrut, die ihn stürzte, zu rächen? Oder wird uns, wie wir auf der Website zdf-werbefernsehen.de lesen, ein friedliches "Super-Sportjahr 2016" bevorstehen? Mit einer noch auf Geheiß Michel Platinis aufgeblähten Fußball-EM? Mit Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro, die, quelle surprise, mit Naturzerstörung, mit der Vertreibung der Verelendeten, mit massiven Menschenrechtsverletzungen einhergeht?
    Wird der Ritter der Enterbten, Karl-Heinz Rummenigge, in den Verhandlungen über die künftigen Fernseherlöse für die Fußballbundesliga den Sieg davontragen und "ein Komma x Milliarden" einheuern? Oder werden wir uns daran erinnern, was der Adidas-Sprössling und eherne Ehrenmann Thomas Bach angesichts der Eskapaden und Explosionen in Blatters Blasenwelt zum Besten gab? "Genug ist genug"?
    We'll see, my friends, because it's a show, that never ends.