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Glücklich in Afrika

Aber wenn ich Massai wäre ...

Von Klaus Englert | 29.09.2004
    Mein Vater hat mir erklärt, daß es in Kenia verschiedene Volksgruppen oder Stämme gibt, ich weiß nicht mehr so genau, sie unterscheiden sich durch ihre Hautfarbe, je dunkler ihre Haut ist, desto niedriger in der Hierarchie steht ihre Volksgruppe. In einem Sommer brachte mein Vater einen Freund mit, der dem schwärzesten Stamm und damit der niedrigsten Gesellschaftsschicht angehört, dem Stamm der Luo. Und dieser Mann erzählte uns neben vielen anderen Dingen, daß die Männer seines Stammes keine Frauen ihres eigenen Stammes heiraten wollten, sondern lieber eine aus einem höheren Stamm. Und er erzählte auch, daß die Massai da ganz anders sind, daß sie stolz sind und keine Familien haben.
    Er erzählte uns, daß wenn einem Massai eine Frau (natürlich eine Massai) gefällt, er seine Lanze in den Eingang ihrer Hütte steckt, und das bedeutet, daß er die Nacht bei ihr verbringen wird. Natürlich kann es passieren, daß am nächsten Tag vielleicht ein anderer Massai seine Lanze vor die Hütte derselben Frau steckt. So kommt es vor, daß die Frau nicht weiß, von wem ihre Kinder sind, und deshalb sind die Kinder der Massai Kinder von allen, sie sind Kinder des ganzen Massaidorfes.

    Der junge Spanier Juan Gómez, ein Allerweltsjunge mit Allerweltsname, Held in Javier Salinas‘ Roman Die Kinder der Massai, stellt sich vor, die pure Phantasie könne die Dinge bewegen. Er versetzt sich in eine gänzlich fremde Kultur, mit vollkommen anderen Bräuchen. Er imaginiert sich als Massai-Junge. Denn er meint, dann wäre er Mitglied der ganzen Gemeinschaft, und nicht Teil einer Familie. Vor allem keiner zerrütteten Familie, denn Familien gibt es ja bei den Massai nicht.

    Ich denke, Juan versucht zu akzeptieren, daß der familiäre Zusammenhalt zerbricht. Plötzlich kommt ihm die neue Familie – die Familie der Massai - in den Sinn, zu der er sich zugehörig fühlt. Und er versteht dabei, daß diese keineswegs geeinte Familie ebenso eine Familie ist. Schließlich begreift er, daß es auch andere Modelle von Familie gibt, denn unsere Vorstellung von Familie ist kulturell geprägt.

    Juans Reise durch die Phantasiewelten geht immer wieder zurück zu dem fast traumatischen Erlebnis, das ihn unentwegt beschäftigt – zur "Nacht der zerbrochenen Vasen". Jener Nacht, in der sich die Eltern heillos zerstritten und besagte Vasen zu Bruch gingen. Seither begann auch für Juan die Katastrophe. Die Sportlehrerin Frau Matutes, begabt mit untrüglichem Sensorium, teilt den Knaben sofort in die "Mannschaft mit den Kindern aus zerbrochenen Familien" ein. Zu dieser Mannschaft zu gehören, ist für viele wie ein unsichtbares Kainsmal – für Juan Goméz, Julián Valenciaga, Carlota Paz und all die anderen Kinder, die sich daran gewöhnt haben, daß sie alle Spiele verlieren. Und daß sie auf der Verliererseite des Lebens stehen.

    Juan sieht sich mit einem Verlust der Selbstliebe konfrontiert. Er befindet sich wirklich in einer Krise. Er denkt, daß er sich selbst vergessen hat und als Person nichts mehr gilt. Und er muß miterleben, daß er den Kindern aus den zerstörten Familien zugeordnet wird. Nun ist auch er Teil von ihnen.

    Javier Salinas lässt Juans Aufzeichnungen auf dem Höhepunkt seiner Krise beginnen. Bis dahin schien sein Leben völlig geregelt zu verlaufen. Die Mutter, eine vielbeschäftigte Fernsehredakteurin, sorgte für ein harmonisches Zuhause. Der Vater, zumeist als Straßenbauer in Afrika unterwegs, spielte mit seinen exotischen Geschichten den Familienunterhalter. Und Juans Schwester Laura – sie wird in allem, was sie denkt und tut, von ihrem kleineren Bruder als genial angehimmelt. Nicht zu vergessen Onkel Carlos, der die Geschwister regelmäßig zu Spritztouren in seinen neuesten Autos einlädt. So weit so harmonisch. Aber, wie gesagt, es kommt die "Nacht der zerbrochenen Vasen". Und es kommt die Zeit, als Juan eine eigentümliche Distanz zu sich entwickelt und sich nur noch "Gómez" nennt.

    Javier Salinas vermittelt geschickt den Schockzustand, indem er die fragile Selbstgewißheit immer wieder durch die Sprache hindurch scheinen lässt. Juans Aufzeichnungen sind mal witzige mal ernste Selbstbefragungen, mal eine Reflexion über das, was die Welt und die Familie zusammenhält. Oder eben auseinanderbrechen läßt. Und zwar in einer Sprache, die Neugier und Phantasie eines Heranwachsenden verdeutlicht. Der sensible Erzählstil von Salinas, der auf die sprachlichen Eigenheiten des Heranwachsenden achtet, macht besonders eines klar: Je mehr sich Juan der Welt zuwendet, desto klarer wird sein Blick auf sich selbst:

    Wenn Du nicht weißt, wer Du bist, dann mußt Du Deinem Namen einen Inhalt geben. Natürlich bedeutet ein Name nichts. Aber Du mußt Dir Deine Persönlichkeit schaffen und Deinem Namen einen Sinn geben.

    In dem Roman Die Kinder der Massai geht es nicht allein darum, wie Juan seine Persönlichkeit gewinnt. Schon der Titel deutet an, daß es hier um die Genese eines Gruppenbewußtseins geht. Und zwar um Kinder, die sich zuvor immer nur als die von den "zerbrochenen Familien" empfunden hatten. Am Ende des Buches spürt der Leser, wie Juan, der sich immer als völlig normal gesehen hatte, plötzlich zur gereiften Persönlichkeit geworden ist:

    Er schafft anderes, er schafft die Kinder der Massai. Es ist seine Art, die Gruppe, die zuvor keinen Namen hatte, zu taufen. Ihm gelingt dies mit Hilfe der Fiktion, der Einbildungskraft.

    Juan findet den Ausweg aus der gemeinsamen Krise durch seine sprudelnden Erfindungsgabe. Er weiß sich und seinen Freunden aus den "zerbrochenen Familien" den Glauben an sich zurückzugeben. Zwar bleibt die sichtbare Welt so wie sie war. Aber die "Kinder der Massai" lassen sich nicht länger von den zerrütteten Familienverhältnissen zermürben. Sie sind sogar davon überzeugt, endlich wieder gewinnen zu können. Juan und seine Freunde sind andere geworden. Javier Salinas behauptet, daß es ihm beim Schreiben des Romans ähnlich erging:

    Ich schreibe, um zu erfahren. Ich schreiben nicht über das, was ich schon weiß, sondern über das, was ich noch nicht weiß. Als Schriftsteller und Leser ist die Literatur für mich ein Mittel, um die Welt kennenzulernen.

    Javier Salinas
    Die Kinder Der Massai
    Amman Verlag, EUR 15,90