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Glycin - Lebensmolekül und Nadel im Heuhaufen für Radioastronomen

Glycin ist die einfachste Aminosäure, die wir kennen - gerade mal zehn Atome groß. Sie steckt in vielen Proteinen, unser Körper braucht es unbedingt. Um so mehr überrascht, dass sich auch Astronomen brennend für das Biomolekül interessieren. Glycin ist der meistgesuchte Baustein des Lebens im Weltall, erweist sich aber bisher als unauffindbare Nadel im kosmischen Heuhaufen.

Von Volker Mrasek | 08.06.2011
    "Achtung, Steuerpult!" "Ja, ich höre." "Kraus hier, ich gehe kurz auf die Elevationsbühne."

    Das Radioteleskop in Effelsberg südwestlich von Bonn. Ein Monstrum mit einer 100-Meter-Empfangsschüssel.

    "So, man hört also schon den Elevationsantrieb surren."

    Der Astronom Alex Kraus leitet das Observatorium in der Eifel.

    "Also, die gesamte Schüssel ist ja die Antenne. Und die wird bewegt, und zwar eben kontinuierlich in zwei Achsen."

    Mit Radioteleskopen wie in Effelsberg gelingt es, Moleküle auch in den Tiefen des Weltalls aufzuspüren. Zum Beispiel in der Region Sagittarius B2, im Sternbild Schütze, nahe dem Zentrum unserer Galaxie. Dort liegt die "Heimat der großen Moleküle", wie Astronomen sie nennen. In den dichten, heißen Gaswolken einer Sternen-Geburtsstätte.

    "Wenn Sie jetzt so eine Molekülwolke haben, und die Moleküle sich in einem angeregten Zustand befinden, dann springen die sozusagen irgendwann zurück in ihren Grundzustand und senden dabei Radiowellen aus. Und wir haben hier eine Riesensatellitenschüssel und können diese unglaublich schwachen Radiowellen auffangen."

    Rund 160 Moleküle haben die Astronomen bisher im interstellaren Raum ausmachen können. Darunter auch komplexere wie Ameisensäure oder Ethylalkohol. Glycin aber blieb bis heute unauffindbar. Als simpelste Aminosäure könnte das Molekül ein wichtiger Mosaikstein der Lebensentstehung sein. Holger Müller, Astrochemiker an der Universität Köln:

    "Manche Leute denken sich eben halt, dass die organischen Moleküle auch dazu beigetragen haben können, dass das Leben auf der Erde entstanden ist, und man erhofft sich eben halt auch Hinweise darauf zu bekommen, wo im All vielleicht auch noch Leben entstehen könnte. Das ist das, was eben halt diese Aminosäure Glycin und die Suche danach besonders interessant gemacht hat."

    Im dichten Gas der Sagittarius-Wolke schweben so viele verschiedene Moleküle, dass es äußerst knifflig ist, ihre Signale zu unterscheiden. Wäre das von Glycin vielleicht deutlicher zu erkennen, wenn man zu anderen Wellenlängen wechselte, die noch nicht untersucht wurden? Oder kommt die Aminosäure am Ende gar nicht als Gas im All vor? Dann könnten Radioteleskope sie laut Müller auch nicht sehen:

    "Glycin hat einen relativ hohen Dampfdruck. Das heißt eben, es ist nicht so gerne in der Gasphase. Was sehr viel wahrscheinlicher ist: Es wird halt auf Staubkörnern gebildet und dampft von diesen nicht so leicht ab."

    Immerhin wurde inzwischen ein Molekül im All entdeckt, aus dem Glycin in Anwesenheit von Wasser entstehen kann: das chemisch verwandte Aminoacetonitril. Und vielleicht taucht Glycin ja noch selbst aus dem kosmischen Dunst auf. Die Liste der Moleküle im Weltraum bekäme einen zusätzlichen Eintrag, doch die große Frage wäre sicher auch dann noch unbeantwortet: Wie ist eigentlich Leben im All entstanden?

    "Ich weiß nicht, ob man das jemals so genau herausbekommen wird."

    "Herr Kraus, hören Sie mich?" - "Entschuldigung! Ich höre!"


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    Deutschlandfunk-Reihe zum UN-Jahr der Chemie 2011