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"Go down Moses"
Verstören, irritieren, Schamgefühle provozieren

Der kleine Mann und das Meer - "Go down Moses" von Romeo Castellucci sorgte beim Pariser Festival d'Automne mit hyperrealistischen Bildern für Furore. Das Porträt eines Mannes, wird hier nicht geboten. Es geht nicht um dem Propheten und Religionsstifter Moses, sondern um die Geschichte der Aussetzung eines Kindes.

Von Eberhard Spreng | 05.11.2014
    Romeo Castellucci
    Der italienische Regisseur Romeo Castellucci (dpa / picture alliance / Caroline Seidel)
    In einer Restauranttoilette krümmt sich eine junge Frau am Boden. Sie leidet unter extremen Blutungen. Sie rupft verzweifelt an der Toilettenpapierrolle und versucht vergeblich, mit blutverschmierten Händen, mit dem Handy Hilfe zu rufen. Der Hyperrealismus dieses Bildes tut weh; der Zuschauer möchte, dass es bald endet. Das zweite Bild, das wie das erste nur einen Ausschnitt der breiten Panorama-Bühne füllt, zeigt einen verdreckten Müllcontainer, aus dem die Schreie eines Neugeborenen zu hören sind.
    Neugeborenes im Müllcontainer
    Romeo Castellucci will mit seinen Bildern verstören, irritieren, Schamgefühle provozieren. Sie wenden sich gegen die stillschweigende Übereinkunft im Theater, dass da nur eine Geschichte erzählt wird. Sie wollen das Schauen selbst neu zu Bewusstsein bringen indem sie den Blick auf Theater stören. Bald merkt der Zuschauer, dass das Porträt eines Mannes, der Castellucci schon seit vielen Jahren in verschiedenen Werken beschäftigt hat, hier nicht geboten wird: Es geht nicht um dem Propheten, Religionsstifter und Bilderkulturerneuerer Moses, sondern, in schillernd assoziativen Brechungen, um die Geschichte der Aussetzung eines Kindes. Nach ihm forschen im Folgebild ein Kommissar und seine Equipe beim Verhör mit einer aufgegriffenen jungen Frau im weiterhin zeitgenössischen Dekor.
    Keine Geschichte, die Worte nacherzählen könnten
    Zögernd und unendlich leise behauptet die verstörte Person, ein Epochenwechsel stehe bevor; sie spricht von Moses und seiner Rolle beim Wechsel der herrschenden Verhältnisse. Natürlich darf man die Polizei als zeitgenössische Variante des pharaonischen Machtapparates im alten Ägypten verstehen, aber sehr bald wird deutlich, dass simple narrative Deutungen fehlgehen. Castellucci will schließlich keine Geschichte vorführen, die Worte nacherzählen könnten.
    Plötzlich wird bei der Frau eine Hirnblutung diagnostiziert. Zu den verstärkten pulsierenden Geräuschen solcher Diagnose-Apparate wird sie in die Röhre eines MRT geschoben. Uterus und Hirnblutung: Dieser doch sehr spekulative Bilderkurzschluss bringt die Aufführung in einen völlig neuen Clash der Zivilisationen. Mit dem modernen Abbildverfahren lässt sich bekanntermaßen das Gehirn scheibchenweise betrachten. Aber nicht diese für die neue Medizin und unser derzeitiges Erkenntnisstreben so typischen Bilder, nicht also der physikalische Inhalt des Gehirns dieser Frau ist hier zu sehen, sondern eine Szene erster, frühzeitlicher Bildwerdung.
    Sphärenklänge und Liebesakt
    Da dämmert zu brausenden Sphärenklängen aus dem Dunkel eine Höhle mit lethargischen Steinzeitmenschen herauf, ein Liebesakt wird angedeutet, anschließend geht die Frau des Pärchens ganz nah an die Gaze, die hier die vierte Bühnenwand darstellt, und schlägt mit ohrenbetäubendem Grollen Farbabdrücke ihrer Hand auf die transparente Folie, bevor sie in großen Buchstaben S O S darauf malt. Die ersten Bilder des Homo Sapiens auf den Wänden der prähistorischen Höhlen waren keine Dekorationen und dienten nicht der häuslichen Behaglichkeit, sondern waren Mitspieler kultischer Rituale mit tiefem spirituellem und vermutlich auch religiösem Gehalt.
    Das passt zu Moses und der Befragung religiöser Abbilder. Dass sie hier aber auf den simplen Rettungsruf, das SOS, zusammenschnurren, ist eine eher enttäuschende Pointe in diesem gewaltig grollenden, bildermächtigen, ja bilderberauschten Theater. Wieder ist es Castellucci kunstvoll gelungen, die Tiefe der Bühne zu tilgen und das Geschehen hinter der Gaze mit ihrer Leinwandstruktur wie eine Malerei, wie ein flächiges Bild aussehen zu lassen, wie eine Ahnung, eine Vision.
    Verblüffung und große Verstörung
    Auch inhaltlich wagt außer Castellucci in Europa keiner so irre Mischungen von Pathos, überspannter Assoziation, Kitsch und Menschheitsdämmerung. Aber auch der italienische Theatermacher stößt irgendwann an eine quasi ontologische Grenze: Bilder können nicht denken und Bilder können nicht argumentieren. Dabei liegt der Verdacht nahe, der Regisseur wolle nicht nur frei assoziieren und mit Bildern einen naiven, sprachfernen Zauberraum beschwören, sondern eben doch auch ein kurioses Denkmodell etablieren: Nennen wir's einen archaischen Animismus, der den Menschen zwischen Physik und Metaphysik begreift, seine Gesellschaftlichkeit aber radikal verneint. Deshalb bleibt am Ende dieses "Go down, Moses" neben Verblüffung auch eine große Verstörung.