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Goethe und sein Verhältnis zum Christentum

"Nun sag, wie hast Du's mit der Religion?" Die berühmte Gretchenfrage an Dr. Faust wirft die Frage auf, wie es Johann Wolfgang von Goethe selbst mit Religion und Glauben gehalten und welche Beziehung er zu den Heiligen hatte. Im Goethe-Museum in Düsseldorf stößt man zum Beispiel auf eine sehr kritische Äußerung Goethes.

Von Alfried Schmitz | 24.08.2012
    "Dem Mittelpunkte des Katholizismus mich nähernd ... indem ich mit reinstem Sinn die wahrhafte Natur und die edle Kunst zu beobachten und aufzufassen trachte, trat mir so leibhaft vor die Seele, dass vom ursprünglichen Christentum alle Spur verloschen ist; ja, wenn ich mir es in seiner Reinheit vergegenwärtige, so wie wir es in der Apostelgeschichte sehen, so musste mir schaudern, was nun auf jenen gemütlichen Anfängen ein unförmliches, ja barockes Heidentum lastet."

    So lautet ein Eintrag aus Goethes Tagebüchern, in denen er seine legendäre "Italienische Reise" dokumentiert hat. Wie man dem Eintrag entnehmen kann, hat der Protestant Goethe mit dem barocken katholischen Kirchenapparat jener Zeit nicht viel im Sinn. Trotzdem hatte er sich 1786 ausgerechnet auf eine Reise ins erzkatholische Italien begeben. Der Grund für den ausgedehnten Urlaub des Dichterfürsten lag in seiner damaligen seelischen Verfassung. Er brauchte eine Auszeit von seinem politischen Amt in Weimar, eine Auszeit von der Arbeit als Schriftsteller und eine Auszeit von der Liebe. Seine Beziehung zu Charlotte von Stein war nicht so unproblematisch verlaufen, wie er sich das erhofft hatte. Entspannung und Abwechslung sollte ihm die Reise in den sonnigen Süden verschaffen. Er wollte der dunklen Jahreszeit und seinen Problemen daheim entfliehen. Verona, Venedig, Bologna, Neapel und Sizilien wurden wichtige Stationen seiner "Italienischen Reise", die ihn auch nach Rom führte. Ob der Dichterfürst in der Heiligen Stadt auf religiöser Spurensuche war, beantwortet Dr. Heike Spies vom Goethe-Museum in Düsseldorf so:

    "Auf dieser Suche war er nicht. Sondern es war die Begegnung mit der Gebäudestruktur, mit der Kunst, mit den Menschen und mit der Natur. Und so sieht er sich in diesem Winter 1786 alle Kirchen an und er ist auch in der Sixtinischen Kapelle unterwegs. Und so ist es hier eine tiefe Aufnahme alles dessen, was er seit frühester Jugend auch bekannt gemacht durch seinen Vater, dort erwartet. Er ist endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt. Dieses Motto zu sagen: 'Rom ist meine Universität!' Das ist nicht nur ein Bildungsanspruch, sondern das ist eine Form der eigenen Menschenbildung, des Selbst-Kennenlernens. In diesem Zusammenhang begegnet er ganz natürlich den Menschen, die eben dort auch beten, die die Heiligen dort besuchen. Er schließt sich beobachtend an. Es ist das Betrachten, das Wahrnehmen und die Erfahrung, nicht die Teilnahme. Goethe ist eher ein Beobachter von etwas Fremdem, um daraus auch für sich einen Effekt abzuleiten."

    Fast ist man gewillt zu sagen, dass Italientourist Goethe in journalistischer Mission unterwegs war. Der Schriftsteller wollte Menschen, Kultur und Religion Italiens kennenlernen, um Erkenntnisse daraus in spätere Werke einfließen zu lassen. Ganz fremd war ihm der Umgang mit der Religion indes nicht. Goethe wuchs im religiös toleranten Frankfurt am Main auf. Protestanten, Katholiken, und Juden lebten dort Seite an Seite. Er selbst wurde protestantisch erzogen. Die heimische Bibliothek des gutbürgerlichen Juristenhaushalts verfügte über eine bemerkenswerte Sammlung theologischer Literatur, die dem jungen Goethe vom Vater nahegebracht wurde. Vor allem die Bibel, mit der sich der junge Mann überaus rational und kritisch auseinandersetzte, war bis zu seiner Konfirmation ein ständiger Begleiter:

    "Man hatte nämlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, dass dieses Buch der Bücher in einem Geiste verfasst, ja dass es von dem göttlichen Geiste eingehaucht und gleichsam diktiert sei. Doch waren schon längst von Gläubigen und Ungläubigen die Ungleichheiten der verschiedenen Teile desselben bald gerügt, bald verteidigt worden. Engländer, Franzosen, Deutsche hatten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfsinn, Frechheit, Mutwillen angegriffen. Und ebenso war sie wieder von ernsthaften, wohldenkenden Menschen einer jeden Nation in Schutz genommen worden.
    Ich für meine Person hatte sie lieb und wert: Denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig. Und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt und war auf eine oder die andere Weise wirksam gewesen.


    Sei es in "Die Leiden des jungen Werther", sei es in "Götz von Berlichingen" oder sei es die berühmte Gretchenfrage in "Faust" – religiöse Bezüge gibt es durchaus an vielen Stellen in Goethes Werk. Aber den Dichterfürsten deshalb zum Sprachrohr christlicher Botschaften machen zu wollen, ginge zu weit. Goethe war nicht nur Schriftsteller, sondern ein von der Aufklärung geprägter Forschergeist, der Naturphänomene rational und wissenschaftlich erklärte. Professor Volkmar Hansen, Direktor des Goethe-Museums in Düsseldorf, glaubt, dass sich Goethe vom Pietismus über den Pantheismus eine ganz besondere individuelle Glaubensform entwickelt hat. Geprägt durch persönliche Lebenserfahrung, durch Beobachtung, Gespräche, Diskussionen und die Naturwissenschaft.

    "Ich würde es kosmotheistisches Weltbild, das Goethe entwickelt hat, nennen ... , dass Goethe natürlich erst einmal aus dieser normalen gläubigen Welt kommt, dass er in verschiedenen Stadien, die sich tatsächlich innerhalb der Jugendzeit abspielen, schon im Sturm und Drang, sogar zu der Aussage gekommen ist, er sei ein Heide und ein dezidierter Nichtchrist."

    Diese nicht ganz ernst zu nehmende Äußerung des jungen und noch ungestümen Schriftstellers wird in den Folgejahren durch eine gemäßigtere Haltung dem Glauben und der Religion gegenüber abgelöst. Goethe stellt sich auf die Seite des Naturphilosophen Schelling, dessen Auffassung er in sein sehr offenes und fortschrittliches Weltbild integriert. Er kann die Naturwissenschaften durchaus mit einem Glaubensbekenntnis verbinden. Auch wird bei Goethe ein kulturübergreifendes Denken deutlich. In seiner 1819 erschienen Gedichtsammlung "West-östlicher Diwan" zeigt der Dichterfürst großes Interesse am Orient und am Islam.

    "Jesus fühlte rein und dachte
    Nur den Einen Gott im Stillen;
    Wer ihn selbst zum Gotte machte
    kränkte seinen heil'gen Willen.
    Und so muss das Rechte scheinen
    Was auch Mahomet gelungen;
    Nur durch den Begriff des Einen
    Hat er alle Welt bezwungen."


    Durch seine weltoffenen Werke hat Goethe einen großen säkularisierenden Einfluss auf die Menschen seiner Zeit ausgeübt. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der katholischen Kirche als Glaubensinstanz stand bei ihm der Grundgedanke der religiösen Toleranz Vordergrund. Dazu noch einmal der Direktor des Goethe-Museums in Düsseldorf, Professor Hansen.

    "Und das tut er wirklich aus einem Gedanken der christlichen Friedfertigkeit. Das heißt, eine Gesellschaft muss vorwärts bewegt werden, also kann sie nicht stehen bleiben bei den Kontroversen der Gegenwart. Und das bezieht sich sowohl auf das Katholische, aber in einem Weltmaßstab auch auf den Islam, das heißt, er baut Brücken hinüber bei aller Anerkenntnis von Differenzen."