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Götter und Sagen in Kinder- und Jugendbüchern
Alte Helden in neuem Gewand

In den vergangenen Jahren sind immer häufiger Bücher für Kinder- und Jugendliche erschienen, in denen antike oder germanische Götter auftreten. Allen voran Rick Riordan mit seinen "Percy Jackson"-Romanen. Sein Erfolg öffnete auch deutschen Autoren die Tür in so manchem Verlag für ihre Geschichten.

Von Karin Hahn | 30.12.2017
    "Percy Jackson"-Darsteller Logan Lerman hält triumphierend den Dreizack seines Vaters in der Hand, des griechischen Gotts Poseidon. Szene aus dem Film "Percy Jackson – Diebe im Olymp", der auf den Romanen von Rick Riordan beruht.
    "Percy Jackson"-Darsteller Logan Lerman in einer Szene aus dem Film "Percy Jackson – Diebe im Olymp", der auf den Romanen von Rick Riordan beruht. (imago / Foxx Film Corporation)
    Ob Odin, Apollo, Brunhild oder Krakanos, mythische Figuren und Sagengestalten werden immer öfter zu Protagonisten in der Kinder- und Jugendliteratur, zum einen in Nacherzählungen, zum anderen tauchen gefallene, getarnte, verwandelte oder gefährdete Götter und Dämonen in Romanhandlungen auf. Das ernsthafte, wie komische "Recycling" der Mythen- und Sagenwelt übt eine ganz besondere Anziehungskraft auf Autoren aus.
    "Ich finde die Geschichten, die erzählt werden, sind relativ modern. Bedrohung, Weltuntergang - das sind Szenarien, mit denen wir uns heute leider auch beschäftigen und den Kampf der Helden dagegen, das sind ja Sachen, die auch heute noch sehr spannend sind, die man auch heute in allen möglichen Variationen auch gerne liest, das hat mich schon fasziniert", sagt Frauke Scheunemann und Wieland Freund ergänzt:
    "Mich interessiert an Sagen, wie weit sie zurückreichen. In vielen Fällen transportieren sie ein anderes Verhältnis zum Ort und zur Natur. Es ist oft ein Verhältnis zur Natur, das verloren scheint. Sagengestalten funktionieren so ein bisschen wie Engel, sie sind Mittler zwischen Erde und Himmel und mich interessiert, was sie uns noch über die Erde und den Himmel zu sagen haben."
    Bereits vor über 250 Jahren erkannte Gustav Schwab den poetischen Wert der Sagenwelt des Altertums. Seinem Vorbild folgten zahlreiche Nacherzählungen, unter anderem von Franz Fühmann, Manfred Mai oder Dimiter Inkiow. Sind die antiken Heldengeschichten sogar Lehrstoff in Schulen, so ist die nordische Mythologie der jungen Generation weniger bekannt. Die Ursache dafür ist im ideologischen Missbrauch durch die Nationalsozialisten und heutigen extremen Rechten zu suchen.
    Existieren ältere Nacherzählungen der nordischen Sagenwelt aber auch des Nibelungenliedes ebenfalls von Franz Fühmann oder Sybil Gräfin Schönfeldt, so werden die Mythengeschichten aktuell aus englischen Verlagen importiert. Roger Lancelyn Green nimmt die Leser in seinen Nacherzählungen der "Sagen und Mythen der nordischen Götter", veröffentlicht vor 77 Jahren, in die Neun Welten mit, die durch den Weltenbaum Yggdrasil und die Regenbogenbrücke verbunden sind.
    Buchausschnitt - "Sagen und Mythen"
    Mitten im Herzen dieser seltsamen und verworrenen Welt saß Odin, der Allvater, wie eine gütige Spinne inmitten des Netzes. Von seinem Thron Lidskialf aus, der hoch über Asgard bis in den Himmel reichte, überblickte er die Welt. Auf seinen Schultern hatten sich die beiden zahmen Raben Hugin und Munin niedergelassen. Ihnen verdankte er einen Großteil seines Wissens, denn Tag für Tag flogen sie hinaus in die Welt und kehrten des Abends zurück, um ihm zu berichten, was sie gesehen hatten: Hugin, so schnell wie ein Gedanke, Munin, mit unvergleichlichem Erinnerungsvermögen.
    In einem vergleichbar klaren Erzählton lesen sich auch die Aufzeichnungen "Nordische Mythen und Sagen" von Neil Gaiman. In seinen Nacherzählungen spricht der ebenfalls britische Autor, der jetzt in den USA lebt, den Leser direkt an und beginnt mit den Porträts der Götter.
    Buchausschnitt - "Nordische Mythen und Sagen"
    Odin trägt viele Namen. Er ist der Allvater, der Herr der Gefallenen, der Galgengott. Er ist der Gott der Fracht und der Gefangenen. Er wird Grimnir genannt und der Dritte. Er hat unterschiedliche Namen in allen Ländern (denn er wird in vielen Sprachen und in unterschiedlicher Gestalt verehrt, doch immer ist es Odin, dem die Gebete gelten). Er reist unerkannt von Ort zu Ort, um die Welt so zu sehen, wie die Menschen sie sehen. Wenn er unter uns umhergeht, dann als ein großer Mann mit Mantel und Schlapphut.
    Rücksichtslose Riesen, listige Zwerge und erhabene Götter kommen zu Wort und immer sind die Menschen mit ihnen schicksalhaft verbunden. Wurden die Mythen einst nur mündlich weitergegeben, so können sich die beiden Autoren bei ihren Nacherzählungen nur auf zwei schriftliche Quellen berufen, die Lieder-Edda und die Prosa-Edda, zwei alt-isländische Texte aus dem 13. Jahrhundert. Neil Gaiman bleibt nah an diesen ursprünglichen Geschichten und findet für seine erzählenden Passagen und Dialoge eine Sprache, die sich beim Leser nie durch Modernisierungen anbiedert. Bereits als Siebenjähriger war Neil Gaiman von der Zeit als die Welt noch jung war beeindruckt. Im Vorwort zu seinem Band beschreibt er, wie ihn der Superheld Thor im Comic des amerikanischen Künstlers Jack Kirby dazu inspiriert hat, sich immer weiter mit der nordischen Mythologie zu beschäftigen. Und so ließ sich Neil Gaiman auch von der Glaubenswelt der Nordmänner zu seinem Kinderbuch "Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard" anregen, die wie ein Märchen beginnt.
    Buchausschnitt - "Der lächelnde Odd"
    Es war einmal ein Junge, der wurde Odd gerufen, was heutzutage merkwürdig oder ungewöhnlich bedeutet. Aber damals, zu jener Zeit, an jenem Ort bezeichnete Odd die Spitze der Klinge, und es war ein Name, der Glück bringen sollte.
    Aber Odd, der Wikingersohn, hat kein Glück. Sein Vater stirbt früh, der Junge verletzt sich mit der Axt schwer am Bein und der Winter nimmt kein Ende. Als der einsame Odd einem Fuchs, einem Bären und einem Adler begegnet, ahnt er nicht, dass diese drei die Götter Loki, Thor und Odin sind. Loki hat schwere Schuld auf sich geladen. Einst hatte er den Eisriesen um seinen Lohn betrogen. Dieser rächt sich nun ebenfalls durch eine List. Er luchst dem angeblich so cleveren Loki den Hammer des Thor ab, verwandelt die Götter in Tiere und verbannt sie nach Midgard, in die Welt der Menschen. Odd wird nach Asgard gehen, ein schwieriges Unterfangen, denn in das Reich der Asen gelangt kein Normalsterblicher. Doch solange der Junge lacht, ist er der Sieger und somit auch der Herr über sein Schicksal und das der Götter.
    Buchausschnitt - "Der lächelnde Odd"
    "Also dann", sagte er. "Wünscht mir Glück. Der Segen der Götter sollte einiges wert sein, oder?"
    "Was ist, wenn du nicht zurückkehrst?", sagte der Fuchs.
    "Sie könnten dich auffressen", sagte der Bär.
    Odd blinzelte. "Oh ... Fressen Eisriesen Menschen?"
    Eine Pause entstand. Der Fuchs sagte: "Gelegentlich", im selben Moment, in dem der Bär sagte: "So gut wie nie."
    Neil Gaiman erzählt mit viel Witz eine Heldengeschichte, in der ein Kind zum Erlöser der übermächtigen Götter wird. Entwickelt der Autor seine Geschichte über den frohen Odd mit den Erzählmotiven aus der Edda, so nimmt sich Rick Riordan seit mehr als zehn Jahre, seit seinen "Percy Jackson"- Romanen, alle erzählerischen Freiheiten. Die mythischen Wesen sind nicht mehr ortsgebunden, behalten aber ihre ursprünglichen Charaktere und agieren in fiktiven Handlungen im heute und jetzt. Geradezu genial war Rick Riordans Idee für die Fantasyliteratur, dass Halbgötter Jugendliche sind, die ihre Göttervater oder Mütter kaum kennen, von ihnen allerdings magische Fähigkeiten geerbt haben. Ein Wiedersehen mit Percy Jackson, dem Sohn des Poseidon, erlebt der Leser nun in Rick Riordans Mehrteiler "Apollo – Das verborgene Orakel".
    Apollo wurde kurzerhand von Zeus entthront und landet nun als sterblicher 16-jähriger Jugendlicher in Manhattan in einem Müllcontainer. Mit Akne und Fettleibigkeit geplagt benimmt sich der Gott, der jetzt Lester Papadopoulos heißt, wie ein arroganter, selbstverliebter Erwachsener. Als eine Horde Jungen ihn überfällt, vertreibt Meg die Angreifer mit faulem Obst.
    Buchausschnitt - "Apollo"
    "Nein, warte!" Verzweiflung stahl sich in meine Stimme. "Bitte, ich… ich brauche vielleicht ein bisschen Hilfe." Ich kam mir natürlich lächerlich vor. Ich – der Gott von Weissagung, Pest, Bogenschießen, Heilkunst, Musik und vielen anderen Dingen, die mir gerade nicht einfielen – bat eine knallbunt gekleidete Straßengöre um Hilfe. Aber ich hatte sonst niemanden.
    Meg, eine Halbgöttin und Tochter der Demeter, folgt Apollo, der mithilfe von Percy Jackson ins Half Blood Camp auf Long Island reist. Im Camp trifft der nach wie vor überhebliche Gott drei seiner Kinder, zwei jedoch verschwinden plötzlich. Alles hängt mit dem Orakel von Delphi zusammen, das durch Apollos Schuld in die Hände seines Widersachers Python gelangt ist. Um die Götterwelt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, muss Apollo gemeinsam mit Meg gegen römische Imperatoren kämpfen, deren Seelen aus Erebos entwichen sind. Der größte Feind jedoch ist Nero, die Bestie im teuren italienischen Anzug.
    Buchausschnitt - "Apollo"
    "Wenn wir erst die Orakel in unserer Hand haben, werden wir expandieren und das tun, was die Römer immer schon am besten konnten – die Welt erobern."
    Ich konnte ihn nur anstarren. "Du hast aus deiner ersten Regierungszeit wirklich nichts gelernt."
    "Aber sicher doch! Ich hatte Jahrhunderte, um nachzudenken, zu planen und Vorbereitungen zu treffen. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie ärgerlich es ist, ein Gottkaiser zu sein, der nicht sterben, aber auch nicht richtig leben kann? Im Mittelalter hat es eine Zeit von ungefähr dreihundert Jahren gegeben, in der mein Name fast vergessen war! Ich war kaum mehr als eine Luftspiegelung. Dem Himmel sei Dank für die Renaissance, als die Erinnerung an unsere klassische Größe geweckt wurde. Und dann kam das Internet. Oh, Götter, ich liebe das Internet! Jetzt kann ich nie mehr vollständig verblassen. Auf Wikipedia bin ich unsterblich!"
    Ich zuckte zusammen. Ich war jetzt vollkommen davon überzeugt, dass Nero verrückt war. Auf Wikipedia stand immer falsches Zeug über mich.
    Kaiser Nero ist allerdings der Stiefvater von Meg, die sich nun loyal auf seine Seite schlägt. Ohne Meg und ihre Fähigkeiten bleibt Apollo nichts anderes übrig, als eine eigene Strategie gegen den sinistren Kaiser und seine wahnsinnigen Pläne zu entwickeln. Mag Rick Riordan mit seinen Percy-Jackson-Büchern einen Nerv getroffen haben, so wirken seine dickleibigen Bücher seit einiger Zeit wie vom Fließband produziert. Den dahinrasenden Geschichten fehlt ein origineller Plot, sie ufern oft in vollgestopften Nebenhandlungen aus und es scheint so, als suche der Autor verkrampft nach Originalität. Durch die Ich-Perspektive wirken die ständigen Selbstreflexionen des eingebildeten Gottes Apollo ermüdend. Trotz Einbeziehung aller möglichen Götter und mythischen Fabelwesen zieht sich die eindimensionale Handlung mühselig über die gut 400 Seiten ohne wahren Cliffhanger am Ende dahin. Unterbrochen wird sie durch diverse Actionszenen mit Riesenameisen, sinnfreien Debatten über Poesie oder idiotische Kundenbefragungen des Geysirgottes, der eine Werbekampagne starten will.
    Als ehemaliger Lehrer liebt Rick Riordan nicht nur die Antike, er hat bereits rund um die ägyptischen Gottheiten Jugendbücher verfasst und widmet sich nun in der "Magnus Chase"- Reihe der nordischen Mythologie. Bei aller Kritik muss man dem Autor eines lassen, sein erster Satz macht neugierig.
    Buchausschnitt - "Magnus Chase - Der Hammer des Thor"
    Eins hab ich jetzt gelernt: Wenn ihr eine Walküre zum Kaffee einladet, sitzt ihr am Ende mit der Rechnung und einer Leiche da.
    Im zweiten Band "Magnus Chase – Der Hammer des Thor" greift das immer wieder praktizierte Erzählprinzip des amerikanischen Autors. Ein Gotteskind, in diesem Fall Magnus Chase, wächst in der Menschenwelt auf, bevor es ahnt, das es von einer Gottheit, hier den nordischen Göttern Asgards, abstammt. Per Zufall oder Schicksalsschlag gelangt die Hauptfigur in die Welt der Götter, hier nach Walhalla. Wie immer stehen an der Seite des Ich-Erzählers Freunde. Bei Magnus Chase sind es ein stummer Elf und ein Zwerg und wie immer geht es um nichts Geringeres als die Rettung der Welt, denn Thor hat mal wieder seinen Hammer Mjöllnir verloren und die Riesen haben freie Hand. Der hinterhältige Gott Loki wittert seine Chance und will sein Kind, die Walküre Samirah, eine gläubige Muslimin, an den Riesen Thyrm in gut fünf Tagen verschachern.
    Buchausschnitt - "Magnus Chase - Der Hammer des Thor"
    Ich hatte das Gefühl, dass Loki uns ganz bewusst auf Abwege schickte, uns keine Zeit zum Überlegen ließ. Er war wie ein Aufbauspieler, der uns mit den Händen vor dem Gesicht herumfuchtelte und uns ablenkte, damit wir nicht auf das Netz zielten. Hinter dieser Hochzeit steckte mehr als der Versuch, Thors Hammer zurückzuholen. Loki hatte noch einen Plan im Plan.
    Magnus und seine Freunde jagen temporeich durch die Handlung und begegnen alle möglichen Asen und Wanen. Ganz nebenbei, und hier setzt dann doch ein Wissensgewinn ein, erzählt Rick Riordan auch von altnordischen Glaubensvorstellungen und Bräuchen, zum Beispiel dem Hochzeitsbrauch. Mudnur heißt der Brautpreis, die Morgengabe, die dem Vater der Braut nach der Hochzeit überreicht wird. Loki will natürlich den Hammer des Thor. Verhandelt werden innerhalb der Handlung auch ganz irdische Themen. Es geht um die Gier nach Gold und Macht, die Menschen wie Götter um den Verstand bringen kann und um Konflikte zwischen dem Elfenvater und seinem stummen Sohn, den er nicht liebt und dessen Gebärdensprache er verabscheut. Müssen Zwitterwesen auch in Asgard um ihre Akzeptanz kämpfen, so fehlt es auch an Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Mit Sarkasmus und trockenem Humor durchwandert Magnus mit seinen Mitstreitern die Neun Welten und stellt nüchtern fest, dass die Götter wie die Menschen nicht unfehlbar sind.
    "Ich bin Herrn Riordan unendlich dankbar, dass er dieses Genre geöffnet hat für eine große Leserschaft, denn ich weiß nicht, wenn man jetzt vor 15 Jahren angekommen wäre und gesagt hätte, ich habe eine Superidee und es geht um alte Legenden, dann hätten vielleicht einige Kinderbuchverlage gesagt, oh nee, das können wir uns jetzt gar nicht vorstellen. Insofern, das hat der Kollege echt gut gemacht. "
    Und so greift die Hamburger Autorin Frauke Scheunemann wie Rick Riordan tief in die Kiste der germanischen Mythologie. Sie verlagert ihre Geschichte allerdings nicht nach Manhattan oder Boston, sondern nach Bayreuth.
    "Ich bin ein relativ großer Opernfan und habe selber vier Kinder und da wurde in Hamburg mal eine Produktion angeboten, die hieß, der Ring für Kinder in einer Sitzung. Ich fand das faszinierend, wie spannend die Kinder diese Geschichte fanden und ich habe mir gedacht, wenn man schon auch noch relativ junge Kinder für so was begeistern kann, dann sollte man das vielleicht auch mal für ein Buch ausprobieren."
    "Henry Smart – Im Auftrag des Götterchefs" heißt der erste Band. Ursprünglich stammt der zwölfjährige Henry, seine Mutter ist Deutsche, aus San Francisco, aber in seinen Sommerferien verschlägt es ihn und seinen Vater, der im Festspielhaus in Bayreuth als Maskenbildner arbeiten kann, nach Deutschland. Kaum angekommen, befindet sich Henry, aus dessen Perspektive auch erzählt wird, in einer seltsamen Gesellschaft. Er bestellt ganz harmlos eine Pizza und wird gleich von riesigen Männern überfallen. Der Besitzer von Papas Pizza entpuppt sich als Göttervater Wotan und das Mädchen Hilda, dass ebenfalls in Henrys Pension wohnt, ist seine Tochter Brunhild.
    Buchausschnitt - "Henry Smart"
    Fassen mir mal zusammen: Ich bin heute einem Helden vor die Füße gefallen, habe einen echten Gott kennengelernt und festgestellt, dass das Mädchen, das mit mir Tür an Tür wohnt, in Wirklichkeit eine Walküre ist. Alle drei sind Teil eines international agierenden Agentenrings, der die Welt vor einem miesen Zwergenkönig retten will. War sonst noch was? Ach ja, und dann hat sich vor meinen Augen ein Kellner in einen Wolf verwandelt. Ich würde sagen, für den obligatorischen 'Was-ich-in-meinen-Ferien-erlebt-habe-Aufsatz' habe ich mittlerweile genug Stoff zusammen.
    "Bisher hatte Henry gedacht, das sind nur alles alte Geschichten oder Opern, sein Vater hat ja viel mit der Oper zu tun. Das fand er ziemlich langweilig. Als er aber merkt, dass die alle noch leben und sogar als Agenten, so ein bisschen wie James Bond, da findet er das schon sehr spannend. Außerdem stellt Wotan ihn vor die Wahl mitmachen oder abgemurkst werden und das entscheidet sich Henry schnell fürs Mitmachen."
    Als Normalsterblicher aber ohne irgendwelche besonderen Fähigkeiten wird Henry nun Mitglied des überirdischen Agentenringes um Wotan, Siegfried, Loge und Hilda. Beim ersten Auftrag dreht sich auch gleich alles um das Gold der Nibelungen, das Zwerg Alberich an sich reißen will. Und da die Agenten global agieren, geht die Reise nach London zu den königlichen Kronjuwelen, die vermutlich Rheingold enthalten. Der Verbindungsmann von Wotan ist kein geringerer als Ritter Lancelot. Um das richtige Edelmetall aus dem Schatz zu entwenden, steht auch noch eine Zeitreise zu Robin Hood ins England des 13. Jahrhunderts an.
    "Ich selber bin eigentlich ein relativ nüchterner Mensch und das ist es auch, was mich als Leser von Fantasy ferngehalten hat. Aber das Spiel damit was passiert, wenn die echte Welt auf das Magische trifft, was passiert dann, was verändert sich für die echten Menschen, aber was ändert sich auch für die Helden der Mythen. Es hat mir einfach Spaß gemacht, diese Welten aufeinanderprallen zu lassen."
    Und diese Freude beim Schreiben merkt man dem Kinderbuch an, in dem Altüberliefertes fröhlich auf den Kopf gestellt wird. So verabschiedet sich die Autorin vom Heldenmythos und zeigt Siegfried und Robin Hood als dreiste, eingebildete Aufschneider, mit denen sich Henry einfach anlegen muss.
    "Das musste sein, weil, ich denke, die meisten Helden, auch historischen Helden, sind in Wirklichkeit normale Menschen, die in Situationen gebracht wurden, wo sie Großes leisten mussten. Wenn man sie aber hinterher kennengelernt hätte, hätte man gedacht, oh, ein Mensch. Und das macht sie ja eigentlich sympathischer, finde ich. Zu viel Perfektion bei Menschen, finde ich eigentlich unheimlich."
    Temporeich und mit Witz, es gibt Anspielungen auf Asterix-Comics, auf James Bond oder die Simsons, vermischt Frauke Scheunemann leichthändig die Genres. Es wird spioniert, Magie als zauberhafter Dreh belebt die Geschichte und es geht um Freundschaft, in diesem Fall zwischen dem aufgeweckten Henry, der eher seinen Verstand als seine Muskeln spielen lässt und der klugen Walküre Hilda.
    Buchausschnitt - "Henry Smart"
    "Tja, das lag an deiner Pizza."
    "An meiner Pizza?"
    "Du hast vom Telefon in meiner Wohnung angerufen und eine Pizza Salami 'extra dünn und ohne Rand' bestellt. Das ist unser Codewort für einen Angriff von Alberichs Zwergen auf einen unserer Agenten. Hättest du zum Beispiel eine Pizza Tonno bestellt, wäre das alles nicht passiert."
    Alter Schwede. Besser wär's gewesen. Leider mag ich keinen Thunfisch.
    "Ich bin besonders fasziniert von der Hilda, weil sie selber in sich diesen Konflikt trägt. Sie selber ist ja ein göttliches Wesen, aber sie arbeitet jetzt ganz eng mit einem Menschen zusammen. Es entsteht ja eine Freundschaft und Freundschaft zu Menschen ist für Hilda einfach ungewohnt und im Laufe der Geschichte merkt sie auch selber, was für Nachteile es eigentlich hat, wenn man ein göttliches Wesen ist. Diese ganzen großen Gefühle, die Menschen haben und diese auch gleichzeitig ins Unglück stoßen, bedeuten für sie auch ein großes Glück. Das findet Hilda auch ganz faszinierend und Hilda ändert sich."
    So wie Frauke Scheunemann verbindet auch Wieland Freund in seinem Roman "Krakonos" sagenhaft Überliefertes mit realem Leben, aber der Berliner Autor führt seine Leser in eine zukunftsnahe Welt der unüberwindlichen Gegensätze. Die Schauplätze der Handlung sind zum einen hoch technisiert, zum anderen naturbelassen. Im Mittelpunkt steht die Sagenfigur Rübezahl, die im Tschechischen Krakonos heißt, und vergessen im Stein des Riesengebirges haust.
    "Mein Wunsch war es, den Rübezahl zu retten. Ich wollte seinen Weg zurückverfolgen, bis zu einer Zeit, wo er noch nicht dämonisiert worden war. Naturgeister sind vom Christentum dämonisiert worden, Luther hat ihnen nachgerufen, dass sie alle des Teufels sind und ich wollte ihn aber auch befreien von seinem aufklärerischen Erbe. Johann Musäus hat Rübezahl eigentlich als Trottel dargestellt und ist damit in die Rolle eines Agenten der Entfremdung geraten."
    Krakonos, der Wettermacher und Gestaltwandler, wird von der Mythobiologin Emma in seinem Naturreich bewacht. Mythobiologen begleiten die Naturgeister, von deren Existenz die Menschen nichts wissen sollen, mit wissenschaftlicher Neugier. Trotz strengster Beobachtung bricht Krakonos nach fünfzig Jahren aus und fliegt von Karpacz als Rabe nach Berlin. Hier leben die Brüder Nik und Levi in einem hoch technisierten Space Dock und gehen auf eine Academy mit Internatscharakter. Kommt Nik mit allem gut klar, so treibt es den zehnjährigen Levi des nachts immer wieder in die Natur. Ihn interessieren nur Tiere, Ratten, Wanzen oder Spinnen, die er in der nahe gelegenen aber verlassenen Kleingartenkolonie aufspürt. Aber nicht nur sie:
    Buchausschnitt - "Krakonos"
    "Ist der Rabe tot?" Nik wusste auch nicht, wie er darauf kam. Levi konnte Ewigkeiten damit verbringen, mumifizierte Mistkäfer anzustupsen und ihren gut zuzureden. "Nein", sagt Levi leise. "Er ist nicht tot." Er flüsterte jetzt. "Und er ist auch kein Rabe." Auf einmal waren sie beide so still, dass die kleinen Geräusche groß wurden ...
    "Ist das dein Bruder?" Die Stimme kam aus der Datsche. "Warum bringst du ihn nicht rein?" Nik zuckte vor Schreck.
    Betrachtet Nik den einsamen Berggeist mit Misstrauen, so vertraut Levi Krakonos vom ersten Moment an.
    "Für ihn ist Krakonos eine Sehnsuchtsfigur, er findet in ihm den Vater, den er oft vermisst. Er findet in ihm aber auch die Gestalt, die die natürliche Welt nicht vergessen hat. Er hat sehr schnell verstanden auf eine intuitive Art, dass diese Gestalt Mensch und Tier zugleich ist. Bei seinem großen Bruder Nikolas, der oft die Verantwortung für Levi tragen muss, sieht das ganz anders aus. Er würde ihn am Anfang sehr schnell gerne los, hegt jede Menge Fluchtgedanken. Aber Nikolas begreift im Laufe der Erzählung, dass dieser Naturgeist für seinen kleinen Bruder gut ist. Der Naturgeist hilft Nikolas auch, Levi besser zu verstehen."
    Levi hilft Krakonos, seinen Peilsender, der vor gut 50 Jahren implantiert wurde, zu entfernen. Aber ein aggressives Sondereinsatzkommando, dass wiederum die Menschen vor den Überzeitlichen schützen soll, ist bereits aktiviert und schießt mit einer Drohne nach dem Jungen. Eine spannende wie temporeiche Verfolgungsjagd bis zur Ostsee beginnt nun, bei der die Mythobiologin Emma vergeblich versucht, Krakonos zu schützen. Der Berggeist sucht mit den Kindern gemeinsam nach einer Möglichkeit, in die Erde einzutauchen, um zu seinem Volk zu gelangen.
    "Er ist ein guter Geist, er hat sich an die Brüder gebunden und weil er im Verdacht steht, sie entführt zu haben, was nicht stimmt, und ist ein Stück weit für sie verantwortlich. Er sieht davon ab, sich in einen Raben zu verwandeln und davonzufliegen. Er hat Verantwortung übernommen und das ist auch in der Überlieferung so, Krakonos oder eben Rübezahl ist ein bisschen wetterwendisch, er kann ein Schelm sein, ein Schalk, aber er kann auch enorm loyal sein und fürsorglich und das ist er in diesem Fall."
    Wieland Freund gibt Krakonos seine Würde zurück und verdeutlicht durch den Existenzkampf der Sagenfigur, wie nah aber auch geheimnisvoll fern die Natur dem Menschen ist, die er einfach nicht kontrollieren kann.
    "Leute, die nach außerirdischem Leben suchen, stellen sich oft die Frage: Sind wir allein? Nein, wir sind nicht allein, es gibt Tiere, es gibt Pflanzen. Das es etwas anderes gibt, das es um die Ecke ist und dass wir ganz eng mit dem anderen verbunden sind. Und ich möchte dabei nicht den Fortschritt verteufeln, aber ich möchte nicht, dass wir darüber vergessen, wer wir sind, wo wir herkommen und wer die andern sind."
    In dieser Verbindung zwischen mythologischen Figuren oder Sagengestalten und dem realen Alltag liegt viel Potenzial für die unterschiedlichsten Erzählformen und Genre, wobei durch die Hintertür immer auch noch Wissen einfließen kann. Dabei verwenden Autoren, die für Kinder und Jugendliche schreiben, nie Überhöhungen oder Metaphern, sondern suchen immer die direkte mal ernsthafte, mal komische Konfrontation mit den mythischen Gestalten, die zwar magische Kräfte haben, aber genauso wie die Menschen gewinnen oder scheitern können.

    Die Liste der vorgestellten Bücher:
    Frauke Scheunemann: "Henry Smart - Im Auftrag des Götterchefs", Oetinger Verlag, Hamburg 2017, 288 Seiten, 16,99 Euro
    Roger Lancelyn Green: "Sagen und Mythen der nordischen Götter", aus dem Englischen von Friedrich Stephan, Arena Verlag, Würzburg 2017, 279 Seiten, 8,99 Euro
    Rick Riordan: "Magnus Chase - Der Hammer des Thor", aus dem Englischen von Gabriele Haefs, Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 507 Seiten, 19,99 Euro
    Rick Riordan: "Apollo - Das verborgene Orakel", aus dem Englischen von Gabriele Haefs, Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 400 Seiten, 17,99 Euro
    Neil Gaiman: "Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard", aus dem Amerikanischen von Andreas Steinhöfel, Arena Verlag, Würzburg 2016, 115 Seiten, 5,99 Euro
    Neil Gaiman: "Nordische Mythen und Sagen", aus dem amerikanischen Englisch von André Mumot, Eichborn Verlag, Köln 2017, 256 Seiten, 22 Euro
    Wieland Freund: "Krakonos", Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2017, 292 Seiten, 14,95 Euro