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Göttlicher Gipfel

Vor 60 Jahren bestiegen Edmund Hillary und der Sherpa Tenzing Norgay als erste Menschen den Mount Everest. Inzwischen ist der Bergtourismus die Haupteinnahmequelle der Region. Und das, obwohl die buddhistischen Sherpas den Berg als heilig verehren - auch Jamling Norgay, Sohn des wohl berühmtesten Sherpas.

Von Brigitte Baetz | 26.05.2013
    Vor 60 Jahren bestiegen Edmund Hillary und den Sherpa Tenzing Norgay als erste Menschen den Mount Everest. Inzwischen ist der Bergtourismus die Haupteinnahmequelle der Region, und das, obwohl die buddhistischen Sherpas den Berg als heilig verehren.

    Vor 60 Jahren bestiegen Edmund Hillary und den Sherpa Tenzing Norgay als erste Menschen den Mount Everest. Inzwischen ist der Bergtourismus die Haupteinnahmequelle der Region, und das, obwohl die buddhistischen Sherpas den Berg als heilig verehren. Es war wie ein letztes großes Aufbäumen des britischen Empire vor dem endgültigen Fall in die Bedeutungslosigkeit. Die Nachricht von der Erstbesteigung des höchsten Berges der Erde durch den Neuseeländer Edmund Hillary und den Sherpa Tenzing Norgay erreichte die Weltöffentlichkeit just am gleichen Tag, an dem die junge Königin Elisabeth in Westminster Abbey gekrönt wurde. Nachdem die Briten den Wettlauf zu Nord- und Südpol verloren hatten, kam der Triumph einer im Kern britischen Expedition zum "dritten Pol", wie man den Everest auch nannte, gerade recht. Allein der neuseeländische Imker Hillary nahm den ganzen Rummel mit großem Understatement.

    "”We were tremendously pleased.”"

    Ungemein erfreut, das seien sie gewesen, nach all den Mühen, die auch andere Expeditionen auf sich genommen hatten, um auf den Gipfel des Everest zu gelangen, sagte Hillary. Eine sehr zurückhaltende Umschreibung für die eigene generalstabsmäßig geplante Eroberung des Gipfels - für die der Leiter der Unternehmung, Oberst John Hunt, dreizehn Tonnen Ausrüstung von Kathmandu bis zum fast 160 Kilometer entfernten Fuß des Everest hatte bringen lassen. Doch Hillarys Bescheidenheit passt zur Zurückhaltung und Frömmigkeit, mit der die Bewohner der Region Solu-Khumbu, die Sherpas, dem Besteigen ihrer Berge gegenüberstehen. Es ist das Bild von Tenzing Norgay, an dessen erhobenem Eispickel die Fahnen der Vereinten Nationen, Großbritanniens, Nepals und Indiens flattern, das die Erstbegehung des Gipfels symbolisiert.

    Die Europäer haben ihn nach dem englischen Landvermesser George Everest benannt, auf Nepali heißt er Sagarmatha. Doch die Sherpas nennen ihn bei seinem tibetischen Namen: Chomolungma – unerschütterlich gute Elefantenfrau. Chomolungma ist der Mythologie nach die Wohnstatt der wohltätigen Schutzgöttin Miyolangsangma. Und Jamling Norgay, Tenzing Norgays Sohn, ist überzeugt davon, dass sie es war, die seinen Vater Tenzing 1953 bei seinem siebten Versuch, mit einer Expedition den Gipfel zu erklimmen, geleitet hat.

    Wir treffen Jamling Norgay in Phakding, einem Dorf am Rande des Everest Base Camp Treck. Er wirkt nicht wie ein esoterischer Schwarmgeist, eher wie ein amerikanisch-pragmatischer Geschäftsmann in Outdoor-Kleidung. Auf den Spuren seines Vaters ist er Bergführer geworden. Unter anderem veranstaltet der 47-Jährige Trekking-Touren im Himalaya und ist jetzt mit einer Gruppe Amerikaner unterwegs zum fast 5700 Meter hohen Gipfel Kala Patar, von dem aus man einen beeindruckenden Blick auf den Everest hat.

    Jamling, der lange in den USA gelebt und auch dort studiert hat, bezeichnet sich selbst als Wanderer zwischen den Welten. Der Erfolg seines Vaters hat es ihm erlaubt, den Westen kennenzulernen, und doch, so sagt er, hat ihn gerade diese Konfrontation erkennen lassen, wie viel geborgener ein Mensch sei, der die buddhistischen Traditionen in sich bewahre. Ausgerechnet im Mai 1996, als acht Menschen auf dem Everest ihr Leben ließen, war er mit einem Filmteam selbst auf dem Gipfel.

    "Den Berg zu besteigen war mein Ziel, seit ich acht Jahre alt war. Ich wollte wie mein Vater werden. Er war mein Held. Aber ich brauchte lange dazu, bis ich meine Rolle erfüllen konnte. So oft hatte ich meinen Vater gefragt, ob er nicht ein paar Strippen ziehen und mir einen Platz in einer Expedition verschaffen könnte. Er kannte ja Leute und es ist einfach unglaublich teuer, an einer Expedition teilzunehmen. Aber er sagte Nein. Du musst studieren. Und das tat ich. Aber ich erkannte: Ich musste ihm nachfolgen, das war mein Schicksal. Und ich habe es auch nicht bereut. Denn so blieb alles in der Familie."

    Jamling lebt, wie sein Vater Tenzing Norgay vor ihm, in Darjeeling, ist also Inder. Nicht nur die buddhistischen Sherpas, so sagt er, auch die Hindus halten den Everest für einen heiligen Berg. Für sie ist jedes menschliche Wesen, das den Gipfel erreicht, eine Inkarnation Shivas, des Gottes der Auflösung und Zerstörung. Seinem Vater sei die Verehrung, die damit einherging, aber eher unangenehm gewesen. Doch auch er hatte Ehrfurcht vor dem Berg.

    "Wir glauben, dass Berge heilig sind. Aber das heißt nicht, dass man überhaupt nicht bergsteigen darf. Aber: Man muss es mit Respekt tun. Und deshalb halten wir vor jedem Aufstieg religiöse Zeremonien ab, die sogenannten Pujas. Vor allem bitten wir die Götter, uns die Erlaubnis zu geben. Manche glauben, niemand sollte die Berge besteigen, aber ohne das Bergsteigen könnten die Sherpas kaum überleben. Die Gemeinschaft könnte nicht gedeihen."

    Vermutlich wären die Sherpas nicht von allein darauf gekommen, ihre Berge zu besteigen. Ihre Ehrfurcht und Frömmigkeit, die manche Westler auch gerne als Aberglauben abtun, hätten sie davon abgehalten. Heute ist der Bergtourismus ihre Haupteinnahmequelle und hat ihnen im Vergleich zu den anderen nepalesischen Volksgruppen Wohlstand gebracht. Mit der Teilnahme an einer kommerziellen Expedition kann ein Sherpa seine Familie fast ein Jahr ernähren. Doch er muss dabei sein Leben aufs Spiel setzen – beim Lastentragen, dem Einrichten der Zeltlager, dem Anbringen der Fixseile und der Rettung aus Bergnot – und kehrt oft genug selbst nicht wieder zurück. Jamling Norgay:

    ""Die kommerziellen Expeditionen wären ohne Sherpas aufgeschmissen. Wir würden sie überhaupt die Lasten hochschaffen? Manche Anbieter nehmen Kunden an, die nicht einmal ihre eigene Ausrüstung tragen können, geschweige denn alle anderen Gerätschaften. Einer muss ja auch den Weg ebnen, die Seile anbringen. Ohne Sherpas würden 95 Prozent aller Expeditionen scheitern.”"

    Es gibt Sherpas, die mehr als ein Dutzend Mal den Everest bestiegen haben – kaum jemand in Europa oder Amerika kennt ihre Namen. Immerhin beruhigend, dass wenigstens Jamlings Vater Tenzing Norgay auch im Gedächtnis des Westens seinen festen Platz gefunden hat – bei seiner Erstbesteigung in der gemeinsamen Seilschaft mit Edmund Hillary.