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"Gott mehr zu gehorchen als den Menschen"

Bei der Rettung der dänischen Juden spielte auch die Haltung der evangelisch-lutherischen Kirche eine wichtige Rolle. Das mutige Eintreten der Kirche für die Juden war einer von mehreren Faktoren, die notwendig waren, damit glücken konnte, was sonst nirgends in Europa gelang: die Rettung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 22.10.2013
    "Es waren viele Menschen in der Kirche. Am Fuß der Altarstufen standen zwei weißgekleidete Mädchen mit der dänischen Fahne. Ich langweilte mich durch eine lange Predigt über die Mission in Indien hindurch. Doch dann betrat ein anderer Pfarrer die Kanzel. Als er sagte, dass er einen Brief des Bischofs verlesen werde, ging ein Raunen durch die Gemeinde."

    So erinnert sich der dänische Journalist Vilhelm Bergstrøm in seinen Tagebuchaufzeichnungen an diesen ungewöhnlichen Gottesdienstbesuch am 3. Oktober 1943.

    Gerüchte über eine mögliche Stellungnahme der dänischen Bischöfe zu den Judenverfolgungen der Deutschen im besetzten Dänemark haben bereits seit Tagen die Runde gemacht. Doch die unverblümte Deutlichkeit des Hirtenbriefes vom 29. September, den der Bischof von Kopenhagen Hans Fuglsang-Damgård an die deutschen Besatzer geschickt hat, und der nun von allen Kanzeln verlesen wird, sorgt in den Gemeinden für große Aufmerksamkeit. In dem Brief heißt es:

    "Wo immer Juden aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, ist es die Pflicht der christlichen Kirche, gegen solche Verfolgung zu protestieren: Ungeachtet unterschiedlicher religiöser Überzeugungen wollen wir dafür kämpfen, dass unsere jüdischen Brüder und Schwestern die gleiche Freiheit bewahren, die wir höher schätzen als das Leben. Durch unser Gewissen sind wir verpflichtet, das Recht zu behaupten und gegen jede Rechtsverletzung zu protestieren. Daher bekennen wir uns gegebenenfalls zu dem Wort, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen."

    Diese kirchliche Stellungnahme ist nicht nur eine Verpflichtung auf die Fundamente der Bibel und die ethischen Grundlagen des dänischen Staates, sondern sie kommt auch einem Aufruf zum zivilen Ungehorsam gleich. Mit dieser Haltung sei die Kirche "ein hohes Risiko eingegangen", schreibt Vilhelm Bergstrøm.

    "In der Tat: es ist ein historischer Moment, das Verlesen dieses Dokuments, mit dem die dänische Kirche so offen auf Konfrontationskurs gegen die deutschen Besatzer geht."

    Nach Verlesung des Hirtenbriefes wurden die ersten Strophen des Kirchenliedes "Ein' feste Burg ist unser Gott" gesungen. Der Pfarrer schloss Fürbitten für die norwegische, schwedische, isländische und finnische Kirche und für die Juden in sein Gebet mit ein.

    Die jüdische Gemeinschaft in Dänemark ist seit dem 17. Jahrhundert dort ansässig, voll integriert und hat, so sagt Arne Melchior, in dieser langen Geschichte keine nennenswerten antisemitischen Ausfälle erleben müssen:

    "Nach Dänemark kamen die Juden ein erstes Mal von Holland im Jahr 1622. Meine eigene Familie kam 1680 nach Dänemark, ich bin also die siebte Generation in Dänemark und meine Enkelkinder sind also die neunte Generation."

    Arne Melchior gehört zu denen, die damals die Flucht der Juden mit Fischerbooten über den Øresund ins freie und neutrale Schweden mitorganisiert haben. Anschließend hat der damals 17-Jährige sich mit seinen Eltern dorthin retten können. Der ehemalige dänische Parlamentsabgeordnete und Sohn des Kopenhagener Oberrabbiners Marcus Melchior wird vor der Flucht mit seinen Eltern und Geschwistern tagelang im Haus eines Landpfarrers versteckt.

    Die Solidarität ihrer christlichen Landsleute wird für die dänischen Juden zum Rettungsanker, zur Überlebensgarantie. Die dänische Regierung, die den deutschen Besatzern erklärt hat, sie werde "bei antisemitischen Maßnahmen nicht kooperieren", besteht im Übrigen darauf, dass Dänemarks Juden in erster Linie Dänen seien und als Dänen angesehen und behandelt würden:

    "Juden waren normale Mitbürger. Interessant ist: es gab in Dänemark ungefähr 1.500 Juden, die nicht dänische Bürger waren. Wir anderen hatten ja natürlich als dänische Bürger alle vollen Bürgerrechte. Aber die Rettungsaktion bei dieser Gelegenheit, überhaupt das ganze Benehmen des Volkes und der Behörden gegenüber den Juden war nicht auf der Basis, dass sie dänische Bürger sein mussten. Juden waren Mitmenschen, so wie alle anderen und ob sie Ausländer oder dänische Bürger waren, war nicht wichtig. Wenn Sie mich fragen, ob es Antisemiten gegeben hat, dann muss ich sagen: ja, es gab einige. Wenn Sie mich aber fragen: gibt es Antisemitismus in Dänemark? dann antworte ich jedoch: nein. Weil diejenigen, die es gibt, sind so wenige und so nicht angesehene Menschen, dass sie keinen Teil vom Bilde decken. Man kann wirklich sagen, dass es in Dänemark nie antisemitische Exzesse gab."

    Besorgt um das Wohlergehen der jüdischen Bürger in seinem Land, schreibt selbst König Christian X. an Hitlers Statthalter in Kopenhagen, den "Reichsbevollmächtigten" Werner Best:

    "Ich sehe es als meine Pflicht an, hervorzuheben, dass eine spezielle Behandlung einer bestimmten Gruppe Menschen, die seit über 100 Jahren die volle bürgerliche Gleichberechtigung in Dänemark genießt, ernste Folgen haben wird."

    Die deutschen Besatzer wissen sehr wohl, welchen Zündstoff der zunehmende Widerstand im Königreich Dänemark birgt. Das mag der Grund dafür sein, dass sie erstmals, zwei Monate nach Verlesung des Hirtenbriefs des Bischofs Fuglsang-Damgård, einen Gottesdienst im Kopenhagener Dom verbieten.

    Hier, im Dom wo auch die Torahrollen aus der Kopenhagener Synagoge versteckt sind, soll der Pfarrer und Schriftsteller Kaj Munk predigen. Da er bereits mehrfach durch unliebsames Verhalten und mutige Worte aufgefallen ist, haben ihn die Deutschen zur "persona non grata" in Kopenhagen erklärt. Doch Munk ignoriert das Predigtverbot und steigt am 5. Dezember 1943 auf die Domkanzel:

    "Wenn man hier im Land mit der Verfolgung einer gewissen Gruppe unserer Landsleute anfängt, nur um ihrer Abstammung willen, dann ist es die christliche Pflicht der Kirche zu rufen: Das ist gegen das Gesetz im Reich Christi, die Barmherzigkeit, und das ist verabscheuungswürdig für jedes freie, nordische Denken. Die Kirche muss weitergehen, ohne sich beirren zu lassen. Wir wollen mit Gottes Hilfe versuchen, das Volk zum Aufruhr zu bringen. Ein christliches Volk, das tatenlos zusieht, wenn seine Ideale mit Füßen getreten werden, wird Gottes Zorn treffen."

    Einen Monat nach dieser Predigt, am 5. Januar 1944, findet man in einem Wald bei Silkeborg die Leiche Munks. Am Abend zuvor ist er von einem SS-Kommando in seinem Pfarrhaus verhaftet, in einem Auto entführt und dann erschossen worden. Es ist eine regelrechte Hinrichtung, mit der der Freiheitskampf der Dänen geschwächt werden soll. Doch das Gegenteil geschieht. Der Widerstand nimmt zu.

    Das mutige Eintreten der dänisch-lutherischen Kirche für die jüdischen Bürger im Land war einer von mehreren Faktoren, deren Zusammenspiel notwendig war, damit glücken konnte, was sonst nirgends in Europa gelang: die Rettung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung.

    Zu diesen Faktoren zählten: das Interesse Deutschlands an dem besonderen Status des besetzten Agrarstaates Dänemark, die geringe Zahl der dort lebenden Juden, die mangelnde Vorbereitung der Deutschen auf die "Judenaktion" und die geografische Lage des Landes mit der nur wenige Kilometer entfernten Küste des neutralen Schwedens.

    Und doch wären die unterschiedlichen Rettungsaktionen wohl nicht gelungen, wenn es nicht auch unter den deutschen Besatzern viele gegeben hätte, die ein geradezu auffälliges Desinteresse an dieser Menschenjagd aufwiesen. Das galt auch für Soldaten, die die Schiffe durchsuchten, auf denen die Geretteten waren, indem sie die Verstecke bewusst übersahen.

    "Das ist bestimmt ein Teil der Wahrheit. Da ist es vorgekommen, dass ein Fischer hat beschlossen, bei Nacht abzusetzen direkt von der Küste mit diesen fliehenden Menschen an Bord. Und wir wissen genau, dass dieses nicht selten von Mitgliedern der deutschen Wehrmacht gesehen wurde. Aber die haben sich umgedreht. Sie haben die Augen zugemacht. Ich spreche hier von der Wehrmacht und nicht von der Gestapo."

    Oder wie ein deutscher Leutnant die Tür eines Taxis aufriss und die Fahrgäste anherrschte: "Wer seid ihr?" Und als die, völlig verstört, die einzige Antwort gaben, die sie auf gar keinen Fall geben durften, nämlich: "Wir sind Juden", der Leutnant die die Tür wieder zuknallte und nur "weiterfahren" brüllte.

    Nicht vergessen werden sollte aber auch eine in Dänemark lange Tradition der Feindseligkeit gegenüber dem mächtigen deutschen Nachbarn. Beim Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark im April 1940 lebte diese Feindseligkeit wieder auf. Der dänische Historiker Aage Trommer:

    "Die Hilfsbereitschaft der Dänen wurde auch durch die Animosität, um nicht zu sagen Feindschaft gegenüber der Besatzungsmacht gefördert. Diese Feindschaft stieg während des Sommers 1943 stetig. Die anfängliche Kooperationsbereitschaft im Frühjahrs 1940 war längst vergessen."

    Trotzdem ist es die oftmals reibungslose Zusammenarbeit von Dänen und auch Deutschen, die die Rettung der Juden möglich macht. Und es ist ein deutscher Diplomat, Georg Ferdinand Duckwitz, der nach der gelungenen Rettungsaktion in sein Tagebuch notiert:

    "Als ich die Nachricht erhielt, hatte ich einen jener seltenen glücklichen Augenblicke in meinem Leben, die mir die wohltuende Gewissheit gaben, nicht umsonst auf der Welt zu sein."

    "Ich kann gar nicht an ihn denken, ohne Tränen in die Augen zu bekommen. Ohne ihn wäre es ja nie geschehen. Meine Eltern, meine Geschwister und ich sind dann am 10. Oktober an einer Stelle, südlich von Kopenhagen mit einem Fischerboot abgereist."

    Arne Melchior erinnert sich noch im Alter genau, was er empfand, als er unter den Planen des Fischerboots hervor kroch und die Lichter der schwedischen Küste erblickte:

    "Das ist klar, dass alle, die dann nahe genug der schwedischen Küste kamen, verstanden: jetzt sind wir gerettet! Das Gefühl von Glück und Dankbarkeit ist ja kaum zu beschreiben. Da muss man ein Dichter sein."