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Gottesdienstbesuch
Frontalunterricht zieht nicht mehr

Die Sonntagsglocken läuten, der Pfarrer ist bereit, aber die Kirchenbänke bleiben leer. Niemand kommt zum Gottesdienst. Viele Geistliche ahnen angesichts der Statistiken, dass dieser Moment kommen wird. Horst Rockel, evangelischer Pfarrer aus Hessen, hat ihn erlebt – und redet darüber.

Horst Rockel im Gespräch mit Christiane Florin | 04.03.2016
    Einzelne Frau auf sonst leeren Kirchenbänken - von Generation zu Generation verliert die Kirche an Bedeutung.
    Bei Pfarrer Rockel blieben an einem Sonntag die Kirchenbänke komplett leer - es kam niemand zum Gottesdienst (imago/epd)
    Christiane Florin: Herr Rockel, Sie standen an einem Sonntagmorgen um 9.30 Uhr im Talar in ihrer Kirche und wollten den Gottesdienst beginnen. Und kein Besucher war da. Was war Ihr erster Gedanke?
    Horst Rockel: Ich war schon sehr enttäuscht, dass niemand da war. Wir hatten vorher schon öfter schlechten Besuch. Es war nicht so ganz unerwartet, ich habe mich auch schon innerlich drauf eingestellt, dass das irgendwann passieren wird. Aber wenn man dann dasteht und es ist keiner da, das ist schon sehr enttäuschend. Ich hatte noch kurz vorher gehofft, es würde noch jemand kommen, so beim Läuten, aber es hat dann nicht geklappt. Wir waren dann alleine, unser Küster, die Organistin und ich.
    Florin: Machen Sie etwas falsch? Sind die Gottesdienste langweilig, zu lang, ist die Musik schlecht oder passt die Zeit einfach nicht?
    Rockel: Ja, vielleicht sollten wir doch überlegen, ob es eine andere Form gibt, die die Menschen anspricht. In der Schule ist es ja so, dass man gesagt hat: Dieser Frontalunterricht, dass vorne einer steht und spricht und die Schüler hören zu, das ist eine Form, die heute nicht mehr so möglich ist. In der Kirche, im Gottesdienst, ist es natürlich noch so, dass der Pfarrer predigt und die Leute auf den Bänken sitzen. Sie haben nicht die Möglichkeit, etwas zu sagen. Vielleicht kann man da andere Formen finden, dass man mehr ins Gespräch miteinander kommt und dass man mehr diskutiert. Immer wenn die Leute nicht zu mir kommen in den Gottesdienst, dann gehe ich zu ihnen. In der Gemeinde funktioniert das. Wenn ich sie besuche, dann funktioniert das. Es hat mich noch niemand vor die Tür gesetzt. Ich könnte mir vorstellen, eine Sprechstunde, einen festen Punkt zu haben, dass man sich eine Dorfkneipe setzt, einen Stammtisch hat, und die Leute können mit dem Pfarrer reden. Die Leute halten ja immer Distanz zum Pfarrer. Das möchte ich gerne verändern.
    Florin: Nun bewegen sich die Zahlen der Gottesdienstbesucher schon lange im einstelligen Prozentbereich, im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Diese Zahlen werden immer routiniert verkündet. Fühlen sie sich von Ihrer Kirchenführung allein gelassen?
    Rockel: Das kann ich so nicht sagen. Ich fühle mich da nicht alleingelassen, aber ich habe manchmal schon den Eindruck, dass wir da ein bisschen mehr hingucken müssten. Also dass die Kirche insgesamt, auch die Kirchenleitung, da genau hingucken müsste. Wir trösten uns immer ganz schnell mit dem Wort, das auch in der Bibel steht: "Wo zwei oder drei in Gottes Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen", sagt Jesus. Das nehmen wir gern als Anlass, begnügen uns und sagen: "Zwei bis drei Leute haben wir ja schon." Ich denke, das Wort ist mehr eine Zusage. Ich rede da ja nicht für mich alleine.
    Florin: Nein. Ein katholische Kollege von Ihnen, ein Priester aus Münster, hat kürzlich auf facebook geschrieben, warum er eine Auszeit vom Priestersein braucht.
    Rockel: Das habe ich gelesen.
    Florin: Ihm ging es so ähnlich wie ihnen. Er stand nicht vor leeren Bänken, aber er schreibt: "Solange ich lebe, kenne ich nur eine schwindende Zahl bei den in der Kirche Aktiven und eine wachsende bei den Kirchenaustritten." Sie sind 62, etwas älter als dieser Priester. Welche Vorstellung hatten Sie, als Sie ihr Amt antraten? Haben Sie gedacht die Zahlen bleiben gut oder war Ihnen klar, dass es deutlich weniger wird?
    Rockel: Ich hatte natürlich gedacht, es bleibt mit den Zahlen. Dann habe ich aber relativ schnell gemerkt, dass die Gottesdienstbesucher zurückgehen. Wir haben uns ein Stück Hoffnung gemacht. Wir machen die Erfahrung, dass die Zahl derer, die kommen, nicht so groß ist wie die Zahl derer, die wegbleiben. Irgendwann einmal sind viele Gemeinden an dem Punkt, dass die Gottesdienste kaum noch besucht werden und dass wir vor leeren Bänken stehen.
    Florin: Schwindet der Glaube an Gott oder das Vertrauen in die Kirche?
    Rockel: Das würde ich stark unterscheiden. Der Glaube an Gott ist das eine, das Vertrauen in die Kirche ist eine andere Sache. Ich denke, dass viele Menschen an Gott glauben, aber die Gottesdienste sehr fremd finden, ablehnen, vielleicht gar nichts damit anfangen können. Ich denke, ein Glaube an Gott ist bei vielen hier bei uns – ich spreche in erster Linie für die Dörfer hier im Gießener Raum – da. Wo sie diesem Gott begegnen, das kann sehr unterschiedlich sein. Manche begegnen Gott auf langen Spaziergängen oder in der Begegnung mit anderen. Wer das so sieht, so erlebt, der sagt: "Das reicht mir, diese Gottesbegegnung ist mir genug. Ich muss da nicht noch sonntags in die Kirche gehen."
    Florin: Ein Konzernchef, der schlechte Zahlen präsentiert, der zieht irgendwann die Konsequenzen und tritt zurück. In der Kirche treten auch manchmal Bischöfinnen und Bischöfe zurück, aber nicht wegen schlechter Zahlen, sondern aus anderen Gründen. Wer soll zurücktreten?
    Rockel: Es sollte keiner zurücktreten, aber jeder sollte sich Gedanken machen, wie wir die Botschaft, die wir verkündigen, besser und glaubwürdiger bezeugen. Das fängt beim eigenen Leben ab. Jeder sollte sich Gedanken machen, dass das, was er sagt, auch im Einklang ist mit dem, was er selber fühlt und erlebt. Wenn da ein Widerspruch ist zwischen dem eigenen Erleben und dem, was ich verkündige, dann kann das auch nicht ankommen. Das mit Rücktritten würde ich für die Kirche so nicht sagen.