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Gottesfurcht und Kirchenzucht (2/5)
Der Rat der Stadt vertreibt die Reformatoren aus Genf

Seine "Institutio" machte Johannes Calvin mit einem Schlag berühmt. Bis in die Gegenwart ist sie die wichtigste Gesamtdarstellung der reformierten Lehre geblieben und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Allerdings fand die Idee des Reformators, Bürger zu einem gemeinsamen Glaubensbekenntnis zu verpflichten, zu seinen Lebzeiten keine Mehrheit.

Von Rüdiger Achenbach | 03.06.2014
    Eine brennende Kerze vor einer Bibel
    Im seinem 1536 veröffentlichten Werk "Christianae religionis institutio" stellt Calvin die Absicht der Reformatoren vor, von den Fehlentwicklungen in der Kirche zu den biblischen Ursprüngen zurückkehren zu wollen. (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    "Die Wahrheit evangelischer Lehre, auf der eine Kirche gegründet sein muss, ging nicht nur größtenteils zugrunde, noch mehr, sie wurde feindselig mit Feuer und Schwert bekämpft."
    Für Johannes Calvin sind die Anhänger der Reformation die Verteidiger der wahren Kirche. Da der französische König in Frankreich die "Luthériens", wie die Protestanten auch in Frankreich zu dieser Zeit genannt werden, verfolgen und hinrichten lässt, ist Calvin Anfang 1535 ins protestantische Basel geflohen. Hier im Schweizer Exil lebte er zurückgezogen – unter dem Decknamen Martinus Lucanius – widmete er sich ganz dem Studium theologischer Schriften.
    Da in Frankreich über die Anhänger der Reformation zum Teil groteske Vorstellungen verbreitet waren, hielt Calvin es für notwendig, die Anliegen der evangelischen Lehre darzustellen. So warf man den Protestanten zum Beispiel vor, dass sie die Ehe ablehnten und jede Form der Obrigkeit bekämpften. Alle diese falschen Behauptungen wollte Calvin durch eine Verteidigungsschrift widerlegen.
    Der "Unterricht in der christlichen Religion"
    Im protestantischen Basel hatte er außerdem die Möglichkeit mit anderen Reformatoren zusammenzutreffen. So kam es zu folgenreichen Begegnungen mit den beiden Straßburger Reformatoren Martin Bucer und Wolfgang Capito, den Zürchern Leo Jud und Heinrich Bullinger, dem Nachfolger Zwinglis, und dem Franzosen Guillaume Farel, den er später in Genf wieder treffen sollte. Und obwohl er die eine oder andere Einladung erhielt, Straßburg oder andere Orte der Reformation zu besuchen, ging Calvin zunächst konsequent jeder Ablenkung aus dem Weg, um innerhalb kürzester Zeit seine evangelische Verteidigungsschrift zu verfassen.
    Er nannte dieses Werk, das bereits im März 1536 in Basel gedruckt und auf verschiedenen Wegen auch nach Frankreich gebracht wurde "Christianae religionis institutio", also "Unterricht in der christlichen Religion". In dieser kurz "Institutio" genannten Schrift, stellt Calvin die Absicht der Reformatoren vor, von den Fehlentwicklungen in der Kirche zu den biblischen Ursprüngen zurückkehren zu wollen. Willem Nijenhuis, Theologieprofessor an der Universität Groningen.
    "In einem eindrücklichen Brief an Franz I., der dem Buch als Vorrede beigegeben wurde, wehrt sich der Verfasser gegen die Anschuldigung, die Anhänger der Reformation hegten revolutionäre Absichten gegen Kirche und Staat. Ihre Lehre – hält Calvin dem entgegen – sei nicht neu und häretisch, sondern gründe sich auf die Schrift und stehe in Übereinstimmung mit den Kirchenvätern. Sie stellten nicht wie die Täuferbewegung eine Bedrohung der Ordnung und Ruhe dar, und daher erhöben sie Anspruch auf königlichen Schutz gegen Verunglimpfung und Verfolgung."
    Calvin macht in seiner "Institutio" auch deutlich, dass in der Alten Kirche zum Bespiel die Gemeinde das Abendmahl in beiderlei Gestalt empfing und die Priesterehe freigegeben war. Zudem könnten Beichte, Ehe, Firmung, letzte Ölung, und Priesterweihe keine Sakramente sein, da nur die Taufe und das Abendmahl von Christus eingesetzt seien. Christoph Strohm, Professor für Kirchengeschichte an der evangelischen Fakultät der Universität Heidelberg:
    "In der Vorrede und im Text des Werkes zeigt der 26-Jährige, der kein reguläres Theologiestudium absolviert hatte, eine erstaunliche Kenntnis der theologischen Tradition, von den Kirchenvätern angefangen bis hin zu den jüngeren Scholastikern."
    Durch die Institutio wurde Calvin mit einem Schlag berühmt. Bis in die späten Lebensjahre hinein hat er das Werk immer wieder überarbeitet und erweitert. Bis in die Gegenwart ist die Institutio die wichtigste Gesamtdarstellung der reformierten Lehre geblieben und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.
    Inzwischen war die Verfolgung der Evangelischen in Frankreich für beendet erklärt worden. Dadurch wurde es Calvin möglich, in Noyon mit seinen Brüdern das väterliche Erbe aufzuteilen. Da er sich entschlossen hatte, zunächst aus Sicherheitsgründen im Exil zu Leben, trat er anschließend die Reise nach Straßburg an. Dazu musste er allerdings einen Umweg in Kauf nehmen, weil der französische König und Kaiser Karl V. wieder einmal Krieg gegeneinander führten.
    "Da mir der Krieg den direkten Weg nach Straßburg gesperrt hatte, hatte ich vorgehabt, rasch durch Genf zu reisen und mich nicht länger als eine Nacht in der Stadt aufzuhalten. Dort war vor kurzem durch die Wirksamkeit von Guillaume Farel und Pierre Viret das Papsttum niedergeworfen worden, doch waren die Verhältnisse noch ungeordnet und die Stadt in schlimmer, gefährlicher Weise in Parteien gespalten."
    Nachdem Farel erfahren hatte, dass Calvin in Genf war, suchte er ihn sofort auf und beschwor ihn in der Stadt zu bleiben, um ihm bei der Durchführung der Reformation in Genf zu helfen.
    "Farel, der mit außerordentlichem Eifer für die Ausbreitung des Evangeliums stritt, setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um mich zum Bleiben zu bewegen. Und als er gewahr wurde, dass mein Sinn danach stand, mich ganz den privaten Studien zu widmen, weshalb ich mich frei von Verpflichtungen zu halten wünschte, schlug er eine andere Taktik ein: Er überschüttete mich mit Vorwürfen und verkündetet, dass Gott meine Muße und die Ruhe der Studien, die ich suchte, verfluchen würde, wenn ich mich so feige davonstehlen und meine Hilfe in seiner so dringenden Not verweigern sollte. Dieser Fluch erschreckte mich so sehr, dass ich davon Abstand nahm, die begonnene Reise fortzusetzen."
    Farel war es tatsächlich gelungen Calvin umzustimmen, indem er ihm vorwarf, dass Calvin den göttlichen Auftrag verweigere, wenn er der evangelischen Lehre und damit der wahren Kirche nicht zum Sieg verhelfe. Richard Stauffer, Kirchenhistoriker an der Sorbonne in Paris:
    "Indem Farel Calvin in Genf festhielt, bewies er Urteilsvermögen: ihm kommt das Verdienst zu, im Autor der 'Institutio' den Mann erkannt zu haben, der fähig war, das Werk der Erneuerung zum Erfolg zu führen, das in der Stadt mit ungefähr zehntausend Einwohnern gerade seinen Anfang genommen hatte."
    Im Vergleich zu Zürich mit etwa 7.000 Einwohnern und Wittenberg mit kaum 2.000 Einwohnern war Genf zu dieser Zeit bereits eine Großstadt, die sich gerade erst von der Vormundschaft ihres Bischofs und auch aus der Abhängigkeit der Herzöge von Savoyen befreit hatte. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Stadt war auch das Selbstbewusstsein der Bürger gewachsen. Vor allem die Kaufleute unterstützten die Reformation in Genf und eine politische Allianz mit dem protestantischen Bern.
    Calvin überreicht die Ordonnances ecclésiastiques
    Calvin nannte sich nun "Lektor der Heiligen Schrift an der Genfer Kirche" und hielt Vorlesungen am Genfer Gymnasium. Schon bald machte er sich mit Eifer daran, die Kirche zu organisieren. Willem Nijenhuis:
    "Seine erste öffentlich wirksame Handlung war die Überreichung der Ordonnances ecclésiastiques, also einer Kirchenordnung, an den Rat der Stadt.
    Diese formulieren die Prinzipien, die fortan bei seiner reformatorischen Arbeit stets leitend sein sollten. In Bezug auf das Abendmahl, für das als Zugeständnis an die Schwachheit des Volkes nicht eine wöchentliche, sondern eine monatliche Feier vorgesehen war, sollte eine strenge Disziplin walten, deren Durchführung einer Anzahl für die einzelnen Stadtgegenden einzusetzender Aufseher anvertraut war.
    Ferner wurden der Psalmengesang der Gemeinde im Gottesdienst und die Katechese der Kinder durch Bestimmungen geregelt." Außerdem legte er die "Confession de foy", ein Glaubensbekenntnis mit 21 Artikeln vor, das für alle Bürger Genfs verbindlich sein sollte. Alle Einwohner sollten deshalb verpflichtet werden, sich durch Unterschrift und Eid an das Bekenntnis zu binden. Zudem forderte Calvin das Recht der Kirche, verstockte Sünder zu exkommunizieren, weil das Abendmahl nicht durch Unwürdige beschmutzt werden dürfe.
    Calvins Bemühungen, mit denen er der Kirche in Genf eine disziplinarische und doktrinäre Struktur geben wollte, stießen auf heftigen Widerstand. Der Magistrat fürchtete, einen Teil seiner Vorrechte zu verlieren, wenn er der Kirche ein disziplinarisches Recht zuerkannte. So wurde Calvins Vorstellung, dass die Kirche das Recht haben solle, zu exkommunizieren, zurückgewiesen. Nur der Rat sollte das Recht haben, vom Abendmahl ausschließen zu dürfen.
    Volker Reinhardt, Professor für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg:
    "Die Mehrheit der politischen Klasse hatte ein für alle Mal deutlich gemacht, was sie auf keinen Fall wollte: die Moralhoheit einer neuen Geistlichkeit, die aufgrund ihres Rigorismus dazu tendieren musste, gegenüber den Behörden mit dem Anspruch auf Vormundschaft aufzutreten."
    Keine Mehrheit für gemeinsames Glaubensbekenntnis
    Auch für Calvins Vorhaben, die Bürger auf ein gemeinsames Glaubensbekenntnis zu verpflichten, fand sich keine Mehrheit. Zumal in dieser Frage auch Bern die Opposition gegen eine eidesstattliche Erklärung auf das Glaubensbekenntnis unterstützte. Anderseits war Calvin nicht bereit so schnell nachzugeben. Volker Reinhardt:
    "Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung stellte Calvin ein Ultimatum: ohne Eid kein Verbleib in der Stadt! Daraufhin erklärten sich der kleine und der große Rat zur Annahme der Artikel, die dem Schwur zugrunde liegen sollten, bereit; strittig aber blieb schon jetzt die Exkommunikation."
    Nach Stadtvierteln gegliedert wurden die Bürger in die Kathedrale St. Pierre gerufen, wo sie nach Verlesen des Bekenntnisses den Eid abzulegen hatten. Auf Drängen Calvins und der Prediger hatte der kleine Rat beschlossen, diejenigen, die den Eid verweigerten, zu exkommunizieren. Doch auf den massiven Protest der Bürger hin wurde schließlich festgelegt, dass niemand vom Abendmahl ausgeschlossen werden dürfe. Inzwischen gab es eine höchst gefährliche Polarisierung in der Bürgerschaft. Christoph Strohm:
    "Die katholische Partei ging deutlich gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervor.
    Als am 3. Februar 1538 die neuen Bürgermeister gewählt wurden, waren es ausschließlich Gegner Farels und Calvins. Auch im kleinen Rat hatte diese nun die Mehrheit."
    Gerade weil die politische Konstellation für die Reformatoren nicht gerade günstig war, setzte Calvin jetzt voll auf die Auseinandersetzung mit der katholischen Partei. Er pochte immer wieder darauf, dass man die Vertreter der wahren Kirche an der Strenge ihrer Lebens-führung erkennen könne, während in der römischen Kirche nur Heuchelei anzutreffen sei.
    "Wer wird einem Mönch glauben, der mit roter Trinkernase und Schmerbauch Fasten und Enthaltsamkeit lobt? Und wer will glauben, dass solche Leute anspruchslos und maßvoll leben, wenn sie doch um keinen Preis aus übel beleumdeten Spelunken fernzuhalten sind? Ja, ich schließe daraus in aller Bündigkeit, dass fast die gesamte Geistlichkeit der Papstkirche ein stinkender Sumpf aller Laster und Bosheit ist, der seinen Pesthauch überall hin verbreitet und die ganze Welt mit moralischer Fäulnis zu verderben droht."
    Der Opposition der Reformatoren in Genf ging es in der Auseinandersetzung mit Calvin und Farel aber nicht nur um die Ablehnung kirchlicher und religiöser Erneuerungen, sondern sie sahen im Treiben der Reformatoren auch eine politische Gefahr. Denn letztlich war die gesamte politische Ausrichtung der Republik mit ihren Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts bedroht. Volker Reinhardt:
    "Für die Opposition in Genf war dieser Zwist ein Menetekel, das den Bruch mit Bern und damit den Verlust der frisch gewonnenen städtischen Autonomie befürchten ließ. Diese Sorgen schienen umso begründeter, als die Debatte auch räumliche weitere Kreise zog, Zürich und Straßburg beschäftigte und die Stadt an der Rhone so vollends zu isolieren drohte."
    Die Situation spitzte sich dann endgültig zu, als der Rat in Genf - um den Berner Verbündeten zu gefallen – beschloss, deren liturgische Bräuche zu übernehmen. Zum Beispiel nicht Brot, sondern Hostien beim Abendmahl einzusetzen. Dies sahen die Reformatoren als einen eindeutigen Eingriff in ihren Kompetenzbereich an. Sie weigerten sich daher den Anordnungen des Magistrats zu folgen. Farel und Calvin verzichteten nun aus Protest am Ostertag 1538 auf die Feier des Abendmahls.
    Doch die politischen Autoritäten holten umgehend zu einem Gegenschlag aus. Farel und Calvin wurden entlassen und mussten aus Genf innerhalb von drei Tagen abreisen.