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Gottesfurcht und Kirchenzucht (4/5)
Tanzen und das Singen weltlicher Lieder verboten

Der Franzose Johannes Calvin war einer der einflussreichsten Vertreter der Reformation im 16. Jahrhundert. Er hat seine eigenen Vorstellungen von der wahren christlichen Kirche nie infrage gestellt. Er wollte das ihm anvertraute Volk auf den rechten Weg führen. Calvin und die Pfarrer sahen sich noch ganz am Anfang ihres Kampfes gegen die religiöse Indifferenz und Sittenlosigkeit.

Von Rüdiger Achenbach | 05.06.2014
    Eine Bibel, Holy Bible, liegt im Schatten von Kirchenfenstern.
    Calvin hat seine eigenen Vorstellungen von der wahren christlichen Kirche nie infrage gestellt. Er lebte mit und durch die Bibel. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Die Genfer Patrizierfamilien protestieren gegen die rigorose religiöse Lebensordnung Calvins
    "Ich weiß nicht, warum sie mich der Härte bezichtigen. Es würde mich nicht einmal so tief kränken, wenn ich ihnen ohne Grund missfiele, machte mir ihre Bosheit nicht so sehr zu schaffen."
    Für Johannes Calvin war die Ursache aller Übel klar. Die Genfer waren verstockt und versuchten sich bei jeder Gelegenheit der heiligen Ordnung, die die Kirche ihnen gab, zu entziehen. Christoph Strohm; Professor für Kirchengeschichte an der evangelischen Fakultät der Universität Heidelberg.
    "Der Kampf gegen diejenigen, die vermeintlich zuchtlos und unordentlich lebten, das Joch Christi nicht auf sich nehmen wollten und von ihm 'Libertiner' genannt wurden, zieht sich durch Calvins gesamtes Werk."
    Calvins Kampf gegen Sittenlosigkeit
    Calvin und die Pfarrer, die zumeist Flüchtlinge aus Frankreich waren, sahen sich deshalb noch ganz am Anfang ihres Kampfes gegen die religiöse Indifferenz und Sittenlosigkeit und setzten sich unentwegt dafür ein, das Gemeinwesen nach dem Willen Gottes, wie sie ihn verstanden, umzugestalten. Als zum Beispiel an einem Osterfeiertag während der Gottesdienstzeit junge Leute im Garten eines Gasthauses gekegelt hatten, setzen Calvin und die Pfarrer durch, dass alle Gasthäuser in Genf per Dekret geschlossen werden mussten. Christoph Strohm:
    Stattdessen sollten so genannte "Abteien" geöffnet werden, in denen man in Gemeinschaft die Bibel lesen und sich geistlichen Übungen hingeben konnte. Das neue Angebot fand offensichtlich nur sehr begrenzt Anklang, einen Monat später musste man die Erlaubnis geben, die Gasthäuser wieder zu öffnen.
    Allein im Jahr 1542 gab es 149 Anklagen wegen unentschuldigten Fehlens bei der Predigt. Vor allem die Prozesse wegen sexueller Vergehen steigerten sich jetzt von Jahr zu Jahr. Während es 1542 noch 37 Verfahren waren, stiegen sie 1546 bereits auf 104 und 1550 schon auf 188 Verhandlungen. Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg:
    "Wenn man den Einwohnern der Rhone-Stadt nicht einen plötzlichen Verfall ihrer Sitten unterstellt, bleibt nur die nüchterne Schlussfolgerung, dass die soziale Kontrolle und mit ihr die Praxis der Denunziation zugenommen hat."
    Er lebte mit und durch die Bibel
    Calvin hat seine eigenen Vorstellungen von der wahren christlichen Kirche nie infrage gestellt. Er lebte mit und durch die Bibel. Er sah sich selbst wie Mose dem Murren des Volkes ausgesetzt. Und so wollte auch er seinem Auftrag gerecht werden und das ihm anvertraute Volk auf den rechten Weg führen. Christoph Strohm:
    "Die Kompromisslosigkeit, mit der Calvin seinen Weg gegangen ist, lässt sich ohne diese Wirkungsgeschichte der alttestamentlichen Texte nicht angemessen verstehen."
    Zu diesem Programm wahrhaft evangelischer Lebensgestaltung gehört dann auch, dass Calvin und die Pastoren beim Rat der Stadt 1546 durchsetzten, dass künftig die Kinder nur noch auf biblische Namen getauft werden durften. Als zum Beispiel ein Genfer Barbier darauf bestand, dass sein Sohn Claude heißen solle, taufte der Pfarrer das Kind - trotz des Protests der Familie - auf den Namen Abraham. Christoph Strohm:
    "Nicht wenige Genfer reagierten außerordentlich erbost darauf, dass die französischen Pfarrer nun auch noch in intimste Familienangelegenheiten eingriffen und ihnen die althergebrachten Namen verboten."
    Kinder durften nur noch auf biblische Namen getauft werden
    Der Kampf um die rechte Lebensordnung der Stadt wurde immer heftiger ausgetragen. Die Chroniken verzeichnen zum Beispiel jetzt auch nächtliche Umzüge von Jugendlichen, die frivole Lieder sangen und gegen die "Franzosen auf der Kanzel" demonstrierten. Vor allem die alten Patrizierfamilien in Genf bildeten nun einen Hort des Widerstandes gegen Calvin und seine Gehilfen. Volker Reinhardt:
    "Ihr Motto war: wir die alt eingesessenen Genfer und unser durch Tradition gerechtfertigter Lebensstil gegen die Arroganz der fremden Pastoren und ihre Umerziehungsversuche."
    Führend unter diesen Patriziern waren die einflussreichen Familien von Ami Perrin und von dessen Schwiegervater Francois Favre, die wesentlich dazu beigetragen hatten, dass man Calvin nach Genf zurückgeholt hatte. Jetzt sammelten sie jene Genfer um sich, die zwar für eine Reformation waren, aber das strenge kirchliche Regime Calvins und seiner Gehilfen ablehnten.
    Für Calvin waren diese Leute die Feinde der gottgewollten Ordnung. In einem Brief, den er an Farel schreibt, wird deutlich wie sehr man in der Genfer Kirche bei unbequemen Gegnern vor allem das Privatleben unter die Lupe nahm:
    "Francoise, Perrins Frau, schimpft heftig auf uns, weil wir ihrer Familie, so feindlich gesinnt seien. Ich fragte sie, ob denn ihre Familie dem Gesetz nicht unterworfen sei. Denn ihren Vater hatten wir schon eines Ehebruchs überführt, Belege für einen zweiten fast gesammelt, von einem dritten Fehltritt wurde gemunkelt. Ihr Bruder hatte den Rat offen verhöhnt und verspottet. Daraufhin sagte ich ihr: Ihr müsst euch eine Stadt gründen, in der ihr unter euresgleichen leben könnt, wenn ihr euch nicht zusammen mit uns unter das Joch Christi neigen wollt."
    Doch das den Genfern von Calvin auferlegte Joch Christ, wie er seine Auslegung des Gesetzes Gottes nannte, stieß immer häufiger auf Unverständnis. Und das gegenseitige Misstrauen ließ das Klima in der Stadt zunehmend feindseliger werden. Besonders spektakulär war, dass jetzt Ami Perrin plötzlich verhaftet wurde. Der Patrizier war immerhin der militärische Oberkommandierende in Genf. Ihm wurde vorgeworfen, in Diensten des protestantenfeindlichen französischen Königs zu stehen.
    Abneigung des eigenene Volkes denkbar spürbar
    Doch die Verhaftung eines so einflussreichen Mannes wie Perrin machte nun auch die mächtigen Verbündeten in Bern hellhörig, sie schickten sogar einen Sonderbotschafter nach Genf, der den Fall untersuchte und den eingekerkerten Perrin für unschuldig erklärte.
    Die gesamte Affäre trug dazu bei, dass Calvin und seine Helfer immer mehr Bürger in Genf gegen sich aufbrachten. Das ging soweit, dass Calvin nun auf der Straße angerempelt wurde, sein Diener wurde sogar verprügelt. Auch die anderen Pastoren bekamen die zunehmende Abneigung zu spüren. Volker Reinhardt:
    "Auf dem Weg zur öffentlichen Bibelvorlesung wurde der Moderator der Genfer Kirche von Jugendlichen belästigt, die über seinen Kopf hinweg Ball spielten. Schlimmer erging es seinen Kollegen Chauvet. Unbekannte hatten eine Planke der Rhonebrücke entfernt, sodass der strenge Prediger auf seinem nächtlichen Heimweg ein unfreiwilliges Flussbad nahm."
    Calvin war enttäuscht, dass es so viele Menschen gab, die sich den Gesetzen Gottes entgegenstellten.
    "Mehr als zwanzig Mal habe ich in diesen Tagen in innigen Gebeten Gott angefleht, dass er mich sterben lassen möge, weil ich so viele verbohrte Köpfe sehe, Leute, die des göttlichen Gerichts spotten. So ist mir in diesen Tagen die Gottlosigkeit unseres Volkes erst richtig aufgegangen."
    Konflikte um die Kirchenzucht
    Aber es waren nicht nur die anhaltenden Konflikte um die Kirchenzucht, die ihn beschäftigten, sondern auch die Verteidigung der evangelischen Wahrheit - oder das, was er dafür hielt. Das zeigte sich auch bei seiner Begegnung mit dem Humanisten Sebastian Castellio. Castellio stammte aus Savoyen. Er hatte Calvin und Farel bereits in Straßburg kennengelernt, wo er als junger Privatlehrer arbeitete. Als man mit der Einführung der Reformation in Genf auch das Gymnasium der Stadt nach den humanistischen Ideen umgestaltete und die drei alten Sprachen zum Mittelpunkt des Lehrprogramms machte, hatte Farel dem Genfer Magistrat den begabten Philologen aus Savoyen für die Stelle des Schulleiters empfohlen. Im Juli 1541 hatte Castellio dort seinen Dienst angetreten.
    Sebastian Castellio war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt und in Genf noch wenig bekannt. Der Ruf auf den Rektoratsposten war für ihn eine große Ehre. Aber Calvin scheint mit der Berufung Castellios nicht ganz glücklich gewesen zu sein. Denn der Reformator wollte die Schule nach dem Straßburger Vorbild ausbauen. Außerdem sollte die Collége de Rive künftig auch die Ausbildung der Theologen übernehmen. Dazu aber brauchte Calvin einen Schulleiter von internationalem Ruf.
    Als Rektor der Schule bezog Castellio ein Jahresgehalt von 450 Gulden. Davon musste er als Schulleiter noch zwei Unterlehrer bezahlen. Außerdem wurde er verpflichtet in einem Dorf am Ostufer des Genfersees regelmäßig sonntags die Predigt zu halten. Trotz der vielfältigen Aufgaben, die als Rektor auf ihn zukamen, blieb ihm nur ein karges Einkommen und kaum freie Zeit. Dennoch gelang es ihm neben seinen Pflichten das Neue Testament in seine Muttersprache zu übersetzen. Der Historiker Hans Rudolf Guggisberg:
    "Im Zusammenhang mit diesem für einen so jungen Gelehrten gewiss ambitiösen Unternehmen kam es zu der ersten eindeutig feststellbaren Trübung im Verhältnis zu Calvin. Dass der Philologe seine Arbeit veröffentlicht sehen wollte, war begreiflich. Dies konnte aber nur mit der Zustimmung Calvins geschehen. Da aber Castellio dessen Korrekturvorschlägen für den französischen Text nicht folgen wollte, war Calvin nicht bereit, das 'imprimatur', also die Druckerlaubnis, zu erteilen. So musste das Übersetzungsprojekt vorerst liegen bleiben."
    Hungersnot nach Pest
    Im Anschluss an die Auseinandersetzung über die französische Bibelübersetzung entstanden bald weitere Konflikte zwischen Calvin und Castellio. Im Winter 1543/44 litt man in Genf nach einer Pest an einer Hungersnot. Die Nahrungsmittelpreise waren enorm angestiegen und der Rat musste zahlreiche notleidende Einwohner unterstützen. Sebastian Castellio, der schlecht bezahlt wurde, litt Hunger und wurde schließlich krank. In dieser schwierigen Situation forderte Castellio eine Lohnerhöhung, sollte man die nicht bewilligen, müsse er seinen Rücktritt anbieten. Calvin hoffte bereits ihn nun auf diese Weise loszuwerden und sah sich schon nach einem geeigneten Nachfolger um.
    Castellio unternahm aber einen anderen Versuch in Genf zu bleiben, er beantragte nun eine volle Pastorenstelle, die erheblich besser bezahlt wurde als die des Schulleiters. Er hatte ja ohnehin schon jeden Sonntag das Amt eines Predigers auszuführen. Der Rat der Stadt gab Castellios Antrag zur Beurteilung an die Genfer Pfarrerversammlung weiter. Castellio hatte sich nun einer Befragung durch die Pfarrer zu stellen.
    Dabei widersprach Castellio der Vorstellung, dass das Hohelied im Alten Testament als Allegorie der Liebe Christi zu seiner Kirche aufzufassen sei. Was damals als selbstverständlich angesehen wurde. Christoph Strohm:
    "Ferner wandte sich Castellio gegen Calvins Auffassung der im apostolischen Glaubensbekenntnis ausgedrückten Höllenfahrt Christi. Calvin hatte den Ausdruck 'niedergefahren zur Hölle' im Genfer Katechismus als höchste Gewissensnot Christi am Kreuz und nicht als Predigt Christi in der Totenwelt interpretiert."
    Kritik galt als Gefahr für die Einheit der neuen Kirche
    Gewiss handelte es sich hier um theologische Fragen von eher sekundärer Bedeutung. Aber für Calvin waren sie gravierend genug, um Castellio vom Pfarramt fernzuhalten. Die Pfarrerversammlung lehnte Castellios Antrag ab. Hans Rudolf Guggisberg:
    "Die Bitte, sich gegenüber Calvins Vorwürfen zu rechtfertigen, wurde ihm ebenfalls abgeschlagen. Castellios mehr fragend und zweifelnd als auftrumpfend ausgesprochene Kritik wurde als Gefahr für die Einheit der neuen Kirche in Genf betrachtet. Abweichung von der offiziellen Lehre konnte nicht diskutiert, geschweige denn geduldet werden."
    Die Konsequenz bekam Castellio dann schon bald zu spüren, zuerst musste er seine Predigertätigkeit aufgeben, schließlich wurde er auch als Lehrer und Rektor entlassen. Hans Rudolf Guggisberg:
    "Das durch Calvin unterzeichnete Zeugnis war allerdings nicht nur negativ, es betont Castellios pädagogische Fähigkeiten, behauptete aber, er habe seine Schulstelle freiwillig aufgegeben."
    Castellio blieb nun nicht anders übrig, als Genf zu verlassen. Doch damit war die Auseinandersetzung mit Calvin noch nicht beendet. Calvin sollte schon bald wieder von Castellio hören.