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Gottvergessenheit und der Atheismus im Alltag

Sich heute Atheist zu nennen, ist ein Bekenntnis zum gesellschaftlichen Status quo. Nicht religiös zu denken, ist zur Gewohnheit geworden. Dennoch entstehen jenseits von gelebter Religiosität und Glaubenspraxis neue Formen eines Kulturchristentums.

Von Thomas Klatt | 26.11.2012
    "Dass Menschen Gott vergessen und ohne seiner inne zu sein ihren Alltag verbringen, ist nichts, was erst heute oder mit dem Beginn der sogenannten Neuzeit zu beobachten ist. Die Klage begleitet das jüdisch-christliche Zeugnis schon immer. Ihr habt mich vergessen!"

    Klagten schon im Namen Gottes die alttestamentlichen Propheten. Der evangelische Theologe Wolf Krötke weist darauf hin, dass gerade der jüdisch-christliche Monotheismus erst die menschliche Gottvergessenheit möglich gemacht hat.

    "Das scheint die Schattenseite der neuen Epoche von Gotteserfahrung zu sein, die Israel in der Religions- und Weltgeschichte eingeläutet hat. Die polytheistischen Götter und göttlichen Naturgewalten, die konnten nicht vergessen werden. Sie walteten in der religiösen Vorstellungswelt der Antike überall und aufdringlich in ihrem Alltag und mussten ständig beachtet werden, damit es einem wohl ergeht. Der Glaube an den einen, der Welt jenseitigen Gott hat die Welt entgöttert."

    Nicht jeder Blitz galt mehr als eine Wutbezeugung aus dem Olymp. Der biblische Gott offenbarte sich nun ganz neu in der Geschichte, in der Sintflut, im Exodus, in der Landnahme Israels bis hin zum Kreuzestod Jesu Christi. Der jüdische und christliche Glaube sind daher immer Erinnerungsreligionen, auf dass man der Taten Gottes gedenke. Oder eben auch nicht. Wolf Krötke weist darauf hin, dass in den letzten 2000 Jahren gerade die Kirchen oftmals auch Orte der Gottvergessenheit waren. Immer dann, wenn sie sich jeweils mehr um ihre Macht und ihre Pfründe als um die Verkündigung des Evangeliums gesorgt hatten.

    Seit der Aufklärung lässt es sich in einer säkularisierten Welt auch ohne Gott gut leben. Keinem entstehen Nachteile, wenn er den Schöpfer nicht mehr lobt und preist, sondern ihn einfach vergisst. Allerdings gerade die bekennenden Atheisten dürfe man dabei nicht zu den Gottvergessenen zählen, meint der evangelische Theologe Wolf Krötke. Er erinnert an den klassischen Religionskritiker Ludwig Feuerbach.

    "Danach ist der Mensch das höchste Wesen für den Menschen. Vergessen Gottes kann man das beim besten Willen nicht nennen. Ein höchstes Wesen ist nun einmal ein Gott in unserer Sprache. 'Homo homine deus', der Mensch dem Menschen ein Gott. Sein Atheismus, auf dessen Wellen auch Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin und viele andere bis heute surften und surfen übt sich also mitnichten im Vergessen Gottes. Er hält die Erinnerung an Gott vielmehr lebhaft gegenwärtig. Denn sein Anspruch ist, das, was im Christentum als göttlich gilt, in Menschenhände zu überführen, die ein wahrhaft menschliches Leben besser zu bewerkstelligen vermögen als es die Illusion von einem der Welt jenseitigen Gott vermag."

    Die sozialistisch-atheistische Gesellschaft in der ehemaligen DDR hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Menschen dort dieser Abwehr alles Christlichen gefolgt wären und somit bis heute gottesbewusst sind, wenn auch mit anti-kirchlichem Vorzeichen. Während im Bundesdurchschnitt ein Drittel aller Bundesbürger als konfessionslos gelten, so liegt in Ostdeutschland ihr Anteil bei über 75 Prozent. Sie sind weder atheistisch noch gläubig, sondern gelten schlicht als religiös desinteressiert. Jedwede spirituelle Dimension spielt in ihrem Alltag keine Rolle. Das heiße aber noch lange nicht, dass das so bleiben müsse. Der Heidelberger Physiker und evangelische Theologe Thorsten Moos:

    "Wenn wir Umfragen machen, kriegen Sie große Zustimmung zu folgender Aussage: Ach, Religion spielt für mich keine so große Rolle, aber ich finde es gut, dass es sie gibt und ich finde es gut, dass es die Kirchen gibt. Für Alte, Menschen mit Behinderung, für Kranke. Kirche als Sekundärinstitution nennen das die Soziologen."

    Konfessionelle Kitas oder Schulen seien auch bei konfessionslosen Eltern sehr gefragt. Nicht selten würden diese dann über ihre Kinder erstmals mit religiösen Praktiken, vom Tischgebet bis zum St.-Martinsfest, in Kontakt kommen. Und, obwohl nicht christlich geprägt und keine Kirchensteuer zahlend, würden sich gerade ostdeutsche Bürger für ihre Dorfkirchen einsetzen, weiß Moos.

    "An vielen hängt ein Kirchbauverein, der mit hohem persönlichem Engagement diese Kirche fördert, aufbaut und restauriert. Das sind oft Leute, die niemals am Sonntag in die Kirche gehen würden. Aber es sind Leute, die plötzlich Kirchenführungen machen, die sich interessieren für die Geschichte dieser Kirche vor Ort und die von der Amtskirche verlangen, dass sie dort Gottesdienste feiern. Die Kirche sagt, für drei Leute lohnt das nicht. Und die sagen, wir haben das doch nicht für Euch hier restauriert, damit ihr hier keinen Gottesdienst mehr feiert."

    Für Moos ist es eine Art Kulturchristentum jenseits gelebter Religiosität und Glaubenspraxis. Natürlich wird es auch in Zukunft nicht zu der einstmals vielleicht von manchen Kirchenfürsten erhofften Re-Christianisierung Ost-Deutschlands kommen. Aber es gebe doch kleine Hoffnungszeichen eines neuen Interesses an Glaubensdingen.

    "Worum es mir geht, ist sowas wie religiöse Sprachfähigkeit, also die Kompetenz von religiösen wie nicht religiösen Menschen, sich mit Religion reflexiv auseinanderzusetzen und dem eigenen Glauben und Zweifeln und Ahnen und Nicht-Ahnen Ausdruck zu verleihen. Ich glaube, dass hier die Kirchen eine allgemeinkulturelle Aufgabe haben und da sehe ich auch in Ostdeutschland viele Ansätze in Richtung religiöser Sprachfähigkeit."