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Gowdys erster Krimi

Der Roman "Hilflos" über die Entführung einer Neunjährigen ist keine Lolita-Story, sondern eine Art Aufklärungskrimi, der die Selbstgerechtigkeit der empörungsfreudigen Gesellschaft im Visier hat. Barbara Gowdy kann ihre Leser gefangen nehmen wie ein Hitchcock sein Kinopublikum.

Von Brigitte Neumann | 15.06.2007
    Rachel Fox, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, ist neun und eine verblüffende Erscheinung. Barbara Gowdy beschreibt sie als überirdisch schönes Wesen. Eines von diesen Kindern, bei denen es schwer fällt, den Blick abzuwenden. "Sie nimmt Komplimente dankend aber ein bisschen traurig entgegen, etwa so wie andere Kinder Geschenke, die sie schon haben." heißt es in Gowdys Roman "Hilflos" über die von allen geliebte Heldin Rachel.

    Einer übertreibt es mit der Liebe und entführt Rachel: Ron, ein übergewichtiger Einzelgänger, der sein Geld damit verdient, die Kleingeräte der Hausfrauen in der Nachbarschaft zu reparieren. Er ist ein Stalker, einer, der dem Mädchen monatelang folgte, seinen Tagesablauf ausspionierte, um es in einem günstigen Moment zu packen, zu fesseln und in seinem Transportwagen ins Gewerbegebiet von Toronto zu fahren. Dort lebt Ron in einer Bruchbude, einer Kombination aus Laden, Werkstatt und Wohnhaus. Dort hat er die Entführung vorbereitet und dem Opfer im Keller ein schalldichtets Gefängnis hergerichtet, das von drinnen aussieht wie ein herzallerliebstes Kinderzimmer: Himmelbett, Heimkino, Puppenhaus und Pferdebücher. Dort will Ron die Neunjährige vor der bösen Welt verwahren. Denn er lebt in dem Wahn, Rachel würde von ihrer Mutter vernachlässigt und müsse fremden Männern zu Willen sein. Ihm fällt der Begriff der "unbefleckten Entführung" ein. Andererseits ist sein Realitätssinn und Selbstbewusstsein noch so weit intakt, dass er weiß, er ist nun die größte Gefahr für Rachel.

    "Hilflos" ist keine Lolita-Story. Sondern eine Art Aufklärungskrimi, der die Selbstgerechtigkeit der empörungsfreudigen 'moral majority' im Visier hat. Barbara Gowdy:

    "Was diese Geschichte angeht: Sie ist für mich so etwas wie ein Vehikel, um mich Fragen zu nähern, an denen ich ohnehin schon immer großes Interesse hatte. Fragen wie diesen hier: Welche Menschen sind in unseren Augen wertvoll und warum? Welches sind unsere Maßstäbe, nach denen wir Menschen beurteilen? Beurteilen wir sie nach ihren Gedanken oder nach ihren Taten? Ich meine, im Falle meines Romans 'Hilflos' könnte man sagen, der Kindsentführer ist ein Held, weil er seiner Lust auf kleine Mädchen nicht nachgibt. Oder man könnte ihn verurteilen, allein weil er diese Begierden hat."

    Nun hat die Autorin hier schon ein wenig verraten, wie die Geschichte endet. Ron tut es nicht. Er lässt Rachel sexuell unversehrt, denn er scheint sie auf seine hungrige und wahnwitzige Art tatsächlich zu lieben. "Hilflos" ist eine mal quälend langsam fortschreitende, mal atemberaubend vorandrängende Geschichte. Das Kind Rachel wird in 20 Zeilen entführt. Die aberwitzige Beschreibung von Staubsaugern füllt Absätze.

    Das Buch zu lesen, macht Angst. Auf Lesungen, in Interviews empfiehlt die Autorin deshalb, kurz hinten nachzuschauen, wie es ausgeht. Sie mache das bei Tschechov-Geschichten genauso, denn schließlich komme es eigentlich nur darauf an, wie der Autor diesen Schlusspunkt erreiche.

    Barbara Gowdy erreicht ihn mit einer für sie ungewöhnlich einfach und klar gehaltenen Sprache, die die spannende Story an keiner Stelle stört. Hier resultiert der Stil aus dem Stoff. Die Geschichte - "a nail-biting tale of suspense" wie Kirkus Review schrieb - sie drängt voran. Die Autorin hielt sich, was ihre stilistischen Kunstfertigkeiten angeht, zurück.

    "Hilflos", Barbara Gowdys siebtes Buch, kreist um ein Phänomen unserer Tage:

    "Nie zuvor in der westlichen Kultur wurden kleine Mädchen derart sexualisiert, und nie zuvor wurde die Tatsache, dass sich Männer zu kleinen Mädchen hingezogen fühlen, derart verurteilt. In der Zeit Lewis Carolls, des Autors der Geschichten um 'Alice im Wunderland', war das noch anders. Da fand man nichts dabei, dass er Fotos kleiner Mädchen machte, sogar manchmal welche in sehr kompromittierenden Positionen. Die Mütter dieser Mädchen waren nicht empört darüber. Sie fühlten sich sogar geschmeichelt. Er hat diese Mädchen nie behelligt, obwohl wir wissen, dass er sie begehrte, denn Lewis Caroll hat all dies seinem Tagebuch anvertraut.

    Meine Figur Ron liebt kleine Mädchen auf die gleiche Weise wie Lewis Caroll. Ich würde ihn deshalb auch nicht pädophil nennen. Denn meines Erachtens geht ein Pädophiler seiner Lust auch praktisch nach."

    Dieser Ansicht konnte sich in Kanada nicht jeder Kritiker anschließen. Im Netz sind Zeitungsinterviews mit Barbara Gowdy nachzulesen, die wie inquisitorische Verhöre geführt sind. Der Vorwurf an die Autorin: Ron, der Kidnapper, sei zu positiv dargestellt. Eine Kritik auf der Ebene der political corectness, die eine therapeutische Wirkung des Romans im Blick hat. Barbara Gowdy hat eine gewagte Theorie, was die eigentlichen Motive der Kritiker angeht:

    "Während ich erste Reaktionen auf das Buch sammle, kristallisiert sich tatsächlich heraus, dass Frauen und Männer bei diesem Buch verschiedener Ansicht sind. Frauen finden es sehr spannend. Und Männer erwähnen so etwas wie Spannung überhaupt nicht. Ihnen fallen anderere Dinge auf.

    Es gab eine Reihe von Kritikern in Kanada, die an Ron das Monströse vermissten. Sie schrieben, ich hätte die Chance vertan, aus dem Innenleben eines Psychopathen zu bereichten. Aber ich will überhaupt nicht aus dem Innenleben eines eindimensionalen Psychopathen berichten. Das finde ich nicht interessant. Ich wollte über einen menschlichen Mann schreiben, der leichte Wahnvorstellungen hat. Ich habe nie erwartet, dass die Leser mit ihm sympathisieren, aber ich möchte gerne, dass die Leser ihn verstehen.

    Viele männliche Kritiker wollten partout, dass er ein Monster wäre. Dass ich diesen Mann Mensch sein ließ, verschaffte ihnen sehr unangenehme Gefühle. Ich glaube, es war ihnen unangenehm zu denken, dass sie ihm ähnlich sein könnten, dass es nur einer kleine Drehung in der sexuellen Orientierung bedürfte, und dann wäre er einer wie sie. Das ist meine Erklärung, wieso es zu diesem 'gender gap' bei den Kritikern kam. Aber vielleicht liege ich ja völlig falsch.

    Margaret Atwood, der ich das erzählt habe, meint, diese Männer würden einfach zu viel Computer spielen und kämen nicht mehr von der Zweiteilung der Menschheit in Held und Schurke runter. Wer weiß, vielleicht ist das ja die Antwort."

    Wer diese Art harter Kontraste sucht, ist tatsächlich bei Barbara Gowdy an der falschen Adresse. Ob in ihren Romanen "Fallende Engel", "Mister Sandman" oder "Die Romantiker", überall lotet die heute 57-jährige Kanadierin in aller Zartheit menschliche Tiefen aus, die derberen Naturen verborgen bleiben. Sie fördert Bizarres zutage und schreibt darüber in aller Selbstverständlichkeit, zum Beispiel in der Erzählung "Seltsam wie die Liebe", wo eine junge Frau bevorzugt Sex auf dem Gesicht toter Männer hat. Gowdys Sympathie für Freaks, Schönheiten und Liebeskranke steckt an. Und öffnet den Blick für die Vielfalt menschlicher Existenz, aber auch für deren grundlegende Hilflosigkeit und Verlorenheit. Und immer wieder: Für die Spielarten der Liebe. Barbara Gowdy:

    "Liebe ist ganz offensichtlich ein sehr kompliziertes Gefühl, das wunderbare, aber auch ganz schreckliche Folgen haben kann. Celia, die Mutter des entführten Mädchens, lebt in einem Zustand konstanten Staunens, dass ausgerechnet sie dieses schöne und liebenswerte Kind Rachel hat. Sie kann ihr Glück kaum fassen, während Ron ein Gefühl tiefer Dankbarkeit empfindet, wenn Rachel in seiner Nähe ist. In dieser Hinsicht reagiert er wie viele Mensche im Angesicht einer Schönheit. Aber ganz unangemessen ist natürlich, was er dann tut. Er nimmt sich das Mädchen einfach für sich allein. Ich gab dem Buch den Titel 'Helpless', weil ich denke, dass es für jeden von uns etwas gibt, das uns 'Helpless' macht. Meist ist es die Liebe."

    Barbara Gowdys erster Krimi zeigt ganz neue Fähigkeiten der Autorin: Sie kann ihre Leser gefangen nehmen wie ein Hitchcock sein Kinopublikum. Die Spannung bedingt einen "schnellen" Text genauso wie eine hohe Lesegeschwindigkeit - geübte Leser verschlingen das Buch in einer Nacht. Das ist zu wenig Gowdy für drei Jahre. So lange dauert es nämlich im Durchschnitt, bis das nächste Buch der Kanadierin herauskommt. Außerdem vermisst man dieses Mal die stilistischen Sensationen, die eindringlichen Innenschauen der Protagonisten. "Hilflos" ist ein Action-Buch. Aber da jedes neue Buch von Barbara Gowdy sich gänzlich von den vorherigen unterscheidet, wissen wir nun, was als nächstes garantiert nicht kommen wird.