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Goya

Paul Nizons fulminanter, sprachmächtiger Essay macht allemal Lust, sich wieder mit dem spanischen Maler und Grafiker Francisco de Goya zu beschäftigen.

Von Matthias Kußmann | 21.12.2011
    Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete der promovierte Kunsthistoriker Paul Nizon in einem Museum, dann als Kunstkritiker für die Neue Zürcher Zeitung. Er gab das auf, wohl, weil es ihm zu theoretisch und abstrakt war. Dennoch hat sich der Schweizer, der seit 40 Jahren in Paris lebt, in literarischen Essays oft mit Künstlern und deren Werken beschäftigt. Zum Beispiel mit Goya, in einem langen Essay, den er 1991 auf Französisch publizierte und der jetzt auf Deutsch erschien - in einem schönen kleinen illustrierten Band der Insel-Bücherei. Man kann davon ausgehen, dass er den Text selbst ins Deutsche übertrug. Der Verlag macht dazu keine Angaben und sagt auch nicht, warum der eindrucksvolle Essay 20 Jahre auf Eis lag - seltsam genug bei einem Autor wie Nizon, der eher wenig publiziert.

    Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist´s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.

    Dieses Zitat aus Büchners "Lenz" hat Nizon ans Ende des Essays gestellt - gleichsam als Fazit seiner eigenen Gedanken. Nizon ist mit seinen Romanen und Erzählungen seit je auf der Suche nach Verlebendigung dessen, was gewesen ist. "Aber wo ist das Leben" heißt denn auch ein früheres Buch von ihm. Gewährsleute für derlei Verlebendigung sind für ihn solitäre Künstler und Autoren wie Giacometti, van Gogh, Robert Walser - in deren Leben und Schaffen er auch die eigene Arbeit und eigene Krisen gespiegelt sieht. Nun also Goya.

    Goya ist ein allein dastehender Künstler. Er kommt aus keiner Schule und hat keine Schule gemacht. Er taucht aus einem biografischen Dunkel auf wie ein Stern aus dem Weltall. Gemeint ist: Die Vita liefert kein Äquivalent zu den ungeheuren Dimensionen seiner künstlerischen Geschichte, in welche die Dramatik seiner Zeit, die Erschütterung durch die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege eingeschrieben sind. Er ist auf keine Barrikade gestiegen und in keinen Kerker geworfen worden. Er hat gemalt …

    ... wie Nizon selbst geschrieben hat, doch politische Themen mied. Darum haben ihm manche 68er und Nach-68er auch vorgeworfen, dass es in seinen "Männerbüchern" immer nur ums private existenzielle Ringen, um Frauen und Schreiben gehe. Nizon gefällt, dass Goya "gelebt" habe, "und zwar aus dem Vollen", wie er notiert. Aber er zeigt auch, dass der 1746 geborene Spanier alles andre war, als das, was man heute einen "freien Künstler" nennt: Er war Hofmaler, musste sich mit der Macht arrangieren und tat das zunächst auch. Nizon erzählt sein Leben vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse um 1800. Als der spanische Liberalismus endet und Reaktion und Inquisition erstarken, hat Goya eine erste schwere Krise; er wird taub:

    Die Taubheit ist eine Mauer, die sich zwischen das äußere Geschehen und die Welt seiner Imagination legt. Das Malen geht weiter.

    Die "Caprichos" entstehen, faszinierende Radierungen über die Nachtseiten des Menschen - am bekanntesten das Blatt mit dem heute sprichwörtlichen Titel "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Die Wissenschaft hat an den "Caprichos" und den späteren "Disparates" schier endlos herumgedeutet, sie galten als "engagierte" Kunst und Zeugnis für Goyas Aufklärertum. Nizon sieht es anders. Über die "Disparates" schreibt er:

    Es sind ( ... ) Rottungen, Versammlungen, Massierungen von fantastischen Wesen, deren Heimat nicht das Tageslicht, sondern die eigene Unterwelt, der innere Orkus ist, man kann auch sagen: das in jedem Menschen verschlossene Schreckenskabinett oder die Trieblage. Eine ikonografische Auflösung des Rätsels ist nicht angebracht.

    Goya rettet sich als Hofmaler über die Zeiten, dient den Spaniern wie den Franzosen. Zugleich zeigen seine Porträts, was er von ihnen hält. Heute ist kaum zu glauben, dass er damit durchkommen konnte. Seine großformatige "Familie Karls des Vierten" von 1798 rückt den spanischen König aus der Mitte des Bilds; rotgesichtig und verlegen steht er neben seiner Frau, die mit vorgerecktem Kinn zu sagen scheint: Ich hab hier die Macht! Überhaupt interessieren Goya die Gewänder der Mächtigen mehr als diese selbst. Hier präsentiert er sein ganzes malerisches Können - während die Gesichter der Porträtierten meist flach, nichtssagend bleiben. Nizon zeigt das am Porträt des spanischen Königs Ferdinands des Siebten. Als er es das erste Mal sah, erlitt er einen regelrechten "Schock", schreibt er. Er hielt den König zunächst für einen "Hofzwerg"... Nicht Ferdinand, sondern dessen purpurroter Mantel ist der Hauptdarsteller des Bilds:

    Ich kann den Mantel nicht nur sehen, ich kann ihn mit Fingerspitzen fühlen, die weiche Glätte des Samts und die schmeichelnde, wärmere Weichheit des Hermelins und die kratzige Härte der Goldfäden; ich kann den Stoff riechen, und ich spüre sogar sein Gewicht auf den Schultern. Und nun hat ihn sich dieser Kretin umgehängt, angemaßt. ( ... ) Im Vergleich zum Mantel hat sein Kopf ebenso viel Leben wie ein Kürbis. ( ... ) Ferdinand der Siebte war das Spielzeug Napoleons, gefangen gesetzt, eingesetzt, abgesetzt, nach Belieben.

    Es scheint dem Autor, als stehe der König vor einem Spiegel, in dem er sich verlegen, unbeholfen, aber auch eitel betrachtet.

    Vor dem Spiegel das Schauspiel usurpierter Macht. Der Spiegel ist Goya. Er hat den Narren als Tyrann und den Tyrannen als Weltnarren dargestellt.

    Natürlich erschöpfen sich Goyas Porträts bei aller Meisterschaft nicht darin, Menschen, vor allem mächtige, als Schauspieler und Marionetten zu entlarven. Es gibt einige Bilder, in denen er wirkliche Charaktere zeigt, voller Respekt. Es sind Menschen, die "vom Schlag der Wahrheit gerührt wurden", wie Nizon notiert. Etwa das Porträt der Marquesa de la Solana von 1794/95. Sie leitete ein Waisenhaus und war Dramatikerin. Goya malt sie, die zur Zeit des Porträts schon todkrank war, als zarte und vergeistigte, aber entschiedene, starke Frau mit einem anrührend gefassten Gesicht.

    Die höchste Verdichtung von Dasein und Menschsein, mit minimstem Aufwand gebannt. Reine Existenz, reine Essenz. Resistenz.

    Seine letzten Jahre verbringt Goya im französischen Exil. Taub und halb blind lebt der fast 80-Jährige mit einer jungen Frau und deren kleiner Tochter. Er malt und zeichnet weiter und entdeckt kurz vor seinem Tod noch neue Möglichkeiten der Lithografie. 1828 stirbt er in Bordeaux. - Paul Nizons fulminanter, sprachmächtiger Essay macht allemal Lust, sich wieder mit dem großen Goya zu beschäftigen.

    Paul Nizon: Goya. Insel Verlag, 78 Seiten, Abb., 12,90 Euro