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Gracq-Drama
Cover-Version von Goethe

Mit "Der Versucher" liegt nun auch der letzte Teil des erzählerischen Werks von Julien Gracq auf Deutsch vor. Die Anleihen bei Goethes "Wahlverwandtschaften" kann das Buch nicht verbergen - und einem dennoch die Füße unter dem Körper wegziehen.

Von Michael Schmitt | 07.08.2014
    Der 2007 verstorbene Autor Schriftsteller Julien Gracq auf einer Aufnahme von 2003. Er steht in dunkler Kleidung an einer Steinmauer, die an das Ufer eines daruntergelegen Flusses grenzt.
    Julien Gracq im Jahr 2003. (picture alliance/dpa/Photopqr/Ouest France)
    Von dem bissigen, abschätzigen Kommentar über Goethes "Wahlverwandtschaften", den sich eine der Figuren in Julien Gracqs Roman "Der Versucher" im Verlauf der Geschichte gestattet, sollte sich kein Leser täuschen lassen. Mag sein, dass in den Augen der Nachgeborenen Goethes seinerzeit aufsehenerregendes Werk aus dem Jahr 1809 mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten an Brisanz eingebüßt hat – Julien Gracqs zweiter Roman, erschienen 1945, ist dennoch so etwas wie eine Cover-Version dieser klassischen Vorlage -- und damit soll nichts Schlechtes gesagt sein.
    Die "Wahlverwandtschaften" als Vorlage
    Man erinnert sich: In Goethes Roman treffen zwei Ehepaare aufeinander und bilden bald, wie chemische Elemente in einer Versuchsanordnung, neue Beziehungen und Verbindungen aus, die Männlein und Weiblein über Kreuz in Liebeleien verstricken und sogar dazu führen, dass das Kind des eines Paares, obgleich gemeinsam gezeugt, dennoch als Folge eines doppelten Seitensprungs betrachtet werden könnte. Denn beide, Gatte wie Gattin, haben beim Beischlaf an ein je anderes Objekt ihrer Begierde gedacht. Und das heißt: die Fassade der Ordnung der Dinge bleibt gewahrt, während sich auf dem Landgut, auf dem Goethe seine Geschichte angesiedelt und in diskreten Sätzen ausformuliert hat, zugleich aller seelische Zusammenhalt in Nichts auflöst.
    Einhundertdreißig Jahre nach Goethe ändert Julien Gracq nur wenig an den grundlegenden Koordinaten. Als Ort der Handlung wählt er ein entlegenes gediegenes Hotel an der Küste der Bretagne, wo nach und nach und ganz zufällig rund ein halbes Dutzend jüngerer Menschen aus wohlhabenden Kreisen, darunter auch ein frisch vermähltes Ehepaar zusammentreffen, um allesamt binnen kurzer Zeit in erhebliche Verwirrungen der Gefühle zu stürzen. Zu Beginn der Geschichte ist das Hotel noch weitgehend leer, aber durch den einsetzenden Zuzug von Feriengästen wird es nach zu einer Art von Reagenzglas, in dem Liebe und Begierden oder Aversionen und seelische Ermattung erstaunliche Mischungen eingehen.
    Dubiose Figur als Katalysator
    Das katalytische Element für diese Entwicklung, bedrohlich und souverän in seiner Eigenständigkeit, ist der ca. fünfundzwanzigjährige Allan, der als letzter dieser Feriengäste mit seiner Begleiterin Dolores eintrifft, aber schon durch sein erstes Auftreten das Parallelogramm der Kräfte zwischen den locker befreundeten Protagonisten verschiebt: durch seine Anziehungskraft, durch kühl zur Schau gestellte Eleganz und Intelligenz. Er wird als dubiose Figur angekündigt, als skandalumwittert und unberechenbar – und wird dann diesem Ruf auch voll und ganz gerecht.
    Julien Gracqs Roman, zwischen 1940 und 1942 verfasst, erzählt wie auch Goethe von einem heftigen Beben, das sich vor allem unter der Oberfläche sozialer Konventionen andeutet, ehe es am Ende Ehen und Freundschaften zerreißt, ehe aus einem Kammerspiel unklarer Empfindungen eine wirkliche Tragödie wird, die ein Thema variiert, das Julien Gracq von den Surrealisten entlehnt und fortgeschrieben hat: Die Ermüdung am Leben, den Selbstmord als Perspektive. Aber er schreibt nicht einen einzigen drastischen Satz - "Der Versucher" ist ein großes Drama, dargeboten in leisen Worten, die von verblassten, von der Meeresluft zerfressenen Farben an der Küste und im Hotel erzählen, von Landschaften im Sonnenlicht und im Nebel, von Überdruss und verborgener Leidenschaft – von Stimmungen, die ein Maler in Pastelltönen einfangen müsste. Nur ganz zum Schluss schleichen sich deutlich vergiftete Sätze zwischen den Figuren ein und es werden entschiedenere Aktionen durchgeführt.
    Gracqs Kunst der Beschreibung
    Wer mit dem Werk von Julien Gracq ein wenig vertraut ist, wird in manchen Schilderungen der Natur jene Kunst der Beschreibung wiedererkennen, die den Namen dieses großen französischen Schriftstellers unsterblich gemacht hat. In den vielen Anspielungen auf die Weltliteratur, auf E. A. Poe, auf Rimbaud oder auf Chateaubriand wird vor dem Leser zudem ein Netz von Verweisen ausgespannt, mit denen Gracq zu verstehen gibt, wie er seine Geschichte verstanden wissen will – etwas wenn Schuldfragen unter Hinweis auf Dostojewskis Raskolnikow diskutiert werden oder der Umgang mit gesellschaftlichen Konventionen mit dem Verweis auf Stendhals zynischen Julian Sorel aus "Rot und Schwarz".
    Dieter Hornig hat den Roman nun – nach zwei weiteren Romanen von Julien Gracq, nach Reiseschilderungen und literarischen Essays nun auch diesen Roman - übersetzt, als letzten bedeutenden Teil des erzählerischen Werks. Von dem mythisch-zeitlosen Debut-Roman "Auf Schloß Argol" aus dem Jahr 1939 bis zu dem Hauptwerk "Das Ufer der Syrten", erstmals 1951 erschienen, ist deutschsprachigen Lesern der Kosmos dieses eigenwilligen Außenseiters der französischen Literatur nun fast vollständig erschlossen, die Arbeit eines Mannes, der den Prix Goncourt ablehnte, weil er sich mit der Literatenszene von Paris nicht gemein machen wollte, und der bis zum Rentenalter als Lehrer gearbeitet hat, um niemals vom literarischen Schreiben abhängig zu sein. Wer sich Gracqs Schilderungen überlässt, läuft Gefahr "unmerklich von der Zeit, die man damit verbringt zu leben, in diejenige zu gleiten, die man damit zubringt, das Leben verfließen zu sehen." Aber es verhält sich mit seinen Sätzen wie mit den Wellen an der Küste der Bretagne: sieht man sie von Ferne, machen sie einen milde melancholisch, kommt man ihnen nahe, ziehen sie einem die Füße unter dem Körper weg.
    Julien Gracq, "Der Versucher", Deutsch von Dieter Hornig.
    Droschl-Verlag, Graz 2014, 232 Seiten.