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Gramsci-Roman von Nora Bossong
Porträt eines streitbaren Intellektuellen

Antonio Gramsci gilt nicht nur als Gründungsvater der akademischen Kulturwissenschaften, der kleinwüchsige sardische Kleinbeamtensohn war außerdem Journalist, Politiker und marxistischer Philosoph, der 22 Jahre im Gefängnis saß. Die Berliner Autorin Nora Bossong hat ihm nun einen Roman gewidmet.

Von Hubert Winkels | 03.09.2015
    Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong
    Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Es gibt nicht viele kommunistische Führer des 20. Jahrhunderts, deren persönliches Schicksal man mit großer Empathie erkunden mag, mit Neigung also und Verständnis. Der italienische KPI-Funktionär Antonio Gramsci gehört unbedingt dazu. Er war chronisch krank und wurde nur 46 Jahre alt, von denen er zehn Jahre in diversen Gefängnissen in Mussolinis faschistischem Italien einsaß.
    In der Haft schrieb er auch die Texte, mit denen er posthum zum Klassiker der europäischen Linken wurde, der nicht-dogmatischen, anti-stalinistischen Linken, der 68er, vor allem in den romanischen Ländern, und nicht zuletzt des Eurokommunismus.
    Gründerfigur der akademischen Kulturwissenschaften
    Der kleinwüchsige verwachsene sardische Kleinbeamtensohn Antonio Gramsci hatte einen großen Sinn für die Kultur im weiteren gesellschaftsprägenden Sinn. Er sah sie in einer Art Machtbalance mit den staatlichen Institutionen, als deren Nährboden, als Biotop jeder Form von Herrschaft und Verwaltung. Er prägte den Begriff 'Kulturelle Hegemonie' und meinte damit zunächst das Machtgefüge in bürgerlichen Gesellschaften.
    Man kann ihn in diesem Sinn auch als Gründerfigur der akademischen Kulturwissenschaften und des demokratischen Konzepts der Zivilgesellschaft sehen. Wenn man will. Und von da aus könnte man dann die ungeheure Anstrengung ermessen, mit der der gehandicapte, ständig bespitzelte, brutal unterdrückte linke Kämpfer der Kommunistischen Internationale in seinem konkreten alltäglichen Leben, mit etlichen Liebschaften, mit drei Frauen aus ein und derselben Familie, mit zwei Kindern, und ständigen Ortswechseln zwischen Turin, Moskau, Wien und Rom seine schwierige Zeit durchlebte. Wenn man will.
    Doch Nora Bossong, die junge Schriftstellerin aus Berlin, die zuletzt mit "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" einen Roman über vier Generationen einer deutschen Unternehmerfamilie im 20. Jahrhundert geschrieben hat, will nicht.
    Reduzierung auf das Körperliche
    Sie will das Männlein Gramsci und den Mythos, den kranken Körper und die großen Gefühle, den Taumel und den inneren Kampf und die Agonie. Aber sie will nicht den bedeutenden Gramsci, der die Gesellschaft vor dem Staat, die Kultur vor der zentralisierten Gewalt ansiedelt und als solcher dann kulturgeschichtlich überlebensgroß wurde; erst bei seinen Anhängern, inzwischen 80 Jahre nach seinem Tod auch weit darüber hinaus.
    Warum will sie das nicht? Warum zoomt sie sich mit größter Akribie an einige ausgewählte typische Szenen aus dem Heiligenleben heran und blättert gerade den körperlichen, den im engeren Sinne somatischen Unterbau auf. Das Zerren und Reißen in den Gliedern, die bewegungslähmende Schwermut, den von Scham und Schuld begleiteten Aufschwung Gramscis?
    "Gramsci liegtmit angezogenen Beinen auf dem Strohsack, in dem er das Ungeziefer rascheln hört, er reibt sich über seine Handgelenke, die von den kalten und schweren Handschellen blau angelaufen sind. Tags, beim Hofgang, lernt er einen Lebenslänglichen kennen, der Nietzsche zitiert.
    Er lacht und ist heiter, obwohl er seit 22 Jahren in Haft sitzt, und Gramsci hofft, dass er sich daran festhalten kann - die ersten Tage, Wochen, Monate im neuen Gefängnis, das jetzt sein neues Zuhause ist. Der Lebenslängliche triumphiert ausgelassen über die Regeln des Zuchthauses. So muss man es machen, denkt Gramsci und klemmt sich die Beine zwischen seine Arme, hält sie fest, damit bloß nichts von ihm im Schlaf den Boden berührt."
    Verguckt in den Schwachen
    Warum feiert sie einen maroden Körper in seiner Hinfälligkeit, und springt von dieser poetisch-medizinischen Röntgenaufnahme sogleich in die Sitzung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale in Moskau oder zu Gramscis Parlamentsrede gegen Mussolini? Sie verguckt sich in den schwachen, sie würdigt den politisch handelnden Gramsci. Doch warum enthält sie uns gerade jenen Intellektuellen Gramsci vor, der seinem Körper entkam ins Freie und Erhabene des Denkens, und der damit eine zweiten Körper schuf, in dem er sich selbst aufhob und seiner Nachwelt vermachte?
    Nora Bossong ist klug, wohl informiert, sie hat eine starke Einbildungskraft und eine dichte und souveräne Beschreibungsgabe, die noch in die entlegensten Winkel der Absichten und Verstellungen der Figuren vordringt, und sie zieht in die Gramsci-Welt eine weitere Ebene ein, fokussiert im Göttinger Uni-Milieu von heute, die man, in Ibsens und Strindbergs Namen: verzerrte bürgerliche Authentizität nennen könnte. Anton Stöver heißt ihr übler, auch übel karikierter Vertreter. Bossong geriert sich mit dem Roman als Revisionistin im Wortsinn. Sie nimmt das Selbstbild ihrer Akteure zurück in einen unmittelbaren Kontext frecher Selbstbehauptung und unabwendbarer Niederlage.
    Gramsci sehen wir so gut wie nur leidend, in Kliniken, im Gefängnis, im Selbststudien der Pein und der Verzweiflung. Und um diese Gramsci-Welt zu konterkarieren, beziehungsweise sich auflösen zu lassen in böse Beziehungskomik, erzählt sie die zweite Geschichte, von einem anderen Anton und seiner exkommunistischen, jetzt komplett verbürgerlichten Hedda aus Südniedersachsen, die als mittelalterliches Ehepaar von heute einen Beziehungskrieg ausfechten. Anton ist ein akademischer Versager mit Gramsci-Interessen, heißt wie dieser, ist fast so klein wie dieser, hat es mit den Frauen wie dieser und ist ansonsten ein selbstsüchtiger Angeber - wie Gramsci nun gerade keiner war.
    Eine ungute Verzerrung
    Im Gegenteil. Hier wird die Spiegelung der Gramsci-Welt in der gegenwärtigen Beziehungs-Chaos-Welt zur Farce. Nicht nur in dem annehmbaren Sinn, wie sich nach Marx alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, sondern im Sinne einer unguten Verzerrung, denn es führt kein erhellender Weg von Antonio Gramsci zu Anton Stöver. Da hilft es auch nicht, dass Nora Bossong den Göttinger Aktentaschen-Casanova nach Rom schickt, um dort einen bekannten Gramsci-Forscher zu treffen, um mit diesem das verschwunden Gefängnisheft 34 zu suchen.
    Von nun an springen die Szenen zwischen den 20er- und 30er-Jahren und unserer Gegenwart hin und her. Und damit der schlumpfige Hallodri Anton eine gewisse Tiefe bekommt, um nicht gleich weggepustet zu werden von der schweren Würde der Gramsci-Erzählung, lässt Nora Bossong ihn Visionen haben - noch eine andere Art von Revisionismus -, und zeigt ihm eine hellbraunhaarige Schönheit namens Tatjana, die seine Einbildungskraft bewegt hat.
    "Julia Schucht, das musste ich zugeben, hatte Gramsci immer wieder geantwortet, sie hatten sich intime Briefe geschrieben, die über die unergründlichen Wege der italienischen Post und den revolutionären Kurs russischer Postflugzeuge von der einen zum anderen gelangt waren, sie hatten sich versichert, dass sie aneinander dachten, dass sie sich wiedersehen würden, ein Wiedersehen, das wegen eines Generalstreiks, einer heimlichen Versammlung, eines neuerlichen Schlags der Faschisten immer wieder verschoben wurde, und wie dumm war ich gewesen, dachte ich nun, da ich an der Via Marmorata stand und wartete, wie ich immer gewartet hatte, in den entscheidenden Momenten hatte ich irgendwo gestanden und die Zeit verstreichen lassen, wie naiv war ich, mir einzubilden, dass es Tatjana für mich gab, wie es Julia Schucht für Gramsci gegeben hatte."
    Schlumpf bleibt Schlumpf
    Doch dieser zweite Strang des Romans ist nicht zu retten, auch nicht, wenn man sich vor Augen führt, wie nah Bossong auch hier an Körperzuständen, an körperlich-psychologischen Komplexen entlang arbeitet. Schlumpf bleibt Schlumpf, da helfen auch keine pittura-metaphysica-Visionen im hitzeflirrenden Rom, die durch den beachtlich Nahwelt-Realismus in Bossongs Romanwelt wie ferne Fesselballone treiben.
    Nein, diese Gramsci-Geschichte ist hier wie da nicht über den Körper und die physische Konkretheit zu entwickeln. Wie sehr Nora Bossong genau das will, zeigt schon der Titel ihres Romans, der Gramscis dauernd gemessene Körpertemperatur anzeigt. Das Privateste und das Intime bilden nicht, wie Nora Bossong offenbar annimmt, den fehlenden Teil des bekannten Bildes. Sie sind nicht das ewig Unterschlagene, das die Geschichte heimlich anders codiert.
    Eine überkonkrete Einfühlung
    Wir wussten, dass der kleine Antonio Gramsci in einem Korsett zu Hause in der belebten sardischen Wohnstube an einen Balken gehängt wurde, damit sich die beiden Buckel auswüchsen. Es ist eine Wahnsinnsgeschichte, wie der kleine Antonio der große Gramsci wurde, den wir kennen, den manche verehren. Sie ist unerhört und von Nora Bossong trotz aller Einfühlung, nein: Wegen der überkonkreten Einfühlung zu behauptend erzählt, weil sie glaubt, in der eben nicht mehr nur kruden Körperlichkeit das Wesentliche gefasst zu haben, weil sie in ihrer historischen Meta-Erzählung eben jenes 34. Gefängnisheft Gramsci aufgeblättert zu haben glaubt, das es auch in anderer Gestalt wahrscheinlich gar nicht gibt.
    Wenn man nach einem Vorbild für diese Erzählweise sucht, wird man bald auf eine kulturhistorisch äußert erfolgreiche Gattung stoßen, die man heute nur noch camoufliert antrifft: die Märtyrererlegende. Wie in dieser, ist auch in Nora Bossongs Roman "36,9°" der Weg von den Wunden zur Wirkung, vom Schmerz zum Heil sehr kurz. Er blendet weitgehend aus, was Arbeit und Lektüre, philosophische Einsicht, politische Reflexion und selbstlose politische Klugheit bedeuten.
    Gramsci hat sich als soziales Wesen und als Intellektuellen in hohem Maße selbst gemacht, doch Nora Bossong macht ihn wieder zu einem Ausgesetzten und Getriebenen. Man kann das tun, muss aber damit rechnen, dass 'Gramsci' ein kulturelles Eigenleben führt, das sich gegen die Behandlung wehrt.
    Gramsci war einer der wenigen Marxisten, die so etwas denken konnten, für den es ein tragender Gedanke war. Die Bedeutung kultureller Zeichen und ihrer Vermittler, die Intellektuellen, ist für ihn entscheidend. In seinen Gefängnisheften steht dies. Und damit wesentlich auch er.
    Nora Bossong: "36,9°"
    Roman, Hanser Verlag, München
    317 S., 19,90 Euro