Freitag, 19. April 2024

Archiv


Grandioses Scheitern einer sufistischen Liebe

Es beginnt für Pamuks Protagonisten zaghaft, mit einem Begehren der 18-jährigen Cousine zweiten Grades. Wegen seiner pflichtgemäßer Verlobung mit einer Anderen, verlässt ihn die Geliebte. Aus Begierde wird fortan Obsession, Verfolgung, Leiden - bis zum betörend-provokativen "grandiosen Scheitern", resümiert Gisa Funck.

Vorgestellt von Gisa Funck | 05.10.2008
    Der Konflikt zwischen bürgerlicher Liebesmoral und erotischer Leidenschaft ist seit der Empfindsamkeit ein zentrales Thema der Literaturgeschichte und hat schon so manchen Romanhelden in den Wahnsinn gestürzt. Goethes Werther, Flauberts Emma Bovary und Tolstois Anna Karenina begingen, da sie diesen Zwiespalt nicht überwinden konnten, Selbstmord. Andere berühmte Liebeshelden wie etwa Stendahls erotischer Karrierist Julien Sorel aus "Rot und Schwarz" oder Nabokovs pädophil-veranlagter Lolita-Liebhaber Humbert Humbert schreckten selbst vor Mord nicht zurück, um ihre geheimen Sehnsüchte leben zu können. Und so sind es keineswegs die sympathischen, friedfertigen und glücklichen Verliebten, die in der Literaturgeschichte die Hauptrolle spielen. Sondern - ganz im Gegenteil - die Obsessiv-, Verzweifelt- und nicht selten für die Allgemeinheit Gefährlich-Liebenden. In letztere Kategorie muss man nun auch Kemal Basmaci einordnen, den Haupthelden und Ich-Erzähler von Orhan Pamuks neuem Roman "Das Museum der Unschuld".

    Dabei scheint Kemals gutbürgerliche Zukunft eigentlich klar vorgezeichnet zu sein. Der gebürtige Türke ist dreißig Jahre alt. Hat in den USA studiert. Und leitet - zurückgekehrt in seine Heimatstadt Istanbul - als designierter Nachfolger die Textilfirma seines Vaters. Privat steht Kemal außerdem kurz vor der Verlobung mit Sibel: einer gleichaltrigen Diplomatentochter, die ihre Ausbildung in Paris absolviert hat und wie er zur Oberschicht Istanbuls der 70-er Jahre gehört. Kurzum: alles scheint für Kemal auf eine High-Society-Karriere hinauszulaufen. Würde er nicht eines Mittags zufällig der achtzehnjährigen Boutique-Verkäuferin Füsun begegnen:

    Als ich gegen halb eins die Boutique Champs Elysee betrat, (...) wirkte das Ladeninnere angenehm dunkel und kühl. Erst dachte ich schon, es sei niemand da. Dann sah ich Füsun. Während meine Augen sich noch an das Halbdunkel gewöhnen mussten, schwoll mir das Herz schon bis zum Mund an wie eine riesige, auf den Strand zurollende Welle. "Ich hätte gern die Tasche da an der Schaufensterpuppe," sagte ich und dachte: Ein ausgesprochen hübsches Mädchen, sehr attraktiv. Erst als sie mir gegenüberstand, erkannte ich sie. Ich sah (...) auf ihre langen, schönen Beine. (...) Sie holte die Tasche, ging damit hinter den Ladentisch und öffnete mit ihren langgliedrigen, geschickten Fingern den Verschluss, zeigte mir geheimnistuerisch und übertrieben ernst das Tascheninnere. (...) "Hallo Füsun", meinte ich. "Du bist ganz schön groß geworden. Du hast mich wohl nicht erkannt."
    "Doch, Kemal, ich habe Sie sofort erkannt, aber da Sie nichts gesagt haben, wollte ich nicht aufdringlich sein."
    Wir stockten. Ich sah auf die Stelle der Tasche, auf die sie gerade gedeutet hatte. War es die Schönheit des Mädchens, war es ihr kurzer Rock oder irgendetwas anderes, jedenfalls gelang es mir nicht, mich natürlich zu verhalten.


    Das erste Treffen zwischen dem dreißigjährigen Fabrikantensohn Kemal und der achtzehnjährigen Verkäuferin Füsun ist in Pamuks Roman bereits dermaßen mit erotischer Symbolik aufgeladen, dass man als Leser natürlich sofort ahnt, dass diese Zufallsbegegnung zur Schicksalswende werden wird. Nicht ohne Grund schildert Pamuk die Boutique, in der Füsun arbeitet, wie eine halbdunkle Höhle, in die Kemal zaghaft, fast ängstlich eindringt. Fast so, als wüsste er schon unbewusst, dass er sich damit auf gefährliches Terrain begibt.

    Füsun hingegen, die für Kemal nicht nur aus Alters- und Statusgründen eine unmögliche Partie darstellt, sondern auch deshalb, weil sie eine entfernte Verwandte von ihm ist, scheint die Situation durchaus zu genießen. Zumindest bewegt sie sich in der Szene auffallend langsam, lasziv. Hantiert geheimnisvoll mit jener Tasche herum, die Kemal kaufen möchte. Und versteht es als ehemalige Teilnehmerin von Schönheitswettbewerben, ihre Reize zur Geltung zu bringen.

    Der Einkauf wird zur Verführungsszene, die in Pamuks Ich-Erzähler eine ähnlich obsessive Leidenschaft erweckt, wie man sie auch schon von Flauberts Emma Bovary oder Tolstois Anna Karenina her kennt.

    Von daher mag Kemal sich hinterher auch noch so oft einreden, dass er das Ladenmädchen möglichst schnell wieder vergessen sollte. Seine Sehnsucht nach der unbekannten Cousine zweiten Grades nimmt doch schon bald jene fieberhaften Züge an, die sich in einen regelrechten Liebeswahn steigern. Unter einem Vorwand lockt Kemal Füsun wenig später in ein unbewohntes Apartment. Drängt sie zum ersten Kuss und zur ersten Umarmung. Und beginnt eine Affäre mit ihr, obwohl er eigentlich fest entschlossen ist, Sibel zu heiraten.

    Das klassische Dilemma zwischen Herz und Kopf, zwischen Begehren und Vernunft, zwischen individuellem Glücksanspruch und allgemein-gesellschaftlicher Konvention, dessen Dynamik Pamuks Liebesheld - wie schon so viele seiner literarischen Vorgänger - zunächst völlig unterschätzt. Leichtfertig beruhigt Kemal sein Gewissen damit, dass ja auch schon sein Vater jahrelang neben der Mutter eine Geliebte hatte, der er sogar eine eigene Wohnung einrichtete: eine, in patriarchalisch-islamischen Ländern gängige Praxis des institutionalisierten Seitensprungs, der Männern - im Gegensatz zu Frauen - meistens stillschweigend zugestanden wird.

    Ähnlich wie schon Flaubert und Tolstoi nutzt auch Pamuk in Das Museum der Unschuld eine unglückliche Liebesgeschichte, um soziale Verhältnisse auszuleuchten. Und hierbei nimmt er besonders die sexuelle Doppelmoral der feineren Kreise Istanbuls aufs Korn, die von Frauen immer noch verlangt, jungfräulich in die Ehe zu gehen, während für Männer sogar der regelmäßige Bordellbesuch keinen Heiratsmakel darstellt. Oder, wie Kemal erläutert:

    Ich möchte noch einmal auf ein Thema zu sprechen kommen, das in gewisser Weise das Fundament meiner Geschichte bildet. (...) 1975 Sonnenjahre nach Christi Geburt war in einem Großraum, der den Balkan, den Nahen Osten und den Südwesten des Mittelmeerraums umfasst und in dessen Zentrum Istanbul liegt, die Jungfräulichkeit eins Mädchens noch immer ein wertvolles Gut, das es bis zur Hochzeit zu bewahren galt. (...) Selbst in den fortschrittlichsten und wohlhabendsten Kreisen Istanbuls hatte es damals eine ganz bestimmte Bedeutung, wenn es zwischen einem Mädchen und einem jungen Mann schon vor der Ehe "zum Letzten" kam. Und am harmlosesten war es noch, wenn die jungen Leute - wie im Fall von Sibel und mir - ohnehin schon beschlossen hatten, die Ehe einzugehen. (...) Wenn der Mann sich aber vor der Heirat drücken wollte und das Mädchen noch keine Achtzehn war, ging der Vater manchmal vor Gericht, um eine Ehe mit dem dreisten Kerl einzuklagen. (...) Und da es als nahezu unvorstellbar galt, dass ein jungfräuliches Mädchen im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sich einem Mann hingab, der keineswegs vorhatte, es zu ehelichen, war man allgemein der Ansicht, wem so etwas passierte, der könne nicht ganz richtig im Kopf sein.

    Wie schon in seinen Vorgängerromanen Schnee und Istanbul porträtiert Orhan Pamuk auch in Das Museum der Unschuld eine türkische Gesellschaft, die in ihrem Innersten zerrissen ist zwischen modern-westlicher Freiheitsideologie und der alten, islamisch-patriarchalischen Werteordnung. Von daher geben sich zwar vor allem die jungen Leute der Istanbuler Oberschicht alle Mühe, dem amerikanischen Lifestyle individueller Selbstverwirklichung nachzueifern, indem sie sich sexy kleiden. Auf Partys amüsieren. Und gern darüber tratschen, wer wohl gerade mit wem ins Bett geht. Doch hinter der Fassade der konsumistischen Spaßkultur und scheinbaren Lockerheit regiert immer noch eine strenge Anstandsmoral: man kennt die einschlägige Boulevardberichterstattung über "gefallene" türkische Töchter oder so genannte "Ehrenmorde" bis heute auch in Deutschland.

    Wie die meisten seiner Freunde wirkt insofern auch Kemal zunächst wie ein westlich sozialisierter, junger und fortschrittlicher Mann. Dafür spricht schon sein populärer Vorname, der an den türkischen Staatsgründer Kemal Atatürk erinnert: den großen Modernisierer und Verwestlicher des einstigen Osmanischen Reiches. Bis Kemal durch seine Liebe zu Füsun in einen Konflikt gerät, der ihn unwillkürlich auf seine kulturellen Wurzeln zurückstößt.

    Denn so brennend er sich auch in das achtzehnjährige Mädchen verliebt, so stark fühlt er sich gleichzeitig der Familienehre verpflichtet. Aus diesem Grund sieht Kemal sich nicht in der Lage, die Verlobung mit Sibel einfach aufzulösen. Denn das würde für seine Eltern eine gesellschaftliche Blamage bedeuten. So kommt es zur pompösen Verlobungsfeier im Hilton-Hotel, zu der auch Honoratioren der Stadt erscheinen, wie etwa der türkische Außenminister. Den entscheidenden Fehler aber begeht der liebeskranke Kemal damit, dass er sich nicht verkneifen kann, seine heimliche Geliebte und deren Mutter einzuladen. Denn dadurch gewinnt die Liebeskonkurrenz der beiden Frauen, die bisher zwischen Kemal und Füsun nur eine rein gedankliche Größe war, auf fatale Weise reale Gestalt.
    Füsun sieht nun mit eigenen Augen, dass nicht sie, sondern Sibel die Frau der Wahl für Kemal ist. Und diese Erfahrung ist für sie so kränkend, dass sie sofort nach der Feier die Flucht antritt - und spurlos verschwindet.
    Ein Jahr lang sucht der verzweifelte Kemal erfolglos nach seiner verschollenen Geliebten. Und er wird darüber so melancholisch, dass er sich von Sibel trennt. Bevor er Füsun endlich wieder findet: inzwischen allerdings mit einem anderen Mann, dem mäßig erfolgreichen Drehbuchautor Feridun, verheiratet.

    Im klassischen, europäischen Roman würde diese Wendung den tragischen Untergang des Liebeshelden besiegeln, dem nach dem endgültigen Verlust seiner Herzensliebe in der Regel nur der Selbstmord als Ausweg bleibt, um seine Würde zu wahren. Pamuks Held Kemal hingegen findet eine völlig andere Lösung für seine Liebes-Schmach, indem er seine Gefühle für Füsun ins Religiöse überhöht. Und aus der verlorenen Geliebten kurzerhand eine Heilige macht. Acht Jahre lang pilgert Kemal dazu büßergleich zu Füsuns Elternhaus, um die Verheiratete beim Abendessen platonisch anzuhimmeln.

    Und alle Gegenstände, die Füsun berührt, werden für Kemal nun auf einmal zu Reliquien, die er akribisch sammelt: vom Taschentuch über die Mokkatasse bis hin zur profanen Zigarettenkippe:

    Ich begriff schon ganz zu Anfang, dass ich zu Füsuns Familie der Keskins ging, um mir genügend Glück für den Rest meines Lebens zu holen, und so nahm ich aus dem Haus immer wieder kleine, von Füsun berührte Gegenstände an mich, um diese glücklichen Augenblicke zu bewahren. (...) In meinen acht Jahren bei den Keskins habe ich insgesamt 4213 Zigarettenkippen Füsuns gesammelt. Diese Kippen, deren Enden Füsuns Lippen berührt hatten, in ihren Mund gedrungen waren, von ihrer Zunge angefeuchtet und meist von ihrem Lippenstift herrlich rote Spuren trugen, stellten für mich - wie leicht vorzustellen ist - ganz besonders intime Gegenstände dar, von denen jeder mich an einen traurigen oder schönen Moment erinnerte.

    Wie für den Proust'schen Helden auf der Suche nach der verlorenen Zeit seiner Kindheit besitzen auch für Kemal bestimmte Gebrauchsgegenstände Identitäts-Stiftende Kraft, weil in ihnen die Erinnerung an vergangenes Glück aufgespeichert ist. Bei Pamuk aber gewinnt dieser Erinnerungskult durch die Sammelleidenschaft seines Helden eine spirituelle Dimension. Je wichtiger die Besuche bei Füsun für Kemal werden, desto mehr zieht er sich aus dem oberflächlichen Society-Leben zurück. Seine Abendessen bei der Familie Keskin haben etwas von einem Minnedienst an sich. Von einer Pilgerschaft, die keine diesseitige, erotische Belohnung mehr erwartet, sondern schon im zeichenhaften So-Sein der Welt ihre Erfüllung findet.

    Selbst weggeworfene Zigarettenkippen Füsuns, die normalerweise wertloser Abfall sind, bekommen für Kemal jetzt plötzlich eine quasi-sakramentale und somit Heilspendende Bedeutung. Und man fühlt sich hier unwillkürlich an die Kleine Sakramentenlehre des Befreiungstheologen Leonardo Boff erinnert, der einmal über die letzte, gerauchte Zigarette seines verstorbenen Vaters schrieb, deren Stumpen Boff zeitlebens in einem Briefumschlag aufbewahrte:

    Dieser Zigarettenstummel ist für mich kein einfacher Zigarettenstummel mehr. Er wurde zu einem Sakrament, lebt, spricht vom Leben und begleitet mein Leben. Deshalb ist er von unschätzbarem Wert und trifft mein Innerstes.

    Doch nicht nur die katholische, auch die islamische Theologie kennt mit dem Sufismus einen sinnlichen Zugang zum Göttlichen, den Pamuk selbst in Interviews als eine seiner Haupt-Inspirationsquellen benennt. Im Sufismus bilden die Gottesliebe und die schwärmerische Liebe für einen bestimmten Menschen keinen grundsätzlichen Widerspruch. Und vor allem in der ebenso bedingungslosen wie leidenschaftlichen Liebe zu einer Frau drückt sich für Sufisten die Anwesenheit Gottes aus. Man kann Kemals Überhöhung Füsuns demnach als eine spezifisch sufistische oder doch zumindest: orientalische Form der Frauen-Anbetung verstehen, die er nach dem Tod der Geliebten ironischerweise durch eine spezifisch westliche Erfindung steigert, indem er alle gesammelten Symbolgegenstände seiner Liebe in einem eigene eingerichteten "Museum der Unschuld" ausstellt.

    Dazu kauft Kemal nach Füsuns Beerdigung deren Elternhaus. Doch will er mit seinem Museum mehr als nur ein Denkmal für seine unverbrüchliche Liebe erschaffen. Kemal möchte darüber hinaus auch einen weit reichenden kathartischen Effekt bei seinen Besuchern auslösen, die - angerührt von seiner privaten Geschichte - mit ihrer eigenen Heimatgeschichte versöhnt werden sollen:

    Jawohl, um Stolz geht es hier nämlich. Mit meinem Museum will ich nicht nur dem türkischen Volk, sondern allen Völkern der Erde beibringen, auf ihr Leben stolz zu sein. Ich bin viel herumgekommen und habe gesehen, dass die Leute im Westen oft stolz auf sich sind, während der Großteil der Menschheit sich irgendwie schämt. Wenn die Dinge, wegen der wir uns schämen, in einem Museum ausgestellt sind, werden sie sogleich zu etwas, worauf man stolz sein kann.

    Die radikale Reform der türkischen Gesellschaft in einen säkularen, modernen Staat nach westlichem Vorbild, das ist ein wiederkehrender Befund in Pamuks Werk, brachte nicht nur Vorteile, sondern hatte auch ihren hohen Preis: nämlich den Preis des drohenden Kultur- und Identitätsverlusts. Kemals Gründung eines "Museums der Unschuld" im neuen Roman ist insofern mehr als nur privater Liebesdienst. Es ist auch der öffentliche Aufruf, sich neu auf die eigene Kultur zurück zu besinnen - so zweifelhaft, schuldbeladen oder lächerlich rückständig die auch immer sein mag.

    Der Brückenschlag zwischen Moderne und Tradition: das ist hintergründig das ehrgeizige Ziel des Liebesjüngers Kemal, dem man - trotz einer zur Identifikation verführenden Ich-Perspektive - allerdings nicht zu sehr auf den Leim gehen sollte. Denn so hehr seine Absichten, so fanatisch verfolgt Kemal sie.

    Pamuks Roman von daher vorschnell als "Fest der Liebe" oder als "Sermon des bedingungslosen Glücks" zu deuten, wie deutsche Kritiker es getan haben, trifft nur die halbe, nämlich Kemals Wahrheit, die unterschlägt, dass seine Mission durchaus auch Schattenseiten hat. So schreckt Pamuks Protagonist etwa nicht davor zurück, den Lebenstraum seiner Geliebten erfolgreich zu sabotieren, die eigentlich Filmschauspielerin werden möchte.

    Weil Kemal die Vorstellung nicht erträgt, dass Füsun als Kinoheldin andere Männer küssen könnte, besticht er ihren Ehemann Feridun mit Geld, damit dieser alle Rollenangebote von vorneherein ablehnt. Das Ideal der großen Liebe verlangt für ihn strikte Exklusivität, für die er notfalls das Unglück - ja, vielleicht sogar den Tod der Geliebten in Kauf nimmt. Zumindest kann man Kemal nicht ganz von einer Mitschuld an Füsuns tödlichem Autounfall freisprechen, die bezeichnenderweise dann frontal gegen einen Baum fährt, nachdem sie sich bei Kemal bitter über ihre verpasste Filmkarriere beklagt hat. Ein Selbstmord aus Lebensenttäuschung?

    Pamuk lässt diese Frage offen. Doch es gehört zur Stärke seines Romans, dass er die negativen Aspekte von Kemals Liebeskult nicht ausblendet, ohne ihm dadurch jedoch seine tragische Größe zu nehmen. Das verdankt sich nicht zuletzt auch einem erzähltechnischen Kniff, wonach der Autor schließlich sogar selbst im Text auftaucht: angeblich von Kemal beauftragt, einen Katalog für dessen Museum der Unschuld zu schreiben:

    So kam ich dazu, Orhan Pamuk anzurufen, der schließlich dieses Buch - von mir autorisiert - in der Ich-Form verfasst hat. (...) Beim ersten Treffen erzählte ich ihm drei Stunden lang die ganze Geschichte, aber so, wie sie mir in den Sinn kam, ziemlich durcheinander also. (...) Danach begannen wir regelmäßig zusammenzuarbeiten (...) Es gefiel und schmeichelte mir, dass mir Orhan Pamuk immer sehr aufmerksam zuhörte und sich Notizen machte. "Schreiben Sie den Roman endlich fertig, damit die Leute mit dem Buch in der Hand ins Museum kommen", sagte ich ihm. (...) "Ich werde den Roman in der ersten Person schreiben", meinte er.
    "Wie bitte?"
    "Sie werden in dem Buch ihre Geschichte in Ich-Form erzählen, Kemal", fuhr Pamuk fort, "und deshalb versuche ich mich schon eine Weile an ihre Stelle zu versetzen und Sie zu werden."
    "Haben Sie denn auch schon einmal so eine Liebe erlebt?"
    "Äh, um mich geht es hierbei nicht," beschied er mir kurz.


    Der Auftritt des Autors als Figur im Roman schafft Distanz zum Erzählten und bricht den heroischen Gestus des Ich-Erzählers Kemal ironisch. An solchen Stellen wird die Stimme der bürgerlichen Norm hörbar, für die Kemals Geschichte nur eine wahnhafte Abweichung darstellen kann. Seine Geschäftskarriere hinzuschmeißen, nur um sein Leben der Anbetung einer verstorbenen Geliebten zu widmen, ist vor allen nach westlich-kapitalistischen Maßstäben pure Idiotie Und damit exakt das Gegenteil einer Erfolgsbiografie. Doch genau darin liegt das Betörend-Provokative und Großartige von Pamuks Romans, dass er ein nach gängiger Konvention grandioses Scheitern radikal umwertet. Und damit letztlich auch vom Versprechen der Literatur als solcher erzählt. Von jenem Don-Quichotte-Versprechen nämlich, wonach selbst ein Kampf gegen Windmühlen noch zur glorreichen Schlacht werden kann - und aus dem größten Unglück ein großes Glück, sofern man es nur poetisch genug betrachtet.

    Orhan Pamuk: "Das Museum der Unschuld". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2008, 576 Seiten, 24.90 Euro.