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Graphic Novel
Die Geschichte einer Entführung

Der Entwicklungshelfer Christophe André war monatelang in der Hand tschetschenischer Separatisten. Die Geschichte seiner Entführung erzählt der kanadische Comic-Autor Guy Delisle nun in einer Graphic Novel. Es ist eine Geschichte von Einsamkeit, Angst und Willensstärke.

Von Silke Ballweg | 03.07.2017
    Porträt des kanadischen Comiczeichners Guy Delisle.
    Der Kanadier Guy Delisle gehört zu den wichtigsten und erfolgreichsten Comiczeichnern der Gegenwart. (Verlag Reprodukt / picture alliance / dpa / Mikko Stig)
    Es macht Bamm, Bamm, Bamm an der Tür, von draußen ruft jemand "Milicia". Und schon dringen mehrere dunkle Gestalten ins Zimmer ein. In seiner Graphic Novel "Geisel" benötigt der kanadische Comicautor Guy Delisle nur dreizehn Bilder, um den nächtlichen Überfall auf seinen Protagonisten Christophe André zu erzählen. Schnell, dynamisch und überraschend, so, wie sich ein Überfall wohl auch in der Realität abspielt.
    Kaum sind die Männer im Raum, da zerren sie den Franzosen schon aus den Kissen und führen ihn hinaus. Zurück bleibt nur das leere, zerwühlte Bett, das noch den Geruch und die Wärme von Andrés Körper zu verströmen scheint.
    Ein Überfall in 13 Bildern
    Der 1966 geborene Autor Guy Delisle hat bereits mehrere Comicreportagen aus fremden Ländern vorgelegt. Über das Leben in der damaligen Militärdiktatur Myanmar, über eine Reise in das abgeriegelte Nordkorea, über die chinesische Stadt Shenzhen. Darin erzählte er auf mitunter amüsante Weise vom teils bizarren Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen. Ihn interessierte aber auch:
    "Wie leben die Menschen in Nordkorea oder Myanmar, denn sie haben nur wenig Entscheidungsfreiheit und dürfen zum Beispiel auch nicht reisen. Insofern hat mich das Thema Freiheit schon immer interessiert. Und jetzt, bei 'Geisel', geht es ganz intensiv darum, dass eine Person ihre gesamte Freiheit verliert."
    Der kanadische Comiczeichner Guy Delisle.
    Der kanadische Comiczeichner Guy Delisle. (Olivier Roller / Fedephoto)
    Delisle zeigt, wie sich eine Geiselhaft anfühlen kann. Dafür hat er sich die persönlichen Erlebnisse von Christophe André erzählen lassen, einem Mitarbeiter der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". André wurde 1997 in der Stadt Nasran in Inguschetien von tschetschenischen Separatisten verschleppt und war 111 Tage in der Hand seiner Entführer - eine Zeit intensiver Erfahrungen. Andrés Denken und Fühlen waren von Einsamkeit und Stress beherrscht – und von der Angst, verrückt zu werden. Von der Flucht in Phantasiewelten, von Willenskraft und Stärke, von Gedanken an Ausbruch und der Sehnsucht nach dem alten, ganz normalen Leben.
    Drei der vier Monate war André in einem fast leeren Zimmer in einer Wohnung in Grosny eingesperrt. Auf dem Boden nur eine Matratze, daneben ein Heizkörper. An diesen Heizkörper war Andrés linke Hand die ganze Zeit über mit Handschellen gekettet.
    Illustrierter Tatsachenbericht
    Viele Illustrationen in dem Comic sind fast gänzlich leer, so leer wie der Raum, in dem André die Zeit absitzen muss. So leer wie das untätige Leben, das ihm aufgezwungen ist. Immer und immer wieder zeichnet Delisle, wie André mit der Hand am Heizkörper auf der Matratze sitzt. Er zeigt das bisschen Wirklichkeit, das André während der Haft zu sehen bekommt. Die kahlen Wände seines Zimmers. Seine Füße. Die nackte, an einem kurzen Kabel baumelnde Glühbirne.
    Aufregend wird es, wenn er sich fotografieren lassen muss, weil seine Entführer Lösegeld für ihn erpressen wollen. Und wenn er mit seinem Arbeitgeber telefonieren darf, damit der ein Lebenszeichen von dem Entführten hat.
    "André war nicht gelangweilt, sondern er stand unter Strom, er war voller Adrenalin. Er wollte immer wach sein und gewappnet für den Moment, in dem etwas passieren könnte. Dafür hat er auch seine Gedanken gefiltert und sich sehr bewusst gemacht, worüber er nachdenken wird, um seine mentale Stärke nicht zu verlieren."
    Man kann sich dem Sog der Geschichte kaum entziehen, es ist eine Reportage wie ein guter Krimi, mit einer dramatischen Wendung am Schluss. Denn eines Tages sind die Entführer unachtsam, nach dem Essen ketten sie ihn nicht wieder an den Heizkörper. Auch die Tür zu seinem Raum lassen sie offen. Doch statt sofort zu fliehen, hält André inne und überlegt. Als Ausländer könnte er draußen auf der Straße Aufmerksamkeit erregen, das könnte gefährlich werden. Deswegen beschließt er, die gut zwei Stunden bis zur Dunkelheit abzuwarten. Eine logische, wenngleich verrückte Idee. Sie beschert ihm dann auch eine quälende Zeit.
    "Er überlegt, bisher hat man mich nicht geschlagen, bedroht oder verletzt. Aber wenn sie mich auf der Flucht erwischen, dann erschießen sie mich vielleicht. Gehe ich also? Oder lass ich die Tür lieber zu?"
    Die Möglichkeit zur Flucht
    Angst, Euphorie, Panik und Überlegenheitsgefühle wechseln sich ab. Dann trifft André seine Entscheidung:
    "Er sagt, er hätte sich später wohl nie verziehen, wenn er die Tür nicht aufgemacht hätte. Deswegen hat er es am Schluss gemacht, obwohl es ihn viel Überwindung gekostet hat. Aber hey, es hat funktioniert."
    Andrés Geiselhaft ist zwanzig Jahre her. Und doch hat das Thema nichts an Aktualität verloren, denn vor allem in Krisenregionen werden Menschen entführt. Den meisten Opfern fällt es hinterher schwer, über diese Zeit zu sprechen, sie erleben die Geiselhaft als traumatische Erfahrung. Insofern ist es spannend, dass Delisle mit "Geisel" zeigt, wie Christophe André seine Inhaftierung erlebt und bewältigt hat. Dabei zeugt die Graphic Novel auch von der Ausdauer, der Willenskraft und der Flexibilität des menschlichen Geistes, der auch im Ausnahmezustand stark und fokussiert bleiben kann.
    Guy Delisle: "Geisel"
    Verlag Reprodukt, 432 Seiten, 29.90 Euro.