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Graphic Novel über Alan Turing
Berufliche Jahrhundertleistungen und private Tragödien

Der 1912 in London geborene Mathematiker Alan Turing gilt als einer der einflussreichsten Theoretiker der Computerentwicklung. Ein genialer Mann, der das Pech hatte als Homosexueller in der falschen Zeit zu leben. Der Comiczeichner Robert Deutsch hat ihm eine Graphic Novel gewidmet.

Von Tabea Soergel | 02.01.2018
    Das Alan-Turing-Denkmal in Manchester.
    Alan Turing gilt als einer der bedeutendsten Begründer der Computer- und Informationstechnologie. (dpa / Jochen Viehoff / Heinz Nixdorf MuseumsForum )
    Die Graphic Novel beginnt mit dem Tod der Hauptfigur im Juni 1954. In einer Folge stummer Panels nähert sich Alan Turings Haushälterin seinem Backsteinhaus im englischen Wilmslow. Als sie es betritt, verschiebt sich die Perspektive, und man betrachtet von oben, wie sie sich auf der Suche nach ihrem Arbeitgeber durch die Zimmer bewegt. Zwischengeschaltet sind Ansichten von Walt Disneys Schneewittchen, das im Vorgarten des Anwesens Geige spielt. Der letzte Frame zeigt Turings Schlafzimmer aus großer Höhe. Das Bett, in dem der Tote liegt, ist von turmhohen Wänden umgeben.
    "Das ist nicht mehr mein Körper"
    Robert Deutsch erzählt episodenhaft von den vier letzten Lebensjahren Alan Turings, einer Zeit, die zwischen beruflichen Jahrhundertleistungen und privaten Tragödien zerrissen war. Turing wurde wegen seiner Homosexualität verfolgt, die er nicht verhehlte, und musste sich einer qualvollen chemischen Kastration unterziehen.
    "Meine Libido ist vollends vernichtet worden. Depressionen gehören zu meinem Alltag. Alles wegen einer chemischen Zusammensetzung in Form einer Pille. Ich kann mich nicht mal mehr im Spiegel betrachten, ohne dass ich Angst bekomme. Das ist nicht mehr mein Körper."
    Forschung und Biografie
    "Turing" schildert einerseits in plastischer Bildsprache Alan Turings Forschung auf hochabstrakten Gebieten wie der Künstlichen Intelligenz oder der Morphogenese, andererseits die leidenschaftliche, verhängnisvolle Affäre mit einem Gelegenheitsdieb, die schließlich zu seiner Verurteilung führt.
    In diese Erzählebenen eingebettet sind biografische Schlüsselereignisse in Form von Rückblenden, etwa die Begegnung mit seiner Jugendliebe Christopher Morcom, der früh verstarb, oder sein entscheidender Beitrag zur Entschlüsselung chiffrierter deutscher Funksprüche im Zweiten Weltkrieg.
    Der letzte Teil erzählt von der Zeit nach dem Gerichtsprozess, von Therapiesitzungen und seinem Freitod.
    Düster aber auch humorvoll und skurril
    Robert Deutsch wollte diese hochdramatische Geschichte nicht in Form einer rein faktentreuen Biografie aufbereiten, wie er im Gespräch erklärt, sondern einen eigenen Zugang finden.
    "Das war natürlich eine Herausforderung für mich. Anders ranzugehen an eine Biografie, als es sonst gemacht wird. Meistens sind die ja immer alle sehr streng ernst, und es ist ja auch eigentlich eine streng ernste Geschichte, aber als ich so las, dass der Typ eben auch Humor besaß, dachte ich mir: Dann muss das einfach da mit rein, dann muss ich auch damit spielen können und meiner künstlerischen Freiheit und Interpretation einfach freien Lauf lassen."
    So düster Alan Turings Schicksal war, so fantasievoll und farbenprächtig gibt der Autor es wieder. Zugute kommt diesem Ansatz auch die dokumentierte Skurillität Alan Turings, der sich beispielsweise beim Radfahren mit einer Gasmaske gegen den Heuschnupfen schützte oder seine Teetassen am Heizkörper festkettete.
    Mischung aus Melancholie und hintergründiger Komik
    Zudem nimmt Robert Deutsch mit einer Vielzahl visueller Einfälle seiner Geschichte einen Teil ihrer Schwere. So wimmelt es von Details, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt: In Wolken, Schaumkronen oder auf Telefonhörern erkennt man Gesichter. Die Überzeugung Turings, dass Maschinen eines Tages den Geschmack von Erdbeeren mit Sahne wahrnehmen würden, ist mit dem Cafébesuch eines Roboters und der Journalistin Sylvia von Harden illustriert, die man von Otto Dix' berühmtem Porträt kennt.
    "Natürlich war das für mich auch eine Ebene, wo ich Spaß hatte. Das ist mir auch wahnsinnig wichtig bei der Arbeit, Sachen zu zitieren oder irgendwo einzubauen, wo ich dann schmunzeln muss und denke: Ja, vielleicht entdeckt es ja jemand."
    Die Mischung aus Melancholie und hintergründiger Komik, die diese Graphic Novel auszeichnet, zeigt sich an einem Beispiel besonders deutlich: Ein wiederkehrendes Element sind die emblematischen Figuren aus dem bereits erwähnten "Schneewittchen"-Zeichentrickfilm, den der historische Turing tatsächlich kannte und schätzte.
    Drollige Gestalten als Vorboten des Todes
    Immer wieder huschen Zwerge durchs Bild, und auf seinen Laufrunden durch die englischen Wälder taucht Turing in eine Märchenwelt voller lachender Disney-Wesen ein. Gleichzeitig sind diese drolligen, allzu vertrauten Gestalten Vorboten seines nahenden Todes, den er wie die böse Stiefmutter im Märchen mit einem vergifteten Apfel herbeiführte.
    "Das hat er ja gerne gesungen, wenn er in Cambridge über den Campus gelaufen ist. 'Dip the apple in the brew...' Das fand ich auch sehr, sehr schön, diese Anekdote, und da sich das durch sein Leben durchzog und diese Analogie zu diesem Apfel am Ende eben auch da war, dachte ich mir: Das passt halt wie die Faust aufs Auge, dass Schneewittchen da noch eine eigene Rolle bekommt, eine Parallelwelt mitläuft zu ihm, so eine emotionale Ebene, die sich dann am Ende mit ihm vereint."
    Grafisch beeindruckend, dramaturgisch ausbaufähig
    Stilistisch machen Robert Deutschs farbsatte Acrylzeichnungen Anleihen bei der Naiven Kunst. Verzerrte Gesichter und Körper, bewusst simple Formen und falsche Perspektiven stehen im Kontrast zur hochvirtuosen Bildgestaltung. Viele der häufig ganz- oder sogar doppelseitigen Bilder erinnern eher an Gemälde als an Comics.
    Gegen Ende sieht man Turing wieder im Märchenwald, umgeben von Schneewittchen und den Zwergen. Robert Deutsch deutet den Selbstmord als den Rückkehrversuch zu seiner früh verlorenen Jugendliebe, wenn er Turing seine letzten Worte an Christopher Morcom richten lässt.
    "Christopher ... Ich komme ... zu dir ..."
    Grafisch ist "Turing" ohne jede Frage ein beeindruckendes Buch. Dramaturgisch hingegen bleibt es leider hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind nicht immer ganz glücklich gewählt, weshalb sich die Geschichte manchmal in Nebensächlichkeiten verliert und eine narrative Unwucht entwickelt.
    Beispielsweise wird der fiktive Mordanschlag auf zwei Journalisten geschildert, der nichts zur Handlung beiträgt, während der Gerichtsprozess, der so viel Unglück über Turing brachte, gänzlich ausgespart bleibt. Dem Buch hätte eine stärkere Reduktion aufs Wesentliche gutgetan, gerade angesichts des bewegten, ereignisreichen Lebens des Protagonisten, das sich erzählerisch kaum bändigen lässt. Wunderschön anzusehen ist es trotzdem.
    Robert Deutsch: "Turing"
    Avant Verlag, 192 Seiten, 29,95 Euro