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"Graphit" von Marcel Beyer
Wenn sich der Wortschatz öffnet

Mit "Graphit" legt Marcel Beyer seine dritte, in 13 Jahren angewachsene Gedichtsammlung vor. Bekannt wurde Beyer 1995 mit seinem Roman "Flughunde". Schon darin untersuchte er Sprache, ihren Sound, das Sprechen an sich. In "Graphit" führt Beyer in der Lyrik seine Erforschung von Worten und Landschaften, Kulturen und Menschen weiter.

Von Tobias Lehmkuhl | 12.02.2015
    Der Schriftsteller Marcel Beyer bei einer Autorenlesung in Koblenz
    Mit "Graphit" legt Marcel Beyer nun seine dritte, in dreizehn Jahren angewachsene Lyriksammlung vor. (picture alliance / dpa / Thomas Frey)
    Mit dem Roman "Flughunde" wurde Marcel Beyer 1995 mit einem Schlag bekannt, als Lyriker hatte er seinen Durchbruch - so Lyriker Durchbrüche haben können - zwei Jahre später mit "Falsches Futter". Es folgten zwei weitere Romane, aber nur ein Gedichtband, "Erdkunde", im Jahr 2001. Nun endlich aber hat das Warten ein Ende - sofern es noch Lyrikleser gibt, die tatsächlich auf das Erscheinen neuer Bände hinfiebern - mit "Graphit" legt Marcel Beyer nun seine dritte, in dreizehn Jahren angewachsene Lyriksammlung vor.
    Streng schaut dieser Band aus: In graues Leinen gebunden, graphitgrau, möchte man sagen. Schwarz ist der Titel eingeprägt, schwarz auch der Name: "Marcel Beyer. Graphit". Kein Schutzumschlag. Dabei ist der Band handlich, groß wie zwei aneinandergelegte Kohlebriketts. Also griffig, aber von einem gewissen, für einen Gedichtband geradezu üppigen Umfang. Gut 200 Seiten nämlich, und insofern kann man von karger Strenge doch nicht so recht reden. Von einer knallvollen Wundertüte freilich noch weniger. Dafür geht den Gedichten, stammt ihr Verfasser auch aus dem Rheinland, alles Karnevaleske ab.
    "An die Vermummten I
    So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles
    an schwarzem Material überlagert: Asche
    von Türmen, nordpakistanische Nacht und auch
    dieser alte, auf hoher See bestattete Zottelbart.
    Großes Bunkergefühl heute. Samt Magengrollen.
    Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört.
    RASEND PEITSCHT GOTTES ZORN den Heli übers Anwesen,
    Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht.
    Kohl, Kartoffeln und Haschisch im Hof.
    Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört die vermummten Menschen,
    Flüche, RAUS, WARTE, Metall, das Getöse. Kein Laut."
    Wer Beyers Werk, vor allem seine bisherigen Gedichtbände "Falsches Futter" und "Erdkunde" kennt, wird sich wundern, dass der Autor, sonst sehr mit der deutschen Geschichte und Landschaft, vor allem auch mit den historischen Landschaften des Ostens, ja auch Osteuropas verbunden, hier einen Ausflug nach Zentralasien, ins El-Kaida-Gelände unternimmt - wobei es freilich schon in "Falsches Futter" ein Gedicht mit dem Titel "Jihad. Klänge der Heimat" gibt. Daneben findet sich in dem Band von 1997 eine Georg-Trakl-Überschreibung mit dem Titel "Verklirrter Herbst". Und genau das ist auch der Fall bei "An die Vermummten". "An die Verstummten" nämlich heißt ein Trakl-Gedicht, das Beyer inhaltlich, wenn man so will, aktualisiert: Rhythmus, Reimschema, ja selbst die Verteilung der Vokale sind in beiden Gedicht nahezu identisch. Reines Zitat ist allein der Halbsatz "Rasend peitscht Gottes Zorn". Bei Trakl peitscht dieser Zorn "die Stirne der Besessenen", bei Beyer peitscht dieser Zorn den Heli voran, den Helikopter. Interessant ist hier die Umkehrung. Besessen sind bei Beyer also nicht Osama bin Laden und seine Leute, Besessenheit wird mit amerikanischen Helikoptern in Verbindung gebracht. Wobei man um Gottes oder Allahs Willen darin kein politisches Statement vermuten soll. Beyer geht es vielmehr um das Rasen der Hubschrauber über der Wüste, um den Sound der Rotorblätter, ihr mögliches "Durchdrehen", und den Absturz eines der Geräte über dem Haus schließlich, in dem sich Osama bin Laden in Abbottabad versteckt hielt. Den rasenden Wahnsinn also, der nur im Exitus enden kann und im Verstummen der Vermummten.
    "RASEND PEITSCHT GOTTES ZORN den Heli übers Anwesen,
    Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht.
    Kohl, Kartoffeln und Haschisch im Hof.
    Dann gibt es nur noch ein. Blut. Man hört die vermummten Menschen,
    Flüche, RAUS, WARTE, Metall, das Getöse. Kein Laut."
    Georg Trakl steht nicht nur Pate in dem Gedicht "An die Verstummten". Auch das "Alphabet Oberlippe" lehnt sich an den Mann aus Salzburg an. Daneben dienen in "Graphit" andere Dichter wie Ezra Pound oder Robert Musil als Inspirationsquell für einzelne Gedichte oder Gedichtzyklen, sind ihr Gegenstand. Ebenso bilden Fotografien häufig wichtige Anregungen für Beyer Lyrik. Manche Strophen wurden zudem für Kompositionen von Enno Poppe oder Manos Tsangaris geschrieben. Doch nicht Pakistan und Georg Trakl, Musil oder die Musik bestimmen das Bild dieses Bandes. Die stärksten Gedichte in "Graphit" widmen sich dem Dichter Thomas Kling und dem Niederrhein, dem Ort, an dem Thomas Kling die letzten Jahre seines Lebens verbracht und an dem Marcel Beyer aufgewachsen ist.
    "Wir machen los, noch unbelaubt
    die Pappen hin zum Feld. Wer nannte
    mich SEPPEL, dreißig Jahre her?
    Vielleicht ein Jugendtrainer, einer,
    von dem mir außer diesem Wort
    sonst nichts geblieben ist. Man pokelt,
    man baggert an der Sprache, SPATZ
    oder SPERLING? Stundenlang. Anders
    Bringt man hier kaum die Zeit herum.
    Die Ballerei, Garagentore,
    Echogebrüll, Tabletten dann
    am Küchenfenster. Und ich achte
    still auf die Tiere, auf Rebhuhn,
    Schwarzamsel, Feldlerche und Fasan."
    Nicht Gedanken oder Gefühle breitet Marcel Beyer in seinen Gedichten aus, sondern zuerst einmal die Dinge, an die sich dann eben Gedanken oder Gefühle knüpfen können. Wie schon im Trakl-El-Kaida-Gedicht entsteht in dem disparaten aber auf einer geheimnisvollen Weise harmonischen Miteinander verschiedener Elemente ein spezieller Beyer-Sound. Hier, in dem Kindheitsgedicht, sind es nun der Fußball und gleich daneben Tiere, die Vögel vor allem.
    Blässgänse fallen abends an ihrem Schlafplatz im niederrheinischen Emmerich ein
    Blässgänse fallen abends an ihrem Schlafplatz im niederrheinischen Emmerich ein (imago / blickwinkel)
    "Ich denke daran, wie tief mich Thomas Klings Gedicht 'vogelherd. mikrobukolika' beeindruckt hat und immer noch beeindruckt, wo Thomas Kling diese Verquickung nachvollzieht von Natur - da ist ein Vogel, dann kommt aber die Ebene der Kultur hinein, nämlich die Frage, wie fängt man denn Vögel, wie baut man einen Vogelherd und in direkter Folge, wie an den Vogel oder an die Natur geklebt, die Sprache. Namen der Vögel, alte Ausdrücke, die sich im Jagdbereich, in der Imkerei über Jahrhunderte erhalten haben. Sodass einfach der Wortschatz sich noch einmal ungeheuer öffnet."
    Diese Faszination, die der ungeheure Wortschatz der deutschen Sprache auf Marcel Beyer ausübt, spürt man auch in einem anderen Gedicht, einem das explizit nun eine Hommage an Thomas Kling darstellt. "Wacholder" heißt es, und unter den vielen Namen des Wacholder findet sich auch der des "Todausbäumchens".
    "Ja, beutel das: Kadix und Jidlinka,
    die Judenkersche. Beutel das
    Mischwort ein, wo sich der Mund
    vom Auge trennt, die Schlehe, Holler,
    die Vogelbeere. Du sollst auch
    Knirban, Ebern, Katsel, Kranebitter
    beuteln, wo Hand und Zunge einfach
    nicht zusammenfinden. Pflück
    mir den schwarzen Flieder. Streife
    die Beeren mit dem Handschuh von
    den Zweigen ab. Knister und
    Knirk stellen hervorragende Beutelware
    dar. Jangel, Einbeer, Kniederlock. Und
    Palma pflück. Du beutelst
    Todausbäumchen mit ruhiger Hand."
    Wenn man nun weiß, dass dieses Gedicht im Herbst 2004 entstanden ist, wenige Monate bevor der an Krebs erkrankte, damals 47-jährige Kling starb, so gewinnt das "Todausbäumchen" eine ganz besondere Bedeutung. Seine Anrufung im Gedicht kommt einer Beschwörung gleich, als sollte dem Körper, mit dem Baum im Gedicht, der Tod ausgetrieben werden. Beyer:
    "Mein Blick zurück aufs Rheinland ist natürlich darum intensiv geworden, weil Thomas Kling als Gesprächspartner oder als jemand, bei dem man sich alle drei Jahre gefreut hat, wenn er einen neuen Gedichtband vorgelegt hat und man sich gefragt: was für neue Areale hat er sich jetzt erschlossen? In welche Bereiche ist er aufgebrochen? Dass diese Größe im eigenen Leben verschwunden ist, mit dem Tod von Thomas Kling 2005 ist da einfach eine Leerstelle geblieben und diese Leerstelle wird auch in 'Graphit' immer wieder umspielt, betastet, aber ganz eindeutig eigentlich als ein Signal, hier fehlt jemand, hier fehlt eine Stimme, hier fehlt auch ein Forscher."
    Marcel Beyer selbst ist ein Forscher, ein Wort- und Landschaftsforscher, ein Kultur- und Menschenforscher. 13 Jahre hat er Material gesammelt, prallgefüllt kommt "Graphit" nun daher. Denn mit Trakl und Kling, Pakistan und Neuss ist es längst nicht getan. Dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs ist ein Zyklus gewidmet, auch Sergej Eisensteins Versuchen, Kunstschnee zu erzeugen. Man trifft den Rumfabrikanten und Benn-Freund Oelze ebenso wie Reinhard Heydrich. Frappierende Beobachtungen, wie der "Keramikfehler / unter Mischgemüse" stehen da neben skurrilen Wortneubildungen, etwa dem "Vorortknie". Auch dass die Steigerungsform von "belegtes Brot" "Hefeplunder" beziehungsweise "Puddingteilchen" lautet, erfährt man hier zum ersten Mal. Ein Materialreichtum, der in den zumeist dreizeiligen Strophen streng gefügt erscheint. Nicht zufällig ist Beyer bei der Komposition seines Bandes mit Umsicht vorgegangen: Graphit nämlich ist nicht nur harmloser Bleistiftstoff, Graphit braucht es auch, um die Kernreaktion in Gang zu setzen.
    Marcel Beyer: "Graphit"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 208 Seiten, 21,95 Euro