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Weizenunverträglichkeit
Das Böse im Brot

Weizen ist in den vergangenen Jahren ins Gerede gekommen. Immer mehr Konsumenten klagen nach dem Verzehr über einen gereizten Darm und greifen verstärkt zu glutenfreien Ersatz-Brötchen. Dabei handelt es sich bei den Beschwerden gar nicht um eine klassische Zöliakie, die tatsächlich auf eine Gluten-Unverträglichkeit zurückzuführen ist.

Von Lucian Haas | 05.03.2017
Glutenfreies Brot in einem Naturkostladen in Leipzig
Für Menschen mit Zöliakie ist Gluten Gift: Betroffene sind auf glutenfreie Nahrungsmittel angewiesen. (picture alliance / dpa / Peter Endig)
Hörtipp: Das Böse im Brot. Über eine grassierende Weizenunverträglichkeit
Genauso wenig handelt es sich um eine Weizenallergie, die sich anhand entsprechender Antikörper nachweisen ließe. "Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität" (NCWS) wird die neue, geheimnisvolle Krankheit genannt, die laut Schätzungen bis zu zehn Prozent der Bevölkerung betreffen soll. Jetzt sucht die Forschung nach der Wurzel des Bösen.

Das Manuskript zur Sendung:

Friedrich Longin: "Ich würde Böse, das Wort, überhaupt nicht in den Mund nehmen in Zusammenhang mit Weizen. Weizen ist erst mal sehr gut, weil er ernährt sehr viele Menschen auf dieser Welt."
Detlef Schuppan: "Man kann von Reis, Mais, Kartoffeln etc. auch gut leben. Aber viele Leute möchten natürlich nicht auf glutenhaltige Nahrungsmittel verzichten."
Annette Fritscher Ravens: "Wir wollen ein Brot, das nicht übermorgen schimmelt. Wir wollen diese Haltbarmacher haben. Wir wollen, dass es besser schmeckt."
Detlef Schuppan: "Außerdem gibt es noch eine große Weizenindustrie, die natürlich nicht möchte, dass der Weizen in Verruf kommt."
Universitätsklinikum Kiel. Ein 50-jähriger Mann leidet seit Jahren an einem schlimmen Reizdarmsyndrom. Bauchschmerzen, Verstopfung, Durchfall. Unzählige Untersuchungen blieben ohne Ergebnis. Alles nur Einbildung? Jetzt liegt er in Vollnarkose auf dem Behandlungstisch. Ein schwarzer Schlauch ragt aus seinem Mund.
Herausfinden, was den Darm in Aufruhr versetzt
Annette Fritscher-Ravens, Leiterin der Abteilung für experimentelle Endoskopie, hat ihm das Rohr durch die Speiseröhre und den Magen vorsichtig bis in den Zwölffingerdarm geschoben. An der Spitze des flexiblen Schlauchs: ein Lasermikroskop. Es liefert Bilder auf einen Monitor: Die innere Darmoberfläche, tausendfach vergrößert. Darmzotte neben Darmzotte.
Fritscher-Ravens: "Also, wir spritzen jetzt im Moment gerade mal Milch auf die Schleimhaut, das sehen sie hier. Der Laser zeigt die Zotten schön an. Sie sehen die schwarzen, ganz engen Zwischenräume zwischen den einzelnen Zotten. Und jetzt warten wir mal einen Augenblick, ob sich da etwas tut."
Annette Fritscher-Ravens will herausfinden, was genau den Darm so in Aufruhr versetzt. Sie hat einen weltweit einzigartigen Test entwickelt. Über das Endoskop leitet sie nacheinander Grundbestandteile der Nahrung wie Milch, Hefe, Soja und Weizen auf die Darmschleimhaut. Reagieren die Zotten darauf empfindlich, wird die Akutreaktion sofort sichtbar:
"Eigentlich passiert da gar nichts. Das sieht hier in der Tat so aus, als reagiert der nicht."

Die Milch bleibt unauffällig. Als nächstes testet Annette Fritscher-Ravens die Reaktion des Patienten auf Weizen. Die Probe enthält handelsübliches Weizenmehl vom Discounter, stark verdünnt in Wasser aufgelöst. Über eine kleine Spritze drückt sie zehn Milliliter davon durch den Schlauch des Endoskops in den Darm. Wieder zoomt das Lasermikroskop live an die Darmzotten heran. Und dann – mit einem Mal – verändert sich das Bild:
Zwei Eigelb auf Mehl sind vor einer Schüssel und einem Mixer zu sehen.
Weizensensitive Menschen reagieren auch empfindlich auf Weizenmehl. (imago / blickwinkel)
Fritscher-Ravens: "Hier, schauen sie mal. Hier kommt schon diese große weiße Lava raus aus den Zellen und macht die Zellzwischenräume weiß und größer."
Auf dem Monitor verschwimmt der zuvor scharfe schwarze Rand der Darmzotten. Es sieht aus, als würden die Spitzen der Zotten regelrecht weggesprengt – wie bei einem Vulkanausbruch. Heraus tritt Kontrastmittel, das dem Patienten zuvor gespritzt wurde. Im Laserlicht strahlt es hell auf.
Fritscher Ravens: "Hier, sehen sie. Auch zwischen den einzelnen kleinen Zellen strömt Kontrastmittel aus in das Darmlumen. Die Zwischenräume werden ganz, ganz weiß. Dieser Patient ist ganz sicher weizensensitiv."
Einer von Tausend Menschen in Deutschland leidet an Weizenallergie
Bis vor wenigen Jahren kannte man nur zwei Krankheiten, die eindeutig mit Weizen in Verbindung stehen: Zöliakie und Weizenallergie.
Bäcker Engelbert Schlechtrimen: "Die Zutaten hier im Hefeteig sind völlig klar. Wir brauchen Butter, Zucker, Salz, Milch und später Hefe, und natürlich auch das Mehl."
Bei der Zöliakie reagieren Menschen mit einer bestimmten genetischen Veranlagung auf das Gluten. Das sogenannte Klebereiweiß lässt Weizenteige beim Backen so schön aufgehen. Doch für Menschen mit Zöliakie ist Gluten Gift: Der Körper greift sein eigenes Darmgewebe an und zerstört es. Betroffene sind auf strikt glutenfreie Nahrungsmittel angewiesen. Das gilt für rund ein Prozent der Bevölkerung.
Bäcker Engelbert Schlechtrimen: "Und bei dem Baguette, das hat kaum Farbe, weil die Zuckerstoffe vergoren sind."
Einer von Tausend Menschen in Deutschland leidet an einer Weizenallergie. Die bekannteste Form ist das Bäcker-Asthma beim Einatmen von Mehlstaub. Auch im Darm können sich Probleme zeigen. Eine Weizenallergie lässt sich mit immunologischen Tests nachweisen.
Bäcker Engelbert Schlechtrimen: "Eine Bäckerei ohne Brötchen ist wie ein Kamin ohne Feuer."
Inzwischen sind aber noch weitere chronische Darmprobleme nach Weizenverzehr aufgetaucht. Jeder Zehnte könnte davon betroffen sein. Diese Unverträglichkeit ist noch rätselhaft. Ärzte sprechen etwas hilflos von Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität.
Das Rätsel der mysteriösen Weizensensitivität lösen
Bäcker Engelbert Schlechtrimen: "Bei uns spielen erst Mal die Vorteige eine große Rolle. Wir haben in fast allen Produkten mindestens zwei Vorteige. In Broten sind zwei verschiedene Sauerteige drin, in Brötchen ist ein Vorteig drin und ein Weizensauer. Der größte Teil des Weizens wird doch zu Weizenkleingebäcken, Brot, Brötchen, Croissants etc. verarbeitet. Weizenvorteige, Roggenvorteige, Sauerteige, werden einen Tag vorher angesetzt, und werden dann am darauffolgenden Tag zu einem fertigen Teig verarbeitet."
Die Suche nach den Ursachen der mysteriösen Weizensensitivität hat erst vor wenigen Jahren begonnen. Mittlerweile gibt es den endoskopischen Nachweis einer Darmreaktion nach dem Verfahren von Annette Fritscher-Ravens. Doch die Technik ist aufwändig und kostspielig. Als Routine-Untersuchung würde sie von keiner Krankenkasse bezahlt.
Auch an der Uniklinik in Erlangen wird versucht, das Rätsel der Weizensensitivität zu lösen. In die Sprechstunde der Gastroenterologin Yurdagül Zopf kommen regelmäßig Patienten mit entsprechenden Symptomen.
Auf Weizenbrot, Nudeln und Süßwaren zu verzichten, fällt vielen schwer
Yurdagül Zopf: "Typisch ist, wenn sie Bauchschmerzen haben, Blähungen, Stuhlentleerungsprobleme, sei es Durchfall oder Verstopfung. Und diese massive Müdigkeit. Das ist ganz typisch. Wenn er sagt, ich werde unglaublich leistungsschwach. Nach dem Essen werde ich fast schon kollaptisch müde. Einige erzählen von Gliederschmerzen, vor allem an den Händen. Muskelkaterartige Verspannungen am Nacken, Muskelschmerzen."
Streichen die Patienten Weizen aus ihrer Ernährung, geht es ihnen meist besser. Doch dauerhaft auf Weizenbrot, Nudeln, Suppen, Süßwaren zu verzichten, fällt den meisten schwer. Ohnehin geht Yurdagül Zopf davon aus, dass nicht der ganze Weizen verantwortlich ist. Wie sonst sollte man erklären, dass die Fallzahlen steigen? Irgendetwas muss sich über die Jahrzehnte verändert haben:
"Welcher Anteil des Weizens das ist, kann kein Mensch aktuell genau definieren. Ob es wirklich Glutenanteile sind, oder andere Weizenanteile sind, das wissen wir nicht."
Yurdagül Zopf hat eine Theorie:
"Es ist mit Sicherheit so, das sehen wir in unseren Experimenten, dass Weizen spezielle Entzündungen auslöst."

Es beginnt mit lokalen Entzündungen im Darm, glaubt sie. Doch dann werden auch in anderen Ecken des Körpers Entzündungsprozesse angefeuert. Stimmt diese Theorie, wäre es denkbar, die Entzündungsketten mit Medikamenten zu kontrollieren. Das brächte Linderung, vielleicht sogar Heilung.
"Aber dafür müssten wir zunächst mal erkennen, ob es nur ein Faktor ist, der diese Entzündung auslöst, oder ob es nicht eine Reihe von Entzündungskaskaden sind."
Zu sehen ist die Computeranimation des menschlichen Verdauungssystems
Der Verzehr von Weizen kann bei einigen Menschen lokale Entzündungen im Darm auslösen. (imago/Science Photo Library)
Walburga Dieterich: "Hier habe ich eine Zellkulturplatte mit den Organoiden drin. Und die zeige ich Ihnen jetzt mal unter dem Mikroskop."
Walburga Dieterich hat eine kleine, durchsichtige Plastikschale aus einem Brutschrank geholt. In Dutzenden kleinen Vertiefungen: ein gallertartiges Nährmedium. Die Leiterin des ernährungsmedizinischen Labors der Uniklinik Erlangen schiebt die Schale unter dem Mikroskop zurecht:
"Hier kann man sehr schön erkennen, wie die Organoide wachsen. Die wachsen als dreidimensionale Kügelchen hier in dieser Kulturschale heran."
Entzündungswege des Weizens im Darm entschlüsseln
Die Organoide sind kleinste Zellhaufen, entstanden aus humanen Stammzellen aus dem Darm von Patienten mit Weizensensitivität. Ihnen wird dafür ein wenig Gewebe aus der Darmwand entnommen, es wird gereinigt, zerschnitten und in einzelne Zellen aufgeteilt. Mit den passenden Wachstumsfaktoren versetzt regeneriert sich dann im Brutschrank ein Stück Darmschleimhaut im Miniaturformat.
Walburga Dieterich: "Wir haben den großen Vorteil, dass wir hier so ein kleines humanes Darmmodell haben, wo wir dann sagen, ok, dann können wir relativ viel damit testen."
Ein Jahr lang experimentierte Walburga Dieterich, bis sie die humanen Darm-Organoide routinemäßig produzieren konnte. Jetzt kann sie, ohne ständig auf frische Biopsien von Patienten angewiesen zu sein, im Labor Testreihen durchführen. Wie am Fließband. Dabei gibt sie in das Nährmedium der Organoide unterschiedlich stark vorverdaute Gliadine und Glutenine. Das sind Grundbausteine des Glutens:
"Und die geben wir drauf und dann gucken wir, was produzieren unsere kleinen Organkulturen dann. Wir isolieren letztendlich die RNA und gucken auf der Ebene, welche Gene vermehrt hoch oder runter reguliert werden auf die Gliadine oder die Gliadinfragmente."
Gemeinsam mit Yurdagül Zopf will Walburga Dieterich nicht nur die Entzündungswege des Weizens im Darm entschlüsseln. Sie hofft auch, Biomarker für den Grad der Unverträglichkeit zu finden. Wunschziel wäre ein einfacher Bluttest.
Yurdagül Zopf: "Wenn ich so einen Biomarker hätte, würde ich den Patienten gezielt detektieren und gezielt meine Ernährungsumstellung durchführen. Und dann versuchen, vielleicht mit anderen medikamentösen Ansätzen schneller eine Heilung oder Beschwerdelinderung herbeizuführen."
Dass Yurdagül Zopf Gluten als Auslöser der Weizensensitivität untersucht, ist freilich nur ein erster Versuch. Im Weizen wirken viele Stoffe. Der Kreis potenzieller Verdächtiger wird schnell größer, wenn man auch noch die vielen chemischen Zusätze wie Haltbarmacher und ähnliches in modernen Lebensmitteln bedenkt.
"Ob es wirklich Glutenanteile sind, oder andere Weizenanteile sind, das wissen wir nicht. Im Moment haben wir uns auf Gluten fokussiert, weil wir zunächst mal einen Weg verstehen wollen. Wenn wir mit verschiedenen Wegen parallel anfangen, ist es noch komplexer."
Proteine in Weizen könnten Autoimmunkrankheiten verstärken
Neben Gluten steht seit einigen Jahren noch eine weitere Stoffklasse als Auslöser von Darmproblemen in Verdacht: FODMAPs. Das Kürzel steht für Fermentierbare Oligo-, Di- und Mono-Saccharide sowie Polyole, eine Gruppe von komplexen Zuckermolekülen und mehrwertigen Alkoholen. Im Supermarkt lagern sie in fast jedem Regal. Früchte, manches Gemüse, Milchprodukte, aber auch Weizenbrot und Müsli.
Im Dünndarm werden FODMAPs nur schlecht verwertet. So werden sie zum Festschmaus für Dickdarm-Bakterien. Blähungen und Durchfall sind die Folge. Anfälligen Menschen kann eine FODMAP-arme Ernährung helfen. Als Ursache der Weizensensitivität scheiden FODMAPs allerdings aus. Sie fördern nicht die charakteristischen Entzündungen.
Im Jahr 2012 machte der Gastroenterologe Detlef Schuppan eine überraschende Entdeckung. Er hatte Mäuse auf weizenhaltige Diät gesetzt. Bestimmte Zellen des Immunsystems im Darm schlugen daraufhin Alarm. Sie zeigten eine sogenannte angeborene Entzündungsreaktion. Anfangs hatte der Forscher von der Universität Mainz Gluten als Auslöser in Verdacht. Doch dann stieß er auf eine andere Spur: Neben Gluten sind in Weizen noch weitere Proteine zu finden. Darunter Amylase-Trypsin-Inhibitoren, kurz: ATIs.
"Die ATIs werden auch sehr unvollständig verdaut, im Grunde genommen gar nicht. Und erreichen so das Immunsystem im Dünndarm; werden gefühlt vom Immunsystem und erzeugen dadurch eine mäßiggradige Entzündung, in diesen angeborenen Immunzellen."

Der Darm reagiert auf die ATI-Eiweiße nur schwach. Den meisten Menschen bereiten sie keine Probleme. Das ändert sich, wenn ein Patient schon an einer anderen chronischen Entzündung im Körper leidet: Autoimmunkrankheiten wie Rheuma oder Multiple Sklerose zum Beispiel.
Zu Besuch in Berlins erster glutenfreien Bäckerei.
Mittlerweile gibt es in Deutschland glutenfreie Bäckereien, aber nicht nur Gluten kann Entzündungen im Darm auslösen. (Deutschlandradio / Ernst Ludwig von Aster)
Detlef Schuppan: "Dort läuft eine gering- oder stärkergradige entzündliche Reaktion in den entsprechenden Organen ab – ob das Gelenke sind, ob das das zentrale Nervensystem ist, ob das auch die Leber ist, wie das bei Typ 2 Diabetes ist. Und dort wirken die ATIs als Verstärker dieser bereits laufenden Entzündungen."
Bisher konnte Detlef Schuppan nur im Tiermodell eindeutig nachweisen, dass ATIs als Trigger vorhandene Autoimmunkrankheiten verstärken können. In diesem Jahr will er mit umfangreichen Studien an Menschen beginnen. Detlef Schuppan ist davon überzeugt, mit ATI einen entscheidenden Faktor der Weizensensitivität gefunden zu haben. Spannend wird die Frage, ob Betroffene auch in diesem Fall ganz auf Weizen verzichten müssten?
"Wir kennen die genauen Grenzen noch nicht, auf wie viel Prozent ich reduzieren muss, um eine Verbesserung zu haben. Das ist ein sogenannter Dosiseffekt. Und diese Schwellendosis ist bei jedem sicherlich etwas unterschiedlich. Aber wir rechnen schon damit, dass wir eine 90- bis 95-prozentige Reduktion einführen müssen."
Anbau von modernen und alten Weizensorten auf Testparzellen
90 bis 95 Prozent – das hieße in der Praxis: Menschen, die auf ATI empfindlich reagieren, sollten Weizenbrötchen & Co konsequent meiden. Ein Weg aus diesem Dilemma wären Weizensorten, die von Natur sehr niedrige ATI-Gehalte besitzen. Detlef Schuppan hat Kooperationsprojekte mit Weizenzüchtern in Hohenheim und Weihenstephan gestartet. Auf kleinen Testparzellen bauen sie hunderte moderne, aber auch alte Weizensorten an. Nach der Ernte ermitteln die Forscher die ATI-Gehalte und deren entzündungsfördernde Aktivität in Zellkulturen im Labor.
Friedrich Longin: "Wir sind hier im klassischen Getreideaufbereitungsraum. Ein altes Haus, eine große Halle mit vielen Kisten, Tüten, wo überall die verschiedenen Probemuster drin sind."
Friedrich Longin ist Leiter der Arbeitsgruppe Weizen der Landessaatzuchtanstalt Hohenheim. Sein Faible sind alte Weizensorten. Dinkel, Emmer, Einkorn. Ihn interessiert die Frage: Könnten diese eine gesündere Alternative zum modernen, hochgezüchteten Backweizen sein? Im Getreideaufbereitungsraum riecht es malzig nach reifem Korn. Mehlstaub liegt in der Luft.
Friedrich Longin: "Das ist jetzt hier Schwarzer Emmer. Sie sehen ganz wenige freie Körner, die schon beim Dreschen rausgekommen sind. Aber das meiste ist noch ganz fest umhüllt von den Hüllspelzen, und genau das müssen wir jetzt öffnen."
Friedrich Longin schaltet den Entspelzer an und schüttet die Probe hinein. In der Maschine rotieren zwei Gummiräder wie Mühlsteine. Sie sind weich genug, um nur die Fesen, die äußere Schutzhülle der Körner, zu quetschen. So können die Körner herausfallen.
"Der Emmer ist einfach einer der Vorfahren des modernen Weizens. Ein sehr alter Weizen, der ein bisschen ein härteres Korn hat, von den Mineralstoffen ein bisschen mehr, aber sonst doch nichts anderes.
Diese Kornprobe hier nehmen wir jetzt, nehmen eine kleine Menge von ab für Backuntersuchungen, und den Rest haben wir an das Labor von Professor Schuppan geschickt, oder diese senden wir noch, und dann untersucht er die verschiedenen ATIs."
"Weizen ernährt die Menschen seit gut 50.000 Jahren"
Im Rahmen des Versuches hat Friedrich Longin 160 Sorten von Weizen, Dinkel, Emmer und Einkorn an drei Standorten in Stuttgart, im Rheingraben und auf der Schwäbischen Alb angebaut. Die Frage ist: Wie stark unterscheiden sich die ATI-Gehalte der Sorten?
"Wir haben von all dem Weizen, den jetzt der Herr Schuppan kriegt, auch die genetische Information dahinter. Von jeder dieser 160 Sorten haben wir 30.000 Genschnipsel angeschaut. Die sind gleichmäßig über das gesamte Genom verteilt. Und wir versuchen dann, (...) ob wir das auf bestimmte Genregionen runterbrechen können. Vielleicht sogar ein einzelnes Gen finden können, was dafür verantwortlich ist. Und das wäre natürlich der Hauptgewinn im Lotto, wenn es ein einzelnes Gen wäre. Weil das wäre für uns kein Thema. Dann wäre das ratzfatz erledigt."

Ratzfatz erledigt – damit meint Longin die Zucht neuer Weizensorten mit wenig ATI. Doch ganz so einfach wird es nicht werden. Die Ergebnisse der kompletten Analysen werden erst im Laufe des Jahres vorliegen. Aber es zeichnet sich ab: Dinkel, Emmer und Einkorn erreichen ähnlich hohe Werte bei den ATIs wie moderne Weizensorten, um die vier Prozent. Fürs erste keine gute Nachricht. Zudem schwanken die ATI-Gehalte innerhalb der Sorten stark, je nach Ort des Anbaus. Friedrich Longin ist deshalb nur vorsichtig optimistisch, bald einen ATI-armen Weizen auf den Markt bringen zu können:
"Weil es ein Protein ist, und weil wir wissen, dass Proteine sehr stark von der Umwelt beeinflusst sind, sagt mir mein Bauch eher: Es ist eine Mischung von Genetik und Umwelt. Und dann wäre das ganze züchterisch etwas komplizierter."
Ein Weizenfeld wird in East Lothian in Schottland gegen die Sonne aufgenommen. 
Könnte der Anbau alter Weizensorten eine gesündere Alternative zum modernen, hochgezüchteten Backweizen sein? (imago / Westend61)
Gluten, FODMAPs, ATI. Drei Inhaltsstoffe des Korns, die heute als Ursache oder Verstärker einer Weizensensitivität im Fokus der Forschung stehen. Allerdings wäre damit nicht erklärt, warum immer mehr Menschen angeben, auf Weizenprodukte empfindlich zu reagieren. Weizen und seine Vorläufer ernähren die Menschheit seit gut 50.000 Jahren. Vor gut 100 Jahren haben Züchter damit begonnen, den Weizen gezielt in seinen Backeigenschaften zu verändern.
Weizenverarbeitung ist schneller und effizienter geworden
Nach aktuellem Kenntnisstand enthalten moderne Weizensorten dennoch weder mehr Gluten, noch mehr FODMAPs oder ATIs als Sorten vor 20, 40 oder gar 60 Jahren. Alleine können sie das Phänomen nicht erklären. Was ist es dann, was den Weizen für viele schwer verträglich macht? Es gibt eine vierte Theorie: Die Art und Weise, wie Weizen verarbeitet wird, hat sich in jüngerer Zeit rasant gewandelt – analog zu unserer modernen Lebensweise. Schneller. Maschinengerecht. Effizienter.
In der Backstube der Traditionsbäckerei Schlechtrimen in Köln Kalk. Jürgen Hommer verarbeitet eine Weizenmasse auf der Ausrollmaschine.
"Plunderteig, ausgerollt, für Nussschleifen."
Der Teig fährt auf einem beweglichen Schlitten unter einer Pressrolle hin und her – wie ein Betttuch in einer Wäschemangel. Mit jeder neuen Fahrt wird die Teigplatte dünner und länger. Die Maschine erledigt das im Handumdrehen. Der Teig aber, darauf legt Jürgen Hommer wert, ist kein Fix-Fertigprodukt. 24 Stunden hat er zuvor im Kühlhaus gelegen:
"Von gestern Morgen bis heute. Langzeit. Normal ist immer Schnellverfahren. Heute gemacht, heute auch ausgerollt. Wir machen die Teige aber immer vorher. Wir kühlen die, lassen die in Ruhe im Kühlhaus und verarbeiten die erst später. Das sind wesentlich mehr Geschmacksstoffe."
Slow Baking: bewusst langsam backen
Die Bäckerei Schlechtrimen ist noch ein klassischer Handwerksbetrieb. Und mehr als das: Sie setzt auf Slow Baking, einer bewusst langsameren, althergebrachten Backweise. Ein zertifizierter Slow-Baker, das ist vertraglich fixiert, muss seine Teige lange führen, darf nur eigens angesetzte Vor- und Sauerteige verwenden, und er muss auf chemische Backzusätze verzichten. Bäckermeister Engelbert Schlechtrimen hat sich dem Slow Baking vor zehn Jahren aus Überzeugung verschrieben:
"Da haben wir die Erfahrung gemacht, dass gute Reifeprozesse in allen Schritten der Herstellung ein ganz wesentliches Merkmal dafür ist, dass eine bestreichbare Krume entsteht, dass eine zarte Kruste entsteht, dass ein guter Geschmack entsteht, und dass es letztendlich auch gut bekömmlich ist."
Gut bekömmliches Weizenbrot – für Engelbert Schlechtrimen ist das kein Widerspruch. Wenn Weizenteige längere Ruhezeiten haben, bevor sie weiter verarbeitet werden, kommt es zu natürlichen Gärungsprozessen, und Enzyme bauen Mehlbestandteile um.
"Bei all diesen enzymatischen Prozessen oder auch Gärprozessen findet quasi eine Vorverdauung statt. Dadurch, dass all die Bestandteile des Mehls angeknackst werden und daraus jeweils Abbauprodukte entstehen, kann der Körper diese Inhaltsstoffe viel, viel besser aufnehmen, verstoffwechseln. Und Menschen, die sehr empfindlich sind, die unter Reizdarmsyndrom, Weizensensitivität oder sonst etwas leiden, kommen damit viel besser zurecht."
So wie Engelbert Schlechtrimen arbeiten allerdings immer weniger Bäcker in Deutschland. Die alte Handwerkskunst stirbt aus.
Immer mehr Bäcker setzen auf Fertigbackmischungen
Engelbert Schlechtrimen: "Manchmal komme ich mir vor wie eine Museumsbäckerei, wenn wir Dinge auf eine Art und Weise herstellen, wie sie in der Industrie oder auch in großen Betrieben nicht mehr stattfindet."
Immer mehr Bäcker, auch Kleinbetriebe, setzen heute auf Fertigbackmischungen. Einfach und schnell muss es gehen, wie in der Industrie.
"Ein Brötchen wird kaum mehr Zeit haben als eine Stunde von der Knetung bis zum Ofen oder auch dem Froster. Viele Brötchen gehen in die Schockfrostung und werden gar nicht mehr vor Ort gebacken."

Doch hilft Slow Baking wirklich dabei, reizende Inhaltsstoffe in Weizenprodukten abzubauen, bevor sie den menschlichen Darm erreichen? Erst im vergangenen Jahr hat eine Studie der Universität Hohenheim gezeigt: Hefeweißbrot, dessen Teig schon nach einer Stunde gebacken wird, enthält viele FODMAPs. In genauso hergestelltem Brot, aber mit vier Stunden Teigruhezeit, sind FODMAPs kaum noch nachweisbar. Ähnliches hält Engelbert Schlechtrimen auch in Bezug auf bestimmte Glutenfraktionen oder ATI für denkbar. Der wissenschaftliche Beweis steht allerdings noch aus:
Brotrohlinge liegen in Holzkörben einer Bäckerei.
Einfach und schnell muss es heute auch oft beim Bäcker gehen, wie in der Industrie. (dpa/picture-alliance/Horst Ossinger)
"In der Tat, wir haben da Rückmeldungen von Spitzen- oder Sterneköchen, bei denen die Weizensensitivität jetzt auch nicht Halt macht. Die sagen: Ich kann ihr Brot verdauen. Ich habe kein Völlegefühl und keine Blähungen. Bei anderen Produkten ist das eben nicht der Fall."
Der Markt für glutenfreie Lebensmittel boomt
Dass Weizen in Verruf geraten ist, ist auch die Folge von zwei populärwissenschaftlichen Büchern. Die Titel "Weizenwampe" und "Dumm wie Brot" standen weit oben auf den Bestsellerlisten. In ihnen wird der Konsum von Weizen als einer der treibenden Faktoren vieler Krankheiten dargestellt. Vor allem moderne Hochleistungssorten sollen an Diabetes genauso schuld sein wie an Alzheimer, Herz und Nerven schädigen oder Hautkrankheiten auslösen.
Wissenschaftlich belegt sind die meisten dieser Thesen bisher nicht. Doch sie wirken. Der Markt für glutenfreie Lebensmittel boomt, und das nicht wegen der wenigen Zöliakie-Patienten. Immer mehr Menschen verzichten auf Weizenprodukte, obwohl bei vielen gar keine Notwendigkeit dafür besteht.
Yurdagül Zopf: "Ich glaube auch, dass wir viel mehr Patienten haben, sei es, weil sich viel mehr trauen, etwas zu sagen. Sei es, weil ein Hype-Syndrom entstanden ist. Das ist ganz klar. Viele denken, sie haben etwas, aber haben nichts."
Für Ernährungsforscher wie Yurdagül Zopf gehören die Diskussionen über den Weizen zu einem neuen Trend. Nahrungsmittel werden heute nicht mehr nur danach beurteilt, welchen Genuss, welche Nährstoffe und Kalorien sie mit sich bringen. Zunehmend wird auch hinterfragt, wie die Ernährung auf unsere Gesundheit wirkt.
Yurdagül Zopf: "Der Weg wird so sein, dass wir sehen werden, dass andere Nahrungsmittel auch den Darm beeinflussen können. Und sei es, dass der Weizen vielleicht der Weg geworden ist, die Forschung zu intensivieren. Vor einigen Jahren war Ernährung völlig unwichtig. Jetzt ist es ein bisschen in den Fokus geraten. Jetzt wird finanziell auch ein bisschen mehr unterstützt. Da bin ich dem Weizen ganz dankbar, sage ich jetzt mal."
Machen uns die industriellen Herstellungsmethoden krank?
Eines deuten die Erkenntnisse der medizinischen Ernährungsforschung schon an: Mindestens genauso wichtig wie die exakte Analyse der Wirkung einzelner Inhaltsstoffe sind die Fragen: Wie und wann essen wir überhaupt, und wie bereiten wir unsere Nahrung zu?
Yurdagül Zopf: "Wir essen ständig Fast-Food. Es ist nicht mehr wie früher McDonalds und Burger King. Der Bäcker um die Ecke ist Fast-Food geworden, weil der nicht mehr richtig backt wie früher."
Annette Fritscher-Ravens: "Wir greifen uns ein Brötchen auf dem Weg zur Uni, auf dem Weg zur Arbeit. Und das muss lange haltbar sein, das muss gut schmecken, das muss bestimmte Parameter erfüllen. Damit haben sie eine Unmenge an Chemie da drin, Haltbarmacher, Geschmacksverstärker, die zusätzliche Probleme machen in Bezug auf Reaktionen, die der Körper den Nahrungsmitteln entgegen bringt."
Vielleicht sind es die industriellen Herstellungsmethoden, Tiefkühl-Pizza und Convenience-Produkte, die uns krank machen. Kochen wie zu Omas Zeiten – wäre das die Lösung?
Detlef Schuppan: "Diese alten bewährten Rezepte und Nahrungsaufbereitung machen sicherlich sehr viel Sinn. Die sind empirisch gewachsen und belegt durch Einzelfallberichte, dass sie gut bekömmlich sind. Und das hat enorm viel für sich."
"Für die Mehrheit der Bevölkerung ist Weizen kein Problem"
Die Spurensuche in Sachen Weizensensitivität läuft. Es gibt Verdachtsmomente, erste Erklärungsansätze. Betroffenen könnten sie weiterhelfen. Wer mit Weizen bisher keine Probleme hat, sollte sich durch die Schilderungen allerdings nicht beunruhigen lassen. Die meisten Menschen werden auch heute durch ihre Nahrung nicht krank. Die Forscher, die sich intensiv mit den Wirkketten im Körper auseinandersetzen, geben für das Gros der Bevölkerung Entwarnung.
Detlef Schuppan: "90, vielleicht auch 80 Prozent haben sicherlich keinerlei Probleme mit dem Weizen. Es kann sein, dass sie mal ein Problem entwickeln, wenn sie eine chronische Erkrankung bekommen. Aber primär, für die Mehrheit der Bevölkerung, ist Weizen kein Problem."
Yurdagül Zopf: "Wenn jemand nicht krank ist, soll er seinen Weizen um Gottes Willen essen. Nichts ist schlimmer, als wenn jemand glaubt, Weizen ist jetzt krank machend."

Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Christiane Knoll
Produktion: Deutschlandfunk 2017