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Graubünden
Massive Alpen, reges Kulturleben

Bei Graubünden mag mancher an Weltabgeschiedenheit denken. Aber schon bevor das Internet auch in die letzten Holzhäuser kam, stand die Zeit in den Alpen nicht still. Graubünden besitzt eine abwechslungsreiche Architekturszene, ein reges Kulturleben und viele rätoromanische Schriftsteller.

Von Susanne von Schenck | 16.03.2014
    Fast niemand steigt an diesem Nachmittag in Sumvitg, einem kleinen Ort in Graubünden, aus dem Zug. Am Bahnhof wartet Leo Tuor im Auto. Fünf Kilometer sind es von dort bis nach Val. Die Fahrt führt durch einen roh in den Fels gehauenen engen Tunnel hinauf auf tausend Meter Höhe. Val – das sind nur ein paar Häuser. Hier lebt Leo Tuor, einer von acht Einwohnern des abgeschiedenen Ortes.
    "Ja, man muss wissen, wo er ist, aber in einer‚ Stunde ist man in Chur, in zwei in Zürich und in vier in London, das geht noch."
    "Zu verkaufen: Käse und Literatur" ist gut sichtbar auf einem Schild an dem fast 250 Jahre alten Bauernhaus zu lesen, das der studierte Philosoph und Schriftsteller mit seiner Frau und drei Söhnen bewohnt. Es liegt direkt am Weg, der hinauf führt zur berühmten Greinaebene.
    "Ich bin vielleicht der Autor, der am meisten Bücher selber verkauft. Weil hier kommen im Sommer ganz viele Leute, die eben zur Greina hochwandern, die kaufen dann Käse und fragen, ja was für Literatur verkaufen Sie denn? So komme ich oft in Kontakt mit Leuten, die dann immer wieder kommen und fragen: Haben Sie denn wieder was geschrieben?"
    Nicht nur geistige Nahrung
    Die Wanderer auf dem Weg zur Greinaebene kaufen nicht nur geistige Nahrung in Form von Büchern, sondern auch Käse als Wegzehrung. Den stellen Leo Tuor und seine Frau selber her.
    Es ist ein aufwendiges Verfahren: Um zu reifen, müssen die großen Laibe in regelmäßigen Abständen mit Wasser geschmiert werden.
    "Und weil es auch interessant ist, nicht nur am Schreibtisch zu sein, auch ein bisschen solche Arbeit zu machen."
    Sein neues Buch "Cavrein" bringt dem Leser Natur und Landschaft Graubündens näher. Ironisch setzt der 54jährige sich darin mit Jägermythen auseinander. So klingt der Text auf Surselvisch, Leo Tuors Muttersprache:
    "Die Uhr zeigt halb sieben, und um sieben ist es dunkel. Da nimmt Luisin das Gewehr, als wollte er die Lage prüfen, dreht das Okular des Zielfernrohrs auf sechs, zielt und meint, da brauche es einen Volltreffer. Ich sage: "Schieß du." Er sagt: "Warum soll ich schießen?" Ich: "Schieß du für mich, Luisin."
    Schriftsteller, Käser, Jäger
    Leo Tuor: Schriftsteller, Käser, Jäger. Besonders gern ist er aber auf der Alp – über dreißig Sommer hat er Schafe und auch Kühe gehütet, zuletzt im vergangenen Jahr mit der ganzen Familie.
    "Was fasziniert, ist, dass man in der Natur ist, schon am Morgen, noch wenn es dunkel ist und man muss immer aufmerksam sein. Wenn es windet, Föhn oder so, dann sind die Tiere dem Menschen viel überlegener. Und man lernt das Verhalten dieser Tiere auch kennen. Ich finde es eine gute Schule des Lebens."
    Das Val Lumnezia, das Tal des Lichts, grenzt gleich an das Val Sumvitg, in dem Leo Tuor wohnt. Der Postbus kämpft sich die serpentinenreiche Straße hinauf.
    Vrin liegt fast 1500 m hoch und ist die Endstation. Einfache Holzhäuser säumen die schmale Straße. In Vrin lebt Pia Solèr, Alphirtin und seit Kurzem auch Autorin. Sie hat ihr Auto an der Straße geparkt und geht auf die etwas zurückliegende kleine Barockkirche zu.
    "Die Kirche ist noch speziell mit den Totenköpfen, das sind Totenköpfe, das sind echte, die sind zum Teil schon ein bisschen kaputt."
    Tatsächlich: Manche hängen halb aus dem Fries heraus, manche sind angeknackst, und ab und zu fällt auch einer herunter. Die Schädel stammen von Verstorbenen des Dorfes.
    "Das Dorf ist auch bekannt durch die Architektur, und da haben wir viel Tourismus. Auch im Winter, da kommen sie für Skitouren."
    Peter Zumthos berühmte Therme
    Vor allem wegen der Architektur pilgern viele in die Region. In Vrin hat der Architekt Gion Caminada sein Büro. Von ihm stammt das Beinhaus mit den Totenköpfen. Auch die überraschend elegante Telefonzelle am Dorfplatz hat er gebaut, außerdem eine Schreinerei und einige Wohnhäuser. Im Nachbartal, in Vals, steht die berühmte Therme von Peter Zumthor – für Liebhaber moderner Architektur bieten diese Täler viel.
    Vrin ist aber nicht nur wegen seiner Architektur bekannt – der Ort wie auch das ganze Tal im westlichen Graubünden sind eine Hochburg des Rätoromanischen oder Bündnerromanischen, wie es auch heißt. Diese Minderheitensprache unterteilt sich in fünf Idiome: Vallader, Putèr, Sutsilvan, Surmiran und Sursilvan. Letzteres ist auch Pia Solèrs Muttersprache. Wie die meisten Menschen hier ist auch sie zweisprachig. Auf deutsch hat sie ein kleines Buch geschrieben: "Die Weite fühlen". Darin schildert Pia Solèr ihr Leben auf der Alp. Seit 21 Jahren treibt die Hirtin die Schafe der ortansässigen Bauern in die rätoromanischen Berge hinauf.
    "Früher war es so, dass die Frauen nicht auf die Alp durften. Als Kind wollte ich auch schon gern. Aber meine Eltern… das war auch gut so, dass ich da nicht hin bin. Das war eine Kuhalp mit lauter Männern, ich glaube, die Erfahrung wäre nicht so gut gewesen."
    Pia Solèr, Anfang vierzig, ist eine zurückhaltende Frau mit wettergegerbtem Gesicht. Große Worte sind ihre Sache nicht – sie ist ein Naturmensch.
    "Dass man draußen in der Natur einfach voll drin ist, das ist das Schönste. Und auch mit den Tieren – man kann es frei gestalten und ist irgendwie weg vom ganzen Stress."
    18 Minuten mit der Rhätischen Bahn
    Von der Surselva, in der Leo Tuor und Pia Solèr leben, geht es weiter ins östliche Graubünden. Die Fahrt führt über Chur und Klosters durch den 19 km langen Vereinatunnel. Nur 18 Minuten braucht die Rhätische Bahn für diese Strecke. Dann ist man im Unterengadin und auch bald in Sent. Hier ist die Landschaft im Winter märchenhaft verschneit, im Sommer kann man wunderschöne Wanderungen ins Val Sinistra oder in das hochalpine und wilde Val d’Uina unternehmen.
    "Das sind diese Kühe im Schnee, über die ich auch geschrieben habe, die einfach nur stehen und sich nicht bewegen. Die wissen nicht, was sie tun sollen, sie stehen halt - irgendwie ist es surreal, ein Schneefeld mit Kühen. Also ich hab das schon gern."
    Angelika Overath schaut amüsiert auf die Kühe, die etwas ratlos am Ortsausgang von Sent im Schnee stehen. Geschrieben hat sie über die Tiere in ihrem 2010 erschienen Buch "Alle Farben des Schnees - Senter Tagebuch". Darin schildert sie anschaulich, wie sie mit ihrer Familie vor sieben Jahren aus Tübingen in den Ort umzieht, in dem sie jahrelang ihre Ferien verbracht hatte: Sent im Unterengadin.
    "Scuol-Tarasp, Endstation der Rhätischen Bahn. Ich nehme meinen Rucksack. Vom Zug sind es wenige Schritte über den Bahnhofsplatz zur Haltestelle des Postautos nach Sent. Drüben auf der Südseite des Tals ziehen die weißen Gipfel der Unterengadiner Dolomiten über ein metallenes Schild aus Nachmittagsblau. Hinter dieser Bergkette beginnt schon Italien .... Es ist warm und riecht nach Schnee. Hier möchte ich Ferien machen, denke ich. Und dann erschrecke ich für einen Moment. Denn das ist vorbei."
    Denn nun lebt sie mit ihrer Familie im einstigen Feriendomizil. Sent ist einerseits noch bäuerlich geprägt, lebt aber auch vom Tourismus. Der Ort mit seinen vielen Brunnen hat knapp tausend Einwohner, die Häuser sind zum Teil prachtvoll.
    "Jetzt sind wir gleich auf dem Dorfplatz, und Sie sehen schon zwei Typen von Häusern: Diese italienischen Palazzi mit diesen kleinen Romeo und Julia Balkonen und da drüben, dieses Haus mit dem runden Bogen, ist ein altes Engadiner Bauernhaus."
    Das Erbe der "Randulins" - der "Schwalben"
    Die italienischen Gebäude sind das Erbe der "Randulins", der "Schwalben". So werden jene heimatverbundenen Einheimischen genannt, die einst aus wirtschaftlicher Not Sent verließen und als Zuckerbäcker ihr Glück in Italien versuchten. Angelika Overath ist eine Schwalbe im umgekehrten Sinn: Eine Zugezogene, die mit der rätoromanischen Sprache kämpft.
    In Sent ist sie noch sehr lebendig und zieht eine feine Trennlinie zwischen Feriengästen, Zugezogenen und Einheimischen.
    "Ich finde diese Sprache so wahnsinnig schön, ich musste immer weinen, so schön fand ich sie. Es hat mich berührt, und deswegen konnte ich es nicht einfach so lernen, konnte ich nicht einfach so reden."
    Von außen kommend und inspiriert durch einen Aufenthalt in den USA, hat Angelika Overath in Sent die rätoromanische Woche angeregt: "A Sent be rumantsch – In Sent nur Romanisch". Dann reisen Gäste aller Altersgruppen an, leben in Familien, haben Sprachkurse, machen Exkursionen. Zu Beginn müssen sie einen Eid ablegen, während dieser Zeit ausschließlich romanisch zu sprechen. Das Interesse ist groß.
    "Also ein kleines Dorf wie Sent, in dem es noch eine Molkerei gibt, wo man noch weiß, was die Kühe gefressen haben, deren Milch man trinkt, das ist eine Qualität, die neu geschätzt wird. Und auch die Jugendlichen merken, es ist ein wahnsinniger Schatz, diese Sprache noch zu haben."