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Greifhilfe für Querschnittsgelähmte
Neuroprothese lässt gelähmte Hände wieder zupacken

Eine Tür aufschließen, eine Tasse halten oder eine Suppe löffeln - für die meisten Menschen ist das nichts Besonderes. Für Hochquerschnittsgelähmte, die ihre Hände nicht mehr bewegen können, ist das ein Wunschtraum. 2013 stellten Heidelberger Forscher in einer Fernsehshow eine Neuroprothese vor, die gelähmte Hände dazu bringt, wieder zuzupacken. Was ist inzwischen daraus geworden?

Von Anneke Meyer | 30.08.2016
    Die Neuroprothese geht in die zweite Generation: Hier der Prototyp in der Beta-Version
    Die Neuroprothese geht in die zweite Generation: Hier der Prototyp in der Beta-Version (Anneke Meyer)
    Am 11. Juli 2013 gelingt einem Studiogast der "Großen Show der Naturwunder" im ZDF etwas Bemerkenswertes:
    "Und es funktioniert unglaublich gut!"
    Applaus brandet auf, als der Mann im Rollstuhl einen Apfel greift und herzhaft hineinbeißt.
    "Das ist dein Applaus!"
    Seine Hände sind durch eine Querschnittslähmung bewegungsunfähig. Dass er den Apfel trotzdem greifen und festhalten kann, verdankt er einer Neuroprothese: Einem mit Elektroden gefütterten Handschuh, der jene Nerven in seinem Unterarm stimuliert, die durch die Rückenmarksverletzung vom Gehirn abgeschnitten sind.
    Durch Bewegungen seiner Schulter kann der Patient die Greifhilfe steuern und seine gelähmte Hand wieder benutzen. Entwickelt hat die Prothese Rüdiger Rupp, Leiter der experimentellen Neurorehabilitation an der Universitätsklinik Heidelberg.
    Prothese ermöglicht das Zugreifen, aber keine normale Handfunktion
    "Die Neuroprothese stellt keine normale Handfunktion wieder her. Was wir können, ist: Wir können einem Menschen zwei grobe Griffe wieder anbieten. Das eine ist ein Schlüsselgriff, das andere ist ein Zylindergriff. Das sind zwar Griffe mit denen man viele Aufgaben des täglichen Lebens erledigen kann - man kann eine Gabel nehmen, man kann essen, man kann ein Glas greifen, man kann einen Stift greifen zum Unterschreiben, aber man kann natürlich nicht Klavier spielen."
    Gut drei Jahre ist es jetzt her, dass Entwickler und Erstanwender den Prototypen der Neuroprothese gemeinsam vorgestellt haben. Seitdem arbeitet Rüdiger Rupp darauf zu, dass der Greifhandschuh Teil der medizinischen Regelversorgung wird. Rüdiger Rupp im Gespräch mit seinem Patienten Sasa Blagojevic:
    "Mit welcher Erwartung sind sie denn zu uns gekommen? Was brauche ich quasi?" - "Dass ich halt mal packen kann. Und das dann, wenn ich was hab', ich das halt auch hab' und fertig."
    Sasa Blagojevic ist ein guter Kandidat für die Neuroprothese. Der Querschnittsgelähmte kann Schultern und Ellenbogen noch bewegen, nur seine Hände wollen nicht mehr so richtig zupacken. Rupp:
    "So, ich hab jetzt solche Klebeelektroden hier. Und was ich jetzt tue ist: Ich klebe diese Elektroden an Stellen auf, bei denen die Nerven stimuliert werden, die für die Fingerstreckung verantwortlich sind. Ich erhöhe jetzt den Strom, und das heißt ab einem gewissen Punkt müssten Sie etwas spüren."
    Nur bei jedem zweiten Patienten sind die Nerven hinreichend intakt
    Damit die Greifhilfe tatsächlich funktioniert, müssen die Nerven in der Hand noch intakt sein. Bei den 16 Patienten die Rüdiger Rupp bisher untersucht hat, war das nur bei jedem zweiten der Fall - und damit deutlich seltener als anfangs vermutet. Bei den anderen acht waren die Nerven zu stark beschädigt, um stimulierbar zu sein. Sasa Blagojevic aber hat Glück. Die Elektroden-Positionen müssen ein paar Mal verändert werden, aber dann schließt sich die Hand zu einem festen Griff. Rupp:
    "So jetzt wird's gut. Achtung, Achtung, Achtung! Ah! Da ist er ja!"
    Die Einzelteile der Neuroprothese werden mittlerweile von einer Firma hergestellt und vertrieben. Das ist nicht selbstverständlich, denn mit "nur" achtzigtausend Querschnittsgelähmten in Deutschland, ist der Markt sehr klein. Die rund fünftausend Euro, die das individuell angepasste Gerät kostet, übernimmt die Krankenkasse. Damit die Greifhilfe tatsächlich ein Plus an Lebensqualität bringt, muss man aber auch bereit sein, ein paar Mühen auf sich zu nehmen, erklärt Sasa Blagojevic:
    "Also grundsätzlich ist das natürlich eine super Sache. Und ja: Es ist auf jeden Fall eine große Hilfe. Die einzige Sache, die immer ein bisschen Probleme macht, ist halt die Anbringung des Gerätes."
    Die Praxistauglichkeit wird mit dem neuen Prototyp verbessert
    Der Prototyp der neuen Neuroprothese im Funktionstest.
    Der Prototyp der neuen Neuroprothese im Funktionstest (Anneke Meyer)
    An manchen Tagen reichen fünf Minuten bis der Elektroden-Handschuh richtig sitzt und die gelähmte Hand greifen kann. An anderen gelingt es auch nach einer halben Stunde noch nicht. Sasa Blagojevic trägt seine Prothese deshalb nur an Tagen, an denen er zupacken muss. Zum Beispiel, wenn er für sein Studium mit Büchern hantiert oder mit Freunden aufs Oktoberfest fährt.
    Ein optimierter Prototyp, der die Benutzung erleichtern soll, ist schon in der Mache. Der erste Test, in dem Anwender wie Sasa Blagojevic die neue Version des Handschuhs zuhause ausprobieren dürfen, soll in einem halben Jahr anlaufen.
    Fernziel ist die Steuerung per Gehirnaktivität - über eine Elektrodenmütze
    Für Rüdiger Rupp ist die Entwicklung der Neuroprothese damit aber noch lange nicht zu Ende. Niemand greift normalerweise, indem er die Schulter hebt. Um diese nicht besonders intuitive Steuerung zu erlernen, brauchen die Patienten etwa acht Wochen. Manche kommen nie so richtig damit zurecht. Das Fernziel des Prothesenbauers ist deshalb eine Greifhilfe, die genau wie eine echte Hand gesteuert wird: durch Gehirnaktivität. Die soll durch eine Mütze mit Elektroden abgegriffen werden:
    "Das ist allerdings wirklich noch Zukunftsmusik. Dass das funktioniert, das haben wir schon vor zehn Jahren zeigen können. Aber das wirklich in eine alltagstaugliche Technik zu bringen, dass dauert mindestens nochmal genauso lange."
    Showmaster: "Und ich sage Ihnen etwas: Wenn es soweit ist, dann kommen Sie wieder zu uns in die Sendung."

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