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Grenzen der Menschlichkeit

Seit der Flüchtlingstragödie vor der italienischen Insel Lampedusa steht Europas Einwanderungs- und Asylpolitik in der Kritik. Doch Italiens Rechte, darunter die PDL, will an ihrem bisherigen Einwanderungsgesetz festhalten und weiterhin die illegale Einreise als Straftatbestand behandeln.

Von Kirstin Hausen | 14.10.2013
    Italiens Außenminister Angelino Alfano war bestürzt, als er von dem Bootsunglück und dem Tod Hunderter Einwanderer vor der italienischen Küste erfuhr. Und als Erstes nahm er die Europäische Union in die Pflicht.

    "Europa muss diese Situation in die Hand nehmen! Diese Frauen, Kinder und Männer sind nicht gestorben, weil sie Ferien an unseren Stränden machen wollten. Das hier ist Europas Außengrenze, und diese Menschen haben Freiheit und Demokratie in Europa gesucht, deshalb muss die EU handeln, das ist kein rein italienisches Problem."

    Doch es war Alfanos Partei, die PDL, die in den vergangenen Jahren gemeinsam mit der ausländerfeindlichen Lega Nord die Einwanderungspolitik Italiens gestaltet hat und empfindlich auf Einmischung aus Brüssel reagierte. Die damalige Regierung Berlusconi fuhr eine harte Linie gegen die Bootsflüchtlinge. So wurden die meisten nach ihrer Ankunft in Aufnahmelagern interniert und dann ohne Asylverfahren in ihre Herkunftsländer abgeschoben.

    Um die Abschiebung reibungsloser zu machen, schloss der damalige Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord ein Abkommen mit Tunesien und Libyen, damals noch beherrscht vom inzwischen gestürzten und verstorbenen Diktator Gaddafi. Kritik aus Brüssel und Straßburg an dieser Praxis wurde zurückgewiesen.

    In einer Rede im Parlament verteidigte der damalige Lega Nord Fraktionssprecher Roberto Cota diese Linie als Interessenpolitik gegenüber dem italienischen Volk, das keine weitere Zuwanderung wünsche. Das Thema Immigration wurde mit dem Thema Sicherheit verknüpft, und das gesellschaftliche Klima gegenüber Einwanderern verschlechterte sich erheblich. Der Politikwissenschaftler Roberto Biorcio äußerte sich damals sehr besorgt:

    "Die Regierung hat die Angst der Menschen in eine bestimmte Richtung gelenkt. Nach außen, auf einen Sündenbock. Es ist also kein Zufall, dass in Italien ausländerfeindliches Verhalten zunimmt. Vor allem die Lega Nord gießt unablässig Öl ins Feuer und hat damit Erfolg. Ihr ist es gelungen, die Mehrheitsmeinung zu beeinflussen. Aus unseren Untersuchungen geht hervor, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft eine feindselige Haltung eingenommen hat."

    Unter dem Eindruck der Katastrophe mit Hunderten ertrunkener Flüchtlinge stellt sich die Situation anders dar. Die Einwohner Lampedusas und die Küstenbewohner insgesamt sind überwiegend hilfsbereit und mitfühlend, das ganze Land ist betroffen angesichts der hohen Opferzahl. Doch die Angst vor "zu vielen Einwanderern", die gerade in Norditalien immer wieder zu spüren ist, ist nicht verschwunden. Die Soziologin Laura Zanfrini erklärt sie historisch.

    "Historisch gesehen gibt es einen großen Unterschied zwischen Italien und den Ländern Nordeuropas. Italien hat sich nicht bewusst entschieden, Ausländer ins Land zu holen und keine aktive Einwanderungspolitik betrieben. Italien ist zu einem Einwanderungsland geworden, ohne es zu wollen."

    Und es hadert immer noch mit dieser Entwicklung. Einwandern darf nur, wer bereits einen Arbeitsvertrag und eine Aufenthaltsgenehmigung hat. Eine unrealistische Regelung, denn die wenigsten italienischen Arbeitgeber stellen jemanden ein, den sie noch nie gesehen haben. In Wirklichkeit suchen die Immigranten Arbeit, wenn sie schon im Land leben. Illegal, oft mehrere Jahre lang. Das Problem des unkontrollierten Zuzugs hat das Gesetz also nicht gelöst.

    Laura Boldrini, bis 2012 Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissariats und heute Abgeordnete der Partei "Linke, Ökologie, Freiheit" sowie Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer:

    "Es ist illusorisch, zu glauben, dass Menschen, die nichts zu verlieren haben, sich von härteren Maßnahmen abschrecken lassen."

    Die Rechte, darunter die PDL, will aber an dem bisherigen Einwanderungsgesetz festhalten und auch die illegale Einreise weiterhin als Straftatbestand behandeln. Regierungschef Enrico Letta sitzt wieder einmal zwischen allen Stühlen. Unterdessen reißt der Flüchtlingsstrom nicht ab. Seit vergangener Woche sind mehrere Boote mit Hunderten von Menschen im südlichen Mittelmeer gesichtet worden.