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Grenzenloses Estland

Die Regierung in Tallinn in Estland sorgt sich seit dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien um die eigene Integrität. Denn nach wie vor haben Estland und Russland keinen Grenzvertrag ratifiziert. Mitte der 90er-Jahre war es auch schon einmal fast so weit: Beide Seiten standen kurz vor der Unterzeichnung. Dann aber machte Moskau einen Rückzieher. Estland wurde dennoch Mitglied der Europäischen Union. Seither haben sich die Beziehungen zu Russland immer weiter eingetrübt. Von Berthold Forssman und Friederike Schulz

26.08.2008
    Wie immer bei schönem Wetter nutzt Tarmo Tammiste seine Mittagspause für einen kleinen Spaziergang am Ufer der Narva, dem Grenzfluss im Osten Estlands. Tarmo Tammiste ist Bürgermeister der gleichnamigen Stadt Narva. An der Burgmauer der mittelalterlichen Hermannsfeste bleibt er stehen, blickt zum anderen Flussufer. Dort, nur wenige hundert Meter entfernt, erhebt sich eine weitere trutzige Burg. Sie gehört zur russischen Stadt Iwangorod. Der Fluss bildet die Grenze. Der Bürgermeister zeigt hinüber.

    "Das ist so ein ganz eigenartiges Gefühl, dass hier ein Land endet und dort drüben auf der gegenüberliegenden Seite ein anderes Land anfängt. Das ist eine interessante Stelle, und wenn Staatsgäste aus dem Ausland kommen, dann gehen wir immer hierher. Die Besucher wollen dann gar nicht glauben, dass hier die Außengrenze der EU ist und auf der anderen Seite wirklich Russland beginnt."

    Dabei bildet der Fluss Narva noch gar nicht so lange die Grenze. Vor dem Krieg verlief sie weiter östlich. Die Städte Narva und Iwangorod auf der anderen Flussseite bildeten eine Doppelstadt. Nach der Annexion Estlands durch die Sowjetunion wurde die Grenze bis zum Fluss verschoben. Als Estland Anfang der Neunzigerjahre seine Unabhängigkeit zurückerhielt, wurde der Grenzverlauf nicht geändert. Doch Estland fand sich damit ab. Daran wird sich auch nichts mehr ändern, glaubt auch Tarmo Tammiste:

    "Die Grenze als solche existiert längst, es gibt Zoll- und Passkontrollen, aber die Grenze ist zwischen den Staaten nicht vertraglich festgelegt. Das sollte natürlich nicht so sein."

    Darum unternahmen Estland und Russland Mitte der 90er-Jahre einen Anlauf für einen Grenzvertrag. Das Dokument passierte das estnische Parlament in Tallinn, aber in letzter Sekunde verweigerte die Duma in Moskau ihre Zustimmung. Marko Mihkelson, Vorsitzender des parlamentarischen Europa-Ausschusses in Tallinn, vermutet als Grund, Russland habe Estland Steine in den Weg legen wollen:

    "Vermutlich hatte Russland damals geglaubt, es könne den Beitritt Estlands zur EU und zur NATO verhindern oder erschweren, aber Estland ist trotzdem Mitglied beider Organisationen geworden und gehört heute sogar auch zum Schengen-Raum. Wir sehen, dass dieser Grenzvertrag bzw. sein Fehlen nicht zum Hindernis geworden ist. Stattdessen sehen wir diese langen Schlangen an den Grenzen in Richtung Russland. Die gibt es aber auch in anderen Ländern, und da erkennen wir, dass das nicht nur ein estnisches Problem ist. Finnland hat einen Grenzvertrag, und trotzdem stehen dort endlose LKW-Schlangen."

    Estland war sogar bereit, auf seine Gebiete auf der anderen Flussseite zu verzichten. In einem Punkt aber gab es für Tallinn keinen Kompromiss: Der Grenzvertrag sollte in seiner Präambel auf ein Abkommen aus der Vorkriegszeit verweisen. Darin erkannte die Sowjetunion Estland als unabhängigen Staat an. Hätte Moskau allerdings heute dieser Präambel zugestimmt, wäre dies dem Zugeständnis gleichgekommen, Estland 1940 völkerrechtswidrig besetzt zu haben. Eine Forderung, von der die estnische Regierung auch in Zukunft nicht abrücken wird, meint der Abgeordnete Marko Mihkelson:

    "Wir haben früher gesehen, dass die estnisch-russischen Beziehungen immer wieder so weit waren, dass russische Politiker und Diplomaten sagten, es werde neue Möglichkeiten und Chancen geben, wenn Estland in bestimmten Punkten einlenke. Aber ich erinnere daran, dass Estland bereits einseitig auf Ansprüche auf zweitausend Quadratkilometer Territorium verzichtet hat, auf die es laut dem Friedensvertrag von Tartu aus dem Jahr 1920 Anrecht gehabt hätte, und das geschah in der Hoffnung auf eine Normalisierung der Beziehung, aber heute sehen wir, daß das nicht eingetroffen ist."

    Auch Narvas Bürgermeister Tarmo Tammiste ist skeptisch, dass es in absehbarer Zeit zu einer Vertragsunterzeichnung kommen wird. Schließlich habe sich das Klima zwischen beiden Ländern in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert. Die regelmäßigen Streitigkeiten um Erdöllieferungen seien nur ein Indiz dafür. Die Bürger seiner Stadt hätten sich damit jedoch abgefunden. Für den Streit um den Grenzvertrag interessiere sich in Narva niemand mehr:

    "Dieser Vertrag wirkt sich nicht auf das Leben in Narva aus. Für die normalen Leute ist das irgendein Papier, das irgendwelche Präsidenten oder Premiers unter sich hin und herschieben, sie aber nicht wirklich berührt. Für die Leute ist heute beispielsweise die Frage der Schlangen an den Grenzen viel entscheidender als die Frage, ob es diesen Vertrag gibt oder nicht."

    In Narva hat man längst einen gesunden Pragmatismus entwickelt. Mag das Verhältnis zwischen Estland und Russland angespannt sein, Narva und das russische Iwangorod haben Mittel und Wege gefunden, die Probleme des Alltags gemeinsam anzugehen. Tarmo Tammiste ist seit langem per Du mit seinem Amtskollegen in der Nachbarstadt und telefoniert regelmäßig mit ihm. Zwischenstaatliche Probleme löst er am liebsten auf dem kurzen Dienstweg:

    "Auf der staatlichen Ebene, auf den Korridoren der Macht, in der hohen Politik, zwischen den Parlamenten, da sind die Beziehungen so wie sie sind. Aber zu unserer Nachbarstadt Iwangorod haben wir ein ausgezeichnetes Verhältnis. Es wäre sehr seltsam, wenn wir nicht vernünftig miteinander umgehen würden, wo wir doch vis-à-vis am selben Fluss leben. Wir klammern einfach die hohe Politik aus."