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Grenzsicherung
Einsatz der Bundeswehr "weder praktikabel noch akzeptabel"

Die Sicherung der Grenzen durch die Armee sei kein Modell für Deutschland, sagte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, im Deutschlandfunk. Das Grundgesetz beschränke den Einsatz der Streitkräfte auf absolute Notfälle. In so einer Situation sei die Bundesrepublik trotz der vielen ankommenden Flüchtlinge nicht.

Harald Kujat im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 22.10.2015
    Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat
    Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat (imago stock & people)
    Den Einsatz von Militär gegenüber Flüchtlingen empfindet Harald Kujat als Bild, "das wir im Europa des 21. Jahrhunderts nicht brauchen können". Grenzen mit Hilfe von Soldaten zu schützen, sei nicht mehr zeitgemäß. "Es muss Möglichkeiten geben, dieses Problem auf andere Weise zu lösen. Wir haben einen funktionierenden Staat, wir haben funktionierende Ordnungssysteme, und zwar in ganz Europa, nicht nur in Deutschland, in ganz Europa", sagte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, im Deutschlandfunk.
    "Ich denke mal, dass kein Mensch daran denkt, dass es ein gutes Bild abgeben würde, wenn wir nun Zäune errichten würden an den deutschen Grenzen", so Kujat. Das Grundgesetz beschränke den Einsatz der Streitkräfte auf absolute Notfälle. In so einer Situation sei Deutschland nicht, so Kujat. Kujat betonte: "Es geht nicht darum, jetzt eine Abwehrfront an den Grenzen aufzubauen, um Flüchtlinge abzuwehren, sondern es geht um einen ordnungsgemäßen Ablauf, nicht um katastrophale Bilder, wie wir sie im Augenblick ja auf dieser sogenannten Balkan-Route sehen."
    Mit Blick auf das Außenministertreffen zur Syrienkrise am Freitag in Wien sagte er, dass sich bei den beiden Großmächte USA und Russland die Vernunft durchsetzen müsse. "Es ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt, wenn es wirklich darum geht, diesen Flüchtlingsstrom zu unterbinden."

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Angesichts steigender Flüchtlingszahlen fühlen sich immer mehr Länder vor allem auf der sogenannten Westbalkan-Route überfordert. Am deutlichsten wird das in diesen Tagen in Slowenien. Jeden Tag kommen dort mehrere Tausend Flüchtlinge an, die meisten aus dem Nachbarland Kroatien. Zur Sicherung dieser Grenzen zum Nachbarland hat das slowenische Parlament gestern beschlossen, Soldaten einzusetzen, auch und vor allem, um die Einwanderung zu kontrollieren.
    Am Telefon ist jetzt Harald Kujat, der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Schönen guten Morgen, Herr Kujat.
    Harald Kujat: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
    Armbrüster: Herr Kujat, wir haben es gerade gehört: Slowenien macht es vor, Grenzen Schützen mithilfe von Soldaten, mitten in Europa, mitten in der EU. Ist das noch zeitgemäß?
    Kujat: Nein, das ist sicherlich nicht zeitgemäß. Aber man muss bedenken: Slowenien ist ein kleines Land und wird von den Problemen einfach überwältigt. Es ist eigentlich ein Bild, das ein Armutszeugnis für Europa insgesamt zeigt, und das ist, finde ich, sehr bedauerlich.
    Armbrüster: Warum ein Armutszeugnis?
    Kujat: Ich meine, es müsste doch Möglichkeiten geben, dass andere Länder, die nicht so von dieser Flutwelle von Flüchtlingen betroffen sind, hier helfen können. Auch die Europäische Union müsste hier helfen können. Ich persönlich kann das nicht verstehen, warum das nicht möglich ist.
    Armbrüster: Helfen können mit Soldaten?
    Kujat: Nein, eben nicht mit Soldaten, gerade um dieses Bild zu vermeiden, dass wir Soldaten einsetzen müssen, um mit diesem Problem fertig zu werden.
    Armbrüster: Nun wird ja, Herr Kujat, auch bei uns in Deutschland immer häufiger über die Sicherung der deutschen Grenzen geredet. Wäre das im Notfall auch ein Modell hier für uns, Bundeswehrsoldaten an der Grenze beispielsweise zu Österreich?
    Kujat: Nein. Ich denke, das ist kein Modell für Deutschland. Das Grundgesetz beschränkt ja den Einsatz der Streitkräfte der Bundeswehr im Innern auf absolute Ausnahmefälle. Und wenn wir einmal absehen davon, von einem inneren Notstand, von der Gefahr für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, dann gibt es im Grunde nur die Unterstützung der Polizei in Fällen einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalles, und das ist ja hier nicht der Fall.
    "Es ist keine Naturkatastrophe und es ist auch kein besonders schwerer Unglücksfall"
    Armbrüster: Das ist auch dann nicht der Fall, wenn unkontrolliert Zehntausende von Menschen über die deutsche Grenze kommen?
    Kujat: Das ist auch dann nicht der Fall, denn die Verfassung sagt ausdrücklich, es gibt nur die Fälle, die in der Verfassung genannt werden, bei denen die Streitkräfte eingesetzt werden. Es heißt dort ausdrücklich: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt." Und damit kommen eigentlich nur die beiden Fälle in Betracht, die ich eben genannt habe, und davon kann man nicht reden. Es ist keine Naturkatastrophe und es ist auch kein besonders schwerer Unglücksfall.
    Armbrüster: Wie könnte man denn die Außengrenzen von Deutschland wirklich abriegeln, wenn man es unbedingt wollte?
    Kujat: Nun, ich denke mal, dass kein Mensch daran denkt, dass es ein gutes Bild abgeben würde, wenn wir nun Zäune errichten würden an den deutschen Grenzen. Wir haben ja in der Vergangenheit uns darum bemüht, Trennendes niederzureißen in Deutschland. Ich denke jetzt an die Zonengrenze oder die Grenze zur DDR. Nein, diese Bilder, glaube ich, können wir nicht gebrauchen.
    Aber wir haben eine Polizei, eine Bundespolizei, die ja früher sogar einmal Bundesgrenzschutz hieß, die nach meiner Auffassung durchaus in der Lage wäre, hier eine Kontrolle zu übernehmen. Es geht ja auch nur um eine Kontrolle. Es geht ja nur darum, einen ordnungsgemäßen Ablauf sicherzustellen. Es geht nicht darum, jetzt eine Abwehrfront an den Grenzen aufzubauen, um Flüchtlinge abzuwehren, sondern es geht um einen ordnungsgemäßen Ablauf, nicht um katastrophale Bilder, wie wir sie im Augenblick ja auf dieser sogenannten Balkan-Route sehen.
    "Wir müssen an die Ursachen dieses Problems gehen"
    Armbrüster: Etwas dramatischer sind die Bilder ja tatsächlich an den Außengrenzen der EU. Wir haben das gesehen unter anderem in Griechenland, aber natürlich auch in Ungarn. Wäre das denn theoretisch möglich, dass die Bundeswehr dort zum Einsatz kommt, beispielsweise anderen EU-Ländern hilft, ihre Grenzen zu sichern?
    Kujat: Ich weiß nicht, ob das möglich wäre. Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass wir auch diese Bilder überhaupt nicht akzeptieren können. Ich finde überhaupt den Einsatz von Militär in einer solchen Situation gegenüber Flüchtlingen als ein Bild, das wir in Europa im 21. Jahrhundert überhaupt nicht gebrauchen können. Es muss Möglichkeiten geben, dieses Problem auf andere Weise zu lösen. Wir haben einen funktionierenden Staat, wir haben funktionierende Ordnungssysteme, und zwar in ganz Europa, nicht nur in Deutschland, in ganz Europa. Es muss möglich sein, mit diesem Problem auf andere Weise fertig zu werden. Und im Übrigen muss man immer wieder sagen: Wir müssen an die Ursachen dieses Problems gehen. Wir müssen verhindern, dass sich überhaupt Menschen auf diese Weise in Bewegung setzen. Wir müssen ihnen dort helfen, wo sie Hilfe benötigen, und wir müssen die Ursachen beseitigen, den Krieg beenden.
    Armbrüster: Herr Kujat, da würde ich Ihnen gleich gerne noch eine Frage zu stellen. Aber lassen Sie uns kurz noch bleiben bei der Rolle auch der Bundeswehr, denn bei der Abschiebung von Flüchtlingen, da soll sie ja jetzt offenbar helfen. Das wird zumindest in Berlin diskutiert, unter anderem mit ihren eigenen Flugzeugen. Ist so ein Einsatz von Bundeswehrsoldaten und Bundeswehrgerät in Ordnung?
    Kujat: Auch hier ist es ja so: Wir haben ja genügend zivile Flugkapazität. Ich kann überhaupt nicht verstehen, weshalb man militärische Transportflugzeuge, die ja ohnehin nur eine ganz begrenzte Kapazität haben, für diese Zwecke vorsehen soll. Und ich bin auch der Meinung, dass hier Bilder entstehen, Bilder, die einen falschen Eindruck erwecken, als würde man die Streitkräfte benötigen, um mit diesem Problem fertig zu werden. Das sind Bilder, das sind Einsätze für die Bundeswehr, die ich nicht sehen möchte, und ich glaube auch, dass Deutschland nicht in einer so schwierigen Situation ist, dass das erforderlich ist.
    Einsatz von Bundeswehrsoldaten nicht "praktikabel"
    Armbrüster: Dann würden Sie also sagen, nur dass wir das kurz festhalten können: Kein Einsatz von Bundeswehrsoldaten, auch nicht von Bundeswehrgerät bei der Abschiebung von Flüchtlingen?
    Kujat: Nein! Es ist weder praktikabel, noch ist es ein akzeptables Bild, das damit entsteht.
    Armbrüster: Herr Kujat, wenn wir jetzt über Militär in der Flüchtlingskrise sprechen, dann müssen wir natürlich - Sie haben es gerade schon gesagt - über die Ursachen dieser Bewegung sprechen, über den Krieg in Syrien. Immer deutlicher wird da ja in diesen Tagen, dass Russland dort inzwischen eine entscheidende Rolle spielt, und zwar ohne sich mit dem Westen, auch nicht mit der von den USA geführten Koalition wirklich abzusprechen. Spielt Putin dort in Syrien mit dem Feuer?
    Kujat: Ich denke, dass wir im Augenblick eine Entwicklung haben, bei der man zumindest den Eindruck haben kann, dass sich die Vernunft durchsetzt. Wir haben inzwischen eine Vereinbarung zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, die verhindern soll, dass es dort zu Kollisionen in diesen Einsätzen zwischen den Militärs kommt, was ich für ganz, ganz wichtig halte, denn das würde eine weitere Eskalation bedeuten.
    Armbrüster: Aber, Herr Kujat! Entschuldigung, dass ich kurz unterbreche. Wir hören aber auch, dass die Luftschläge der russischen Luftwaffe auch dazu geführt haben, dass sich erneut Zehntausende von Menschen auf den Weg machen in Richtung Europa.
    Kujat: Ja, das ist richtig. Das ist ja immer bei militärischen Einsätzen so, dass sie erneut wieder Flüchtlingsströme auslösen. Wie viele Flüchtlinge das tatsächlich sind, das wissen wir nicht genau. Wir hören das ja sozusagen aus zweiter Hand. Ich denke einmal, dass es vor allen Dingen darum geht, dass sich die beiden Großmächte, nämlich Russland und die Vereinigten Staaten, an einen Tisch setzen und versuchen, ein gemeinsames Vorgehen abzusprechen, und dazu wird es ja nun Gott sei Dank am Freitag kommen. Die Außenminister treffen sich in Wien und ich hoffe, dass sich die Vernunft durchsetzt und damit dann auch solche Flüchtlingsbewegungen, neue Flüchtlingsbewegungen weitgehend vermieden werden können.
    Armbrüster: Da würde ich aber schon gern wissen: Woher nehmen Sie diesen Optimismus?
    Kujat: Man muss in einer solchen Situation optimistisch sein. Man muss immer optimistisch sein, dass sich letztlich die Vernunft durchsetzt. Ich hoffe das sehr und wir sehen ja auch, dass unser Außenminister Steinmeier sich hier wirklich nun persönlich ganz besonders dafür einsetzt, dass es zu solchen Begegnungen und zu Absprachen kommt. Ich hoffe sehr, dass er Erfolg hat. Im Augenblick ist es Hoffnung, das muss ich zugeben, aber es ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt, wenn es wirklich darum geht, diesen Flüchtlingsstrom zu unterbinden. Denn wir wissen ja alle, dass noch viele Millionen Syrier in den benachbarten Ländern, im Libanon und in Jordanien sind, und dass im Lande selbst auch viele Millionen Menschen auf der Flucht sind. Wenn die alle nach Europa kommen, dann ist auch Europa von diesem Problem überwältigt.
    Armbrüster: Der Bundeswehrgeneral a.D. Harald Kujat war das live hier bei uns in den "Informationen am Morgen". Herr Kujat, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit und für das Interview.
    Kujat: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.