Donnerstag, 18. April 2024

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Grenzüberschreitungen

Im Folgenden begegnen Namen, die auf dem Markt der Neuen Musik exotisch, genauer gesagt orientalisch, wenn nicht asiatisch anmuten. In der Tat – es geht um Grenzüberschreitung. In den Kompositionen von Frangiz Ali-Zadeh, Nader Mashayekhi und Liu Qiqi, die ich Ihnen im Folgenden auf neuen Tonträgern vorstellen will, begegnen sich westliche Technik, östliches Denken, mittelasiatische Tradition.

Am Mikrofon Frank Kämpfer | 04.10.2009
    Musik 01
    Franghiz Ali-Zadeh, Ask haavasi
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 03
    << 03:40 – 5:50>>

    Ekstase, unmissverständliche Botschaft – der instrumentale Gesang ist beredt. Das Violoncello ermöglicht den raschen Aufstieg in flirrende Höhen – fortan klingt es zweistimmig – gefordert ist mit verdoppelter Stimme zu singen, wie ein Paar in seiner innigsten Zeit. Komponistin Franghiz Ali-Zadeh inspirierte ein orientalisches Liebessujet aus einem fernen Jahrhundert, in welchem Leyla, die Jungfrau, und Quays, der Jäger, beim ersten Blick und inmitten schöner Natur besinnungslos einander verfallen.

    Der musikalische Abdruck ist hoch emotional, ästhetisch indes letztendlich abstrakt. An Widmungsträger Ivan Monighetti, der das virtuose Stück 1998 in Tallin uraufgeführt hat, schrieb die Urheberin, Literaturbezug und folglich auch Komposition seien angesichts der Zynismen und Zerrissenheiten von heute ein Gegenentwurf, und man müsse an das Wichtigste, wo es verloren geht, immer wieder erinnern.

    Hier interessiert der musikalische Grenzgang. Franghiz Ali-Zadeh, geboren 1947 in Baku (Aserbaidshan), bündelt avancierte westliche Spieltechniken – zugleich birgt ihre Arbeit Verständnis und Klangwelt traditioneller Musik aus dem arabisch-orientalischen Raum. Quasi wie ein Mugam-Interpret, der je nach Stimmung und Mitteilungsabsicht improvisiert, hat der Cellist hier selbst zu entscheiden, wie oft er ein Motiv wiederholt, wie intensiv er welche Passage auskosten will.

    In diesem Fall handelt es sich um ein Nachwuchstalent, das seine Debüt-CD vorlegt. Konstantin Manaev, geboren 1983 in Ekaterinburg (Russland), derzeit Meisterschüler bei Monighetti in Basel, hat es für Classic-Clips eingespielt, das Label der GWK, der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit e.V., deren Förderpreis er vor einigen Jahren gewann.

    Die kürzlich erschienene Platte versammelt vier Werke Ali-Zadeh's mit Violoncello, bei denen der hochbegabte junge Solist beachtliche Virtuosität und Emotionalität ausbreiten kann. Höhepunkt der Produktion ist ein frühes Stück, mit dem die aserbaidschanische Komponistin und Kompositionslehrerin schon in den 1980er-Jahren weltweit Erfolge errang und bei dem sie hier selbst auch mitwirkt: Habil-sajahy für Violoncello und präpariertes Klavier zeigt weitaus weniger populistisch als spätere Kompositionen, dass Ali-Zadeh von Anfang an auf Synthesen ethnischer Tradition mit westlichen Avantgarde-Standards abzielt. Ihr Stück verweist auf die Kunst des aserbaidschanischen Kemantscha-Virtuosen Habil Alijew.

    Das melodische, quasi improvisatorisch entwickelte Material geht auf einen Mugam-Modus zurück, der für leidenschaftliche Erregung einsteht. Die zwei europäischen Instrumente imitieren: das Cello die Fidel Kemantscha, das (wie bei Cage) präparierte Klavier die Lauten Tar oder Ud und die Schellentrommel Däf:

    Musik 02
    Franghiz Ali-Zadeh, Ask haavasi
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 04
    < 07:35 – 10:15>>>

    Musik der aserbaidschanischen Komponistin Franghiz Ali-Zadeh – neu erschienen bei ClassicClips, dem Label der in Münster ansässigen Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit. Erhältlich über den Vertrieb Musikwelt Tonträger.

    Weitaus vielgestaltiger in der ästhetischen Breite offeriert sich eine deutsch-chinesische Produktion, die das Siemens Arts Programm und der Hessische Rundfunk realisierten. Zugrunde liegen Arbeiten sehr junger Komponistinnen und Komponisten aus China, die im Sommer 2008 wiederum von deutschen Ensembles in Frankfurt/Main vorgestellt wurden. Die entsprechende Doppel-CD mit dem Titel YOUNG CHINA wirkt zwar etwas künstlich gepusht – dennoch bietet sie Einblick in das, was an chinesischen Konservatorien derzeit als Avantgarde gelten mag beziehungsweise was Kompositionsstudenten dort als solche erfahren.

    Bemerkenswert wirken jene Arbeiten, in denen neben westlicher Orientierung die Auseinandersetzung mit dem asiatischen Erbe anklingt. Dies geschieht zum Teil offensiv, wo ein Urheber europäisches Instrumentarium um Pipa, Sheng und andere Instrumente bereichert – oder versteckter, wenn ein Geigenstück beispielsweise auf Melodik und Gestik von Peking-Oper basiert.

    Die vom Berliner Sonar Quartett dominierte zweite CD scheint mir tendenziell die substanziellere zu sein – die erste der Doppelausgabe jene mit mehr Vielfalt. Das Kammerensemble Neue Musik Berlin oder wie folgt das Ensemble Courage spannen hier den Bogen von Imitationen archaischer Klänge und Instrumente über neoromantischen Ausdruck bis hin zu Anflügen konkreter Musik.

    Zu den interessanten Arbeiten zählt Archaic Rhythme of Grace der 1983 in Chengdu geborenen Liu Qiqi, die derzeit in Sichuan studiert. Das dreiteilige Stück für Flöte, Klarinette, Streichquartett und Klavier sucht nach neuem Verständnis alter chinesischer Musik und Literatur und nähert sich Traditionellem wie hier im Mittelsatz Pflaumenblüte klanglich unverbraucht und unsentimental.

    Musik 03
    Liu Qiqi, aus: Archaic Rhytme of Grace
    Ensemble Courage, Ltg, M. Nawri
    CD hr-musik.de hrmn 040-09, LC 11252
    Disc 1 / Take 05

    YOUNG CHINA – 10 junge chinesische KomponistInnen, von Berliner Ensembles Neuer Musik aufgeführt. Die entsprechende Doppel-CD erschien dieser Tage beim Label des Hessischen Rundfunks hr-musik.de.

    Die dritte und letzte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, führt zurück nach Mittelasien. Komponist Nader Mashayekhi, Jahrgang 1958, entstammt einer Teheraner Künstlerfamilie. Er lebt allerdings seit 1978 in Wien, wo er bei Roman Haubenstock-Ramati und Dieter Kaufmann Komposition studierte, ein Ensemble und einen Musikverlag initiierte, multimedial und bi-kulturell zu arbeiten anfing.

    In Deutschland kennt man Masyhayekhi vor allem vom Osnabrücker Morgen-Land-Festival, wo er regelmäßig als Dirigent der Teheraner Sinfoniker gastiert.

    Keineswegs ist es Anspruch des Komponisten, die Sprache der europäischen Avantgarde und die Tradition seiner Heimat zusammen zu führen. Vielmehr werden sie als etwas nur schwer zu Verbindendes in unmittelbare Nähe zueinander gerückt, um auf beider Divergenz zu verweisen. Auf vorliegender CD, die beim Label Draier Gaido erschien, stehen sich die europäische Orchesterlied-Tradition und die persische Kunst der Improvisation auf maquam-Basis entgegen. Die Form der dastgah – eine Abfolge von Instrumentalparts einerseits und begleiteten Gesängen andererseits, welche sich in quasi rezitativische und liedhafte Abschnitte gliedern – fungiert hier als Brücke. Improvisierter traditioneller Gesang und komponierte Orchesterpassagen begegnen versetzt oder dicht ineinander geschoben.

    Die deklamierten Verse entstammen dem Oeuvre des mystischen persischen Dichters Moulana, der einem der Werke auch den Titel verleiht: vier Versblöcke offerieren Varianten der Liebe von der Treue des Gott-Liebenden bis zur Befreiung im Tod. In der zweiten, knapp halbstündigen Komposition fie ma fie II sind irdische und himmlische Liebe gegenübergestellt, wird ein Leben ohne Liebe als sinnlos beklagt. Der traditionelle Sänger Salar Aghili setzt derlei höchst nuancenreich um, das Münchner Rundfunkorchester unter Frank Cramer hat sich auf ein experimentelles wie expressives Spielfeld begeben, in dem es hoch aufgeschichtete statische Akkordflächen gibt, fast glissandierende Viertelton-Strecken und extrem reduzierte, perkussive Begleitung des Sängers am Rande des Klangs.

    Musik 04
    Nader Mashayekhi, Ask haavasi
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 01
    < 23:19 –>>>

    Musik von Nader Mashayekhi – eingespielt vom Münchner Rundfunkorchester mit Salar Aghili als Sänger. Diese CD-Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk ist kürzlich beim Label Dreyer Gaido erschienen. Zuvor habe ich Ihnen bei ClassicClips in Münster erschienene Violoncellomusik von Frangiz Ali-Zadeh und sowie ein bei hr2-musik.de Werk der jungen Chinesin Liu Qiqi
    angespielt. Soweit für heute DIE NEUE PLATTE, ausgewählt von Frank Kämpfer.


    MUSIKLAUFPLAN

    01
    Franghiz Ali-Zadeh, Ask haavasi
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 03
    dar.
    2:10

    02
    Franghiz Ali-Zadeh, Habil-sajahy
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 04
    dar. 2:40

    03
    Liu Qiqi, Anarchic Rhythme of Grace
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 05
    2:53


    04
    Nader Mashayekhi, Ask haavasi
    CD GWK CLCL 109, LC 14871
    Take 01
    dar. 3:30