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Grenzwelten

In seinem ersten Roman "Handbuch für Detektive" führt Jedediah Berry den Leser in eine eigenartige, fast surreale Welt. Vielleicht ist es deshalb hilfreich zu wissen: Der Autor selbst war einst Schlafwandler.

Von Gabriela Jaskulla | 06.08.2010
    "Doch selbst angesichts eines so gewaltigen Berges von Aufgaben, die vor ihm lagen, musste Unwin immer wieder an den Traum zurückdenken, der ihn vor dem Erwachen heimgesucht hatte, jene Ausgeburt seines Schlafes, die ihn erschüttert und so sehr in Beschlag genommen hatte, dass er seine Hafergrütze anbrennen ließ und die Frau im karierten Mantel fast verpasst hätte. Er war von Natur ein gewissenhafter Träumer und konnte sich seiner nächtlichen Ausflüge ins Reich der Phantasie stets mit einer Klarheit erinnern, die seines Wissens selten war. An den Schrecken einer solch eindringlichen Vision, die so gar nicht seinem Geist entsprungen zu sein schien, war er freilich nicht gewöhnt."

    Daran gewöhnt man sich auch nur schwer: an einen Putzmann, der schlafwandelt beim Putzen. An einen Wanderzirkus,der nicht mehr wandert, an ein Pokerspiel, bei dem man das Recht zu fragen gewinnen kann, an Leute, die den 12. November stehlen.

    Eine ganz eigene und eigenartige Welt entwirft Jedediah Berry in seinem ersten Roman. Im Zentrum: Ein Detektiv, natürlich einer wider Willen, mit dem sprechenden Namen Unwin. Eigentlich arbeitet er als Sekretär in einer mysteriösen Detektei, und eigentlich ist er nur auf der Suche nach seinem Chef, eben Detektive Travis Sivart. Auch das ein komischer Kauz, auch hier signalisiert es schon der Name: Travis heißt vorn und hinten gleich, der Nachname ist ein Akronym. Solche sprachwissenschaftlichen Spitzfindigkeiten allerdings helfen kein bisschen oder schlimmer noch: nur ein ganz kleines bisschen weiter, dann stößt man an die nächste Mauer, den nächsten Augenzeugen, der einfach einschläft, lauter somnambule Gestalten sowieso in einer Stadt, in der es anscheinend andauernd regnet:

    "Der Alte schloss ... noch immer feucht."

    "Als Kind war ich ein Schlafwandler. Einmal fand ich mich sogar mitten auf der Straße wieder, nur teilweise angezogen, aber bereit, zur Schule zu gehen – nur, dass es noch zwei Stunden zu früh war. Ich habe also eine starke, seltsame Beziehung zum Schlaf und zu Träumen. Immer schon hatte ich ein intensives Traumleben. Für mich bedeutet Träumen eine bestimmte frühe und reine Form des Geschichtenerzählens. Es sind Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um Sinn herzustellen in unserem Leben – oder um ihn gerade zu zerstören."

    Jedediah Berry hört ähnlich genau auf seine Träume wie sein Schreiber-Detektiv Unwin. Und er charakterisiert ihn ausschließlich über seine "Nachtseite", also Ängste, Obsessionen, Sehnsüchte. Wir erfahren kein Wort darüber, wie Unwin aussieht, wohl aber einiges über seine Besessenheit mit feuchten Klamotten, insbesondere nasse Socken, über seine Sucht, labbrige Sandwiches zu essen, das Fixiertsein auf tickende Wecker und klackernde Schreibmaschinen. Es ist, als sei das normalerweise gut verborgene Innere eines Menschen einfach nach außen gekehrt – deshalb hat das Buch etwas Skurriles, Phantastisches – gleichzeitig aber gehen einem die Figuren auch nah, weil sie seltsam schutzlos wirken, verletzlich. Der Mensch – ein nach außen gewendeter Strumpf – alle Nähte offen, alle schadhaften Stellen sichtbar.

    Natürlich ist der sensible Autor-Träumer Berry gleichzeitig ein ausgefuchster Leser und wahrscheinlich auch Cineast, und so finden sich in dem 400-Seiten-Buch zahlreiche Verweise auf Kafkas seltsam geschlossene Welten, ja eigentlich gerät man als Leser ziemlich rasch in eine Art "Mäusezirkus", und genau so nervös wie die eingesperrten, mit Tricks und Futter betrogenen Tiere wird man selbst, wenn man Kapitel für Kapitel dem "Handbuch für Detektive" folgt. Es tut ja so, als sei es eine Einweisung, erweist sich aber mehr und mehr als eine Irreführung. Allerdings eine ironische, eine zutiefst komische, und so drängt sich mehr noch als der Vergleich zu Borges oder dem verehrten Calvino jener zu Michael Chabon auf, dem kalifornischen Erfolgsautor, der seinen Detektiv Meyer Landsmann in einer Fantasiekolonie jüdischer Emigranten sarkasmussatt auf Mörderjagd schickte, in einer "Vereinigung jiddischer Polizisten", ausgerechnet in Alaska. Berry, dem jungen Autor aus Massachussetts, fehlt es vielleicht am Zynismus der Metropolenbewohner – dafür hat sein Text etwas Spielerisches, gleichwohl Zwingendes.

    "Als Leser möchte ich mit dem Autor einig sein, ich möchte mit ihm übereinstimmen. Also versuche ich herauszufinden, was er vorhat und was er denkt. Wenn ich nun als Autor über Literatur nachdenke, dann als ein Spiel, das eine Art offener Einladung bedeutet. Es ist kein geschlossenes Ganzes, sondern etwas, das Autor und Leser gemeinsam entwickeln. Das finde ich aufregend, und darum habe ich dieses Buch so geschrieben, dass sich der Leser hoffentlich angeregt fühlt, auf das Spiel einzusteigen. Jeder ist heutzutage total vertraut mit den Gesetzen des Mystery-Genres, jeder sagt: Ich weiß, wie das funktioniert – okay, dann lasst es uns zusammen machen!"

    Vielleicht liegt es an der offenen, freien Form, dass der Roman so europäisch wirkt. Durch schnelle Schnitte, auf die unvermittelt Rückblenden, Traumsequenzen oder Halluzinationen auch wie europäisches Kino. Als verwirrten Agenten wider Willen könnte man sich Jean Gabin vorstellen, als Angestellten in jener seltsamen Agentur Lino Ventura. Alle tragen graue Mäntel und Hüte mit breiten Aufschlägen. Alle lieben Frauen, die nur müde lächeln, statt zurückzulieben, und allen wird genau das zum Verhängnis werden. Nicht umsonst hat die mysteriöse "Frau im karierten Mantel" – "Falltüraugen" oder "Augen in der Farbe eines beschlagenen Spiegels", nicht umsonst heißt die neunmalschlaue Sekretärin Emily "Doppel". Und so hat man am Ende der spannenden und amüsanten Lektüre gleich mehrfachen Gewinn: Vorzügliche Unterhaltung, ein literarisch ambitioniertes Spiel und den sicheren Eindruck, einen neuen Autor gefunden zu haben. Man folgt ihm bereitwillig und mit wohligem Grusel durch seltsame Gegenden des Krimigenres und der Literatur.

    Jedediah Berry: "Handbuch für Detektive".
    C.H. Beck Verlag, München 2010, 383 Seiten, 19,95 Euro