Fachzeitschrift "Theater der Zeit"

Denkwürdiges Jubiläum

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Szenenfoto aus dem "Kaufmann von Berlin" 2010 an der Volksbühne.
"Berlin, da bin ich, wo bist Du?" Szenenfoto aus dem "Kaufmann von Berlin" 2010 an der Volksbühne. © picture-alliance / Eventpress Hoensch | Eventpress Hoensch
Von Oliver Kranz · 05.06.2021
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Die Zeitschrift "Theater der Zeit" gehört zu den wenigen Publikationen aus der DDR, die es heute noch gibt. Inzwischen erscheint sie im eigenen Verlag und gibt auch Theaterbücher und CDs heraus. Ein Besuch beim 75. Geburtstag.
Christian Friedel von der Band Woods of Birnam hat "Theater der Zeit" einen musikalischen Geburtstagsgruß geschickt. Seine Bühnenmusik erscheint auf dem Label Hook Music, das seit sechs Jahren zu "Theater der Zeit" gehört.
Geschäftsführer Harald Müller sagt über das Portfolio des Verlags: "Stück für Stück haben wir uns erweitert. Zunächst war es eine Zeitschrift, dann kamen die Bücher, dann das Musiklabel und dann die Buchhandlung. Wir dachten, das eine stützt das andere und bildet insgesamt einen schönen Ring zur Rettung des Labels von 'Theater der Zeit'."
Müller ist seit 1992 Geschäftsführer. Nach der Wiedervereinigung hing die Existenz der Zeitschrift am seidenen Faden, heute gilt sie als Fels in der Brandung. Mit all seinen Subunternehmen ist der Verlag eines der wichtigsten Theatermedienhäuser im deutschsprachigen Raum.

Lesehunger nach dem Krieg

Die erste Ausgabe der Zeitschrift erschien am 1. Juni 1946 mit Genehmigung der sowjetischen Militäradministration. Paul Tischler aus der Presseabteilung des Verlages ordnet die Gründung so ein:
"Die Alliierten haben Deutschland neugeordnet und Verlagslizenzen nur an diejenigen erteilt, die zur Nazizeit nicht verlegerisch tätig waren, so eben auch an Bruno Henschel, der bis 1945 als Dreher arbeitete und Inhaber eines Milchgeschäftes war."
Henschel hatte vor der Nazizeit den Volksbühnen-Verlag geleitet. Er hatte gleich nach Kriegsende ein Redaktionsteam in seiner Privatwohnung versammelt und das Erscheinen der Zeitschrift vorbereitet. Die Konkurrenz durch andere Medien war überschaubar, der Lesehunger der Bevölkerung groß.
So kam es, dass "Theater der Zeit" in der heute gigantisch anmutenden Auflage von 50.000 Exemplaren erschien. Als Chefredakteur wurde Fritz Erpenbeck verpflichtet, der in seinem ersten Leitartikel beschrieb, worum es in der Zeitschrift gehen sollte: nicht "Zeittheater", sondern "Theater der Zeit".
Nicht das Flüchtige der Bühnenkunst sollte festgehalten werden, sondern das Bleibende. Der hehre Anspruch wurde natürlich nicht immer eingelöst. Wenn man alte Ausgaben zur Hand nimmt, fällt aber auf, wie genau die Aufführungen beschrieben werden – nicht nur Stücktexte und Schauspielerleistungen, sondern auch Bühnenbilder und Kostüme.
Wer sich über das Theater der DDR informieren will, kommt um "Theater der Zeit" kaum herum. Harald Müller hat die Zeitschrift vor dem Mauerfall trotzdem kaum gelesen:
"Seit 1946 bis zur Wende befand sich 'Theater der Zeit' in einer scheinbar nicht enden wollenden Ära von staatlicher ideologischer Inanspruchnahme. Das ist eine ganz wichtige Erfahrung für mich als damals junger Mann in den Achtzigerjahren."

"Dinge, die unmöglich sind, machen besonders viel Spaß"

Harald Müller lebte in Ostberlin und fühlte sich der oppositionellen Literaturszene verbunden. Wer nicht aufbegehrte, war ihm suspekt. Kathrin Tiedemann, heute Leiterin am FFT Düsseldorf, lebte hingegen in Westberlin:
"Ich habe Theaterwissenschaft an der FU studiert, aber in der Bibliothek auch 'Theater der Zeit' gelesen. Ich mochte auch dieses schöne holzhaltige Papier. Es ist eine ganz andere Art von Journalismus gewesen, als man ihn von 'Theater Heute' kannte."
Verdiente Ehrung: Kathrin Tiedemann (re.), Leiterin des "Forum Freies Theaters" wird von Kulturstaatsministerin Monika Grütters geehrt.
Verdiente Auszeichnung: Kathrin Tiedemann (re.), Leiterin des "Forum Freies Theaters", wird von Kulturstaatsministerin Monika Grütters geehrt. © picture alliance / dpa | Britta Pedersen
Katrin Tiedemann nahm wahr, dass sich die Autoren eher als Verbündete der Theaterleute verstanden denn als Kritiker. Als Harald Müller "Theater der Zeit" 1992 übernahm, wurde Tiedemann Mitglied der Redaktion. In der Wendezeit standen die Titelrechte auf einmal zum Verkauf. Müller investierte 20.000 Mark aus seinem Privatvermögen. Sein Namensvetter Heiner Müller hatte ihn auf die Idee gebracht:
"Der sagte: ‚Dinge, die unmöglich sind, die machen besonders viel Spaß‘. Dann gab es sehr viele Stimmen, die sagten, gegen 'Theater Heute' hätten wir keine Chance. Das ist für mich auch ein wesentliches Motiv gewesen."

Tradition aus dem Osten

Harald Müller wollte, wie er sagt, dem Selbstgespräch des Westens über den Osten etwas entgegensetzen. Chefredakteur wurde Martin Linzer, der schon zu DDR-Zeiten für "Theater der Zeit" geschrieben hatte. Es gab aber auch Neuzugänge aus dem Westen. Frank-Michael Raddatz gehörte bis 2014 zur Redaktionsleitung:
"Wenn man es im Nachhinein betrachtet, war es so, dass wir um ein bestimmtes Verständnis gekämpft haben – und zwar um eine historische Sicht. Castorf war das einzige Theater, die selber Geschichte zum Zentrum ihrer Sinneröffnung gemacht haben."
Deshalb wurde über die Volksbühne besonders intensiv berichtet. Inzwischen ist das Ost-West-Denken längst obsolet geworden. Doch eine Tugend aus DDR-Zeiten hat sich "Theater der Zeit" bewahrt: die Genauigkeit. Inszenierungen werden beschrieben und analysiert, nicht bejubelt oder verrissen. Die Bücher, die im Verlag "Theater der Zeit" erscheinen, heißen Arbeitsbücher. Schon allein das spricht Bände.
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