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Griechenland
Das Leiden unter dem NS-Terror

Im Streit um Reparationszahlungen und Besatzungskredite geriet fast zur Nebensache, in welchem Ausmaß Griechenland unter dem NS-Terror gelitten hat. Ein Umstand, der auch darauf zurückzuführen ist, dass sich die historische Forschung bisher nur am Rande mit der deutschen Besatzung Griechenlands beschäftigt hat. Zwei Studien versuchen nun, diese Lücke zu schließen.

Von Otto Langels | 27.06.2016
    Der griechische Premier Tsipras legt während einer Zeremonie in Kessariani Blumen an einem Denkmal nieder, das an erschossene Widerstandskämpfer während der Besatzung Griechenlands durch die Nationalsozialisten erinnert.
    Der griechische Premier Tsipras legt während einer Zeremonie in Kessariani Blumen an einem Denkmal nieder, das an erschossene Widerstandskämpfer während der Besatzung Griechenlands durch die Nationalsozialisten erinnert. (AFP Photo / Intime News / Chalkiopoulos Nikos)
    "Wo ist der traditionelle deutsche Sinn für Ehre? Ich habe 13 Jahre in Deutschland gelebt und niemand hat mich betrogen. Jetzt auf einmal, unter der neuen Ordnung, sind sie alle zu Dieben geworden."
    Der Musikwissenschaftler Minos Dounias war schlichtweg schockiert, als die deutsche Wehrmacht im Frühjahr 1941 in Griechenland einfiel.
    "Sie räumen alles aus den Häusern, was ihnen unter die Augen kommt. Im Haus von Pistolakis haben sie die Kissenbezüge an sich gerissen und die kretischen Schmuckstücke aus der wertvollen Sammlung. Aus den armen Häusern in der Gegend haben sie Bettlaken und Decken mitgenommen. In anderen Vierteln haben sie Ölgemälde und sogar die metallenen Türknöpfe geraubt."
    Der Autor Mark Mazower zitiert einen Athener Augenzeugen, um das brutale deutsche Besatzungsregime in Griechenland zu illustrieren. Der an der Columbia-Universität in New York lehrende Historiker beschreibt eindringlich die Folgen der NS-Herrschaft: die hemmungslosen Plünderungen, die Beschlagnahme von Lebensmitteln, die Hungersnot, die Strafaktionen gegen ganze Dörfer und die Deportation der Juden.
    "Allein im ersten Jahr der Besatzung verhungerten mehr als 40.000 Menschen. Bis zur Befreiung kostete der erfolglose Versuch der Deutschen, die Partisanen zu besiegen, 25.000 Menschen das Leben. Die jüdischen Gemeinden Griechenlands, die zu Europas ältesten zählten, wurden praktisch ausgelöscht."
    Mark Mazower liefert eine Fülle von Informationen, angereichert mit detaillierten Einblicken, anschaulichen Episoden und grundlegenden Einsichten aus der Okkupationszeit. Umso erstaunlicher ist es, dass die exzellente Darstellung erst jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen in den USA, in deutscher Übersetzung vorliegt. Erst seitdem heftig um Schuld und Schulden in den deutsch-griechischen Beziehungen gestritten wird, erwacht hierzulande das Interesse an der deutschen Besatzung Griechenlands. Zuvor hatte sich – mit Ausnahme des deutsch-griechischen Historikers Hagen Fleischer – kaum jemand intensiv mit den Jahren 1941 bis '44 beschäftigt.
    Dabei ging das NS-Regime mit einer Brutalität gegen die griechische Zivilbevölkerung vor, wie sie sonst nur im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu verzeichnen war.
    "Mit soldatischer Ritterlichkeit oder mit den Vereinbarungen in der Genfer Konvention hat dieser Kampf nichts mehr zu tun."
    Schrieb Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in einem Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht am 16. Dezember 1942.
    "Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt. Humanitäre Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk."
    Die Folgen dieses sogenannten Bandenkampfes: Bis zur Befreiung Ende 1944 wurden mehr als 1.000 Dörfer zerstört, hundertausende Griechen verfolgten ohnmächtig, wie die Deutschen ihre Häuser plünderten und niederbrannten und die Ernte vernichteten.
    Ortsnamen wie Kalavryta, Distomo oder Kommeno stehen stellvertretend für zahllose Massaker. In Kommeno starben am 16. August 1943 bei einem Überfall der Wehrmacht 317 Dorfbewohner. Unter den Opfern befanden sich 74 Kinder unter zehn Jahren, das jüngste war gerade mal ein Jahr alt. Die Soldaten hatten den Befehl, alles niederzumachen und das Dorf abzubrennen. Einer der beteiligten Soldaten erinnerte sich später:
    "Nach dem Massaker hat ein Kamerad Hühnereier, die er in einem Stall gefunden hat, mitgenommen. Und ich habe noch zu diesem Kamerad gesagt, ich verstehe dies nicht, mir würde der Appetit vergehen."
    Mark Mazower verschweigt nicht, dass es auch unter den Partisanen sadistische Anführer gab, die nicht nur die Besatzer, sondern auch die innenpolitischen Gegner erbittert bekämpften. Nach dem Abzug der deutschen Truppen im Herbst 1944 eskalierten die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Pro- und Anti-Kommunisten und stürzten Griechenland in einen jahrelangen Bürgerkrieg. 150.000 Menschen kamen ums Leben, Zehntausende wurden in Lagern interniert, 100.000 mussten das Land verlassen.
    Während sich Mark Mazower in seiner eindrucksvollen, glänzend geschriebenen Darstellung auf die Besatzungszeit konzentriert, rückt Kateřina Králová die Beziehungen Griechenlands zur Bundesrepublik in den Mittelpunkt. Ihr Buch, dem eine Dissertation an der Prager Karls-Universität zugrunde liegt, fasst die Kriegszeit knapp und nüchtern zusammen, um dann eingehend das schwierige Verhältnis in den Jahrzehnten danach zu beleuchten. Deutlich wird dabei, dass die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Athens von Bonn den Umgang mit Kriegsverbrechen, Reparationen und Entschädigungen maßgeblich beeinflusste.
    "Griechenland ging es in der Nachkriegsphase um materielle Vorteile und einen potenten Partner, der beim wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der Aufnahme in die europäischen Organisationen behilflich sein würde. Deutschland wiederum machte sich die Versöhnungsbereitschaft des griechischen Königreiches zunutze, um sich auf internationaler Bühne als verlässlicher und demokratisch überzeugender Staat wieder einen Platz zu verschaffen."
    Die Bundesrepublik konnte aus ihrer wachsenden Wirtschaftskraft politisches Kapital schlagen und mögliche juristische Folgen und finanzielle Ansprüche aus der Besatzungszeit auf ein Minimum beschränken. Anfang der 1960er-Jahre erklärte sich Bonn nach jahrelangen Verhandlungen bereit, Griechenland pauschal 115 Millionen DM Wiedergutmachung für NS-Opfer zu zahlen.
    Eine griechische Zwangsanleihe an das Dritte Reich, für die Deutschland nach Berechnungen von Experten 1945 rund eine halbe Milliarde Reichsmark hätte zurückzahlen müssen, ist bis heute umstritten. Die Schuld, in heutiger Kaufkraft rund zehn Milliarden Euro, wurde nie beglichen. Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher überließ Griechenland der Bundesrepublik. Die westdeutsche Justiz leitete 800 Ermittlungsverfahren ein, aber in keinem einzigen Fall wurde jemand angeklagt und verurteilt.
    Die Erinnerung an die NS-Massaker verblasste im deutschen kollektiven Bewusstsein immer mehr. Mit dem Buch von Kateřina Králová, vor allem aber mit der Darstellung Mark Mazowers wird die verdrängte und vergessene Geschichte der deutschen Besatzungspolitik wieder sichtbar.
    Buchinfos:
    Katerina Králová: "Das Vermächtnis der Besatzung. Deutsch-griechische Beziehungen seit 1940", Böhlau Verlag, 320 Seiten, Preis: 29,99 Euro
    Mark Mazower: "Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941 - 1944", deutsche Übersetzung von Anne Emmert, Jörn Pinnow und Ursel Schäfer, S. Fischer, 528 Seiten, Preis: 29,99 Euro