Tantra-Seminare

Jedes Gefühl kann ein Werkzeug der Erleuchtung sein

07:33 Minuten
Ein Mann und eine Frau liegen während einer Massage-Workshops ineinander verschlungen auf einer Wiese.
Verbundenheit spüren: Massage-Workshop auf einem spirituellen Kunstfestival in England © imago / Loop Images / Roy Shakespeare
Von Milena Reinecke  · 13.06.2021
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Tantra verbinden viele Menschen heute mit Erotik. Dabei geht es in dieser alten spirituellen Strömung zunächst darum, Verbundenheit zu erleben. Sexualität kann dabei helfen, aber im Zentrum steht sie bei Tantra-Seminaren nicht unbedingt.
Wenn man im Internet den Begriff Tantra sucht, stößt man auf sehr unterschiedliche Ergebnisse. Auf der einen Seite ist Tantrismus ein Sammelbegriff für verschiedene Strömungen innerhalb des Buddhismus und Hinduismus, ein Weg zur spirituellen Einsicht und Erlösung, eine Reihe ritueller Praktiken, eingebettet in ein System von kosmologischen Anschauungen.

Erfolg im Beruf und Traumabewältigung

Auf der anderen Seite findet man heute unter "Tantra" Anleitungen für besseren Sex. Eine Webseite für sexuelle Dienstleistungen preist Tantra als Königsdisziplin unter den erotischen Massagen an und verspricht mehr Kreativität und Erfolg im Beruf – mit Tantra. Gleichzeitig sollen tantrische Praktiken Traumata heilen und zur Selbstfindung dienen.
Das scheint auf den ersten Blick wenig mit den Ideen zu tun zu haben, die der Tantrismus einmal im Indien des zweiten Jahrhunderts verkörperte. "Das Wort 'Tantra' kommt von 'Tan', was 'Gewebe' heißt", erklärt der Naturphilosoph Jochen Kirchhoff.

Dualitäten überwinden

In diesem Gewebe sei alles eins, so Kirchhoff: das Diesseits und das Jenseits, die materielle und die spirituelle Welt, Mann und Frau, das Selbst und der andere. Was sich uns als Dualitäten präsentiere, solle im Tantra in seiner Allverbundenheit begriffen – und vor allem erfahren werden:
"Es geht nicht um ein geistvolles Reden darüber, sondern um Erfahrung. Tantrismus ist eigentlich einerseits ein Weltanschauungssystem, auf der anderen Seite aber auch ein System von Praktiken. Und im Tantrischen geht es vor allem darum, dass man sich nicht abwendet von der Welt, sondern dass man in die Welt geht."
Porträt von Jochen Kirchhoff im offenen weißen Hemd, mit sonnenbeschienenen Bäumen im Hintergrund
Erfahrung ist der Schlüssel: Naturphilosoph Jochen Kirchhoff© privat
Wie auch in anderen buddhistischen Strömungen ist die individuelle Erfahrung der zentrale Schlüssel zur Erkenntnis. Das Besondere am Tantrismus sei jedoch, dass keine Erfahrung, kein Gefühl von vornherein ausgeschlossen werde, auch nicht die menschliche Sexualität, sagt Kirchhoff: "Alles ist ein Werkzeug, ein Vehikel zu einem höheren Bewusstseinszustand bis hin zur Erleuchtung."

Die Schöpfung beim Sex nacherleben

So könne in der geschlechtlichen Vereinigung die Verbundenheit alles Lebendigen erfahren werden. Auch an die Schöpfung des Universums durch das göttliche Prinzip Brahma, wie sie im Buddhismus und Hinduismus angenommen wird, solle man nicht primär glauben, man solle sie besser symbolisch nacherleben – zum Beispiel beim Sex.
In der abendländischen Denktradition hingegen, wo Leib und Seele sich als Dualismus gegenüberstehen, liege die Idee der spirituellen Erkenntnis durch Sex denkbar fern, sagt Kirchhoff:
"Allein die tantrische Grundidee dieser Allverbundenheit, des Alllebendigen – das widerspricht eigentlich dem mechanistischen Denken, auf dem letztendlich unsere ganze Technik und abendländische Zivilisation aufbaut."
Darstellung des tantrischen Buddhas im Zentrum eines Mandala.
Verbunden mit allem Lebendigen: der selbst-erschaffene tantrische Buddha ohne Anfang und Ende auf einem Mandala aus Nepal© picture alliance / imageBROKER / XYZ PICTURES
Trotzdem oder gerade deswegen wurden tantrische Denkmuster im Westen als Neotantra in den 1970er-Jahren populär. Kirchhoff führt das in seinem Essay "Entzückte Weisheit" auf zwei Phänomene zurück: die Verbreitung des LSD und die sexuelle Revolution.

Auflösung der Grenze zwischen Ich und Umwelt

Die psychedelische Substanz ließ Menschen bewusstseinserweiternde Erfahrungen machen, die es einzuordnen galt. Wer auf LSD die Auflösung der Grenze zwischen dem Ich und der Umwelt erlebt hatte, konnte in fernöstlicher Philosophie und Mystik einen Rahmen für diese Erlebnisse finden.
Die besondere Anziehungskraft von Tantra lässt sich zusätzlich damit erklären, dass die sexuelle Revolution einen zwangloseren, positiven Zugang zu Sexualität eröffnete. Das Bedürfnis der sexuellen Befreiung hat möglicherweise die kosmologischen Anschauungen des Tantrismus in den Hintergrund treten lassen, vermutet Kirchhoff:
"Der Tantrismus in diesem Sinne, als eine, sagen wir mal, geistig-philosophische Strömung, die es auch war, reduziert sich dann – ich sag es mal ein bisschen flapsig – auf Tantra-Seminare, die der eine oder andere am Wochenende macht. Einer kann seinen normalen Job hier machen und ist ganz im mechanistischen Denken, aber am Wochenende macht er sein Tantra-Seminar."

Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und Geist

So jemand ist Michael Kranz – zumindest von außen betrachtet. Der Schauspieler und Regisseur hat sich vor drei Jahren zum Tantra-Lehrer ausbilden lassen:
"Worauf ich sehr stark beim eigenen Unterrichten den Fokus lege, ist erst einmal die Auseinandersetzung mit sich selbst. Mit Selbstliebe, Selbstannahme, Selbstbewusstsein, Freiheit, ja und nein zu sagen - für sich."
Porträt von Michael Kranz vor dunklem Hintergrund
Freier und bewusster wahrnehmen: Michael Kranz, Schauspieler und Tantra-Lehrer© Stephan Pick
Die Verbindung zwischen dem eigenen Geist und Körper wiederherzustellen, ist für ihn der erste Schritt, um sich anderen Menschen und der Möglichkeit spiritueller Erlebnisse öffnen zu können. Die Übungen dafür müssen gar nicht direkt sexuell sein. "Je fortgeschrittener ein Tantra-Seminar ist, desto simpler und purer sind die Übungen", sagt Kranz.

Auch Atemübungen gehören dazu

Darum würde man von außen vielleicht gar keinen großen Unterschied zwischen einem Tantra-Seminar von Michael Kranz und einem anderen Yoga- oder Meditationskurs sehen. Denn gerade Atemübungen sind auch ein wichtiger Bestandteil von Tantra. Im Rahmen einer internationalen Online-Workshop-Reihe leitet Kranz eine Meditation unter dem Motto "Coming home". Er gibt seine Anweisungen auf Englisch:
"Maybe take a deep breath, a deep inhale and exhale with sound. Stretch yourself."
Dieses Mal sind einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei, die Michael schon aus früheren Seminaren kennt, darunter Anne-Marie aus der Bretagne. Sie erzählt:
"Seit einer Woche denke ich jeden Tag an das Tantra-Seminar mit Michael. Mein Körper und meine Gefühle sind wiedererwacht und haben mich zurückgeführt an einen Ort in meinem Herzen, an einen viel stabileren, ruhigeren, sicheren Ort. Es tut gut, sich durch den Körper mit diesem Ort wieder zu verbinden, in allen möglichen Momenten im Alltag."

Zugang zu den eigenen Bedürfnissen

Seit sechs Jahren beschäftigt Anne-Marie sich mit Tantra. Seitdem habe sie sich sehr verändert, erzählt sie. Tantra hat ihr geholfen, sich in ihrem Alltag zu orientieren, hat ihr einen besseren Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen verschafft und ihrem Leben gleichzeitig Vitalität und Tiefe gegeben. Michael Kranz wundert das nicht:
"Letztendlich bietet Tantra ein sehr vielfältiges Set an Techniken, um mehr Bewusstheit in unsere Denkprozesse, Wahrnehmung, unseren Körper, in unbewusste Dynamiken zu bringen. Damit wir quasi den Moment, so wie er ist, freier und bewusster wahrnehmen können."
Neotantra meint also eigentlich nicht kommerzielles Sexcoaching, aber auch nicht Erlösung im religiösen Sinne. Doch tragen viele der Angebote in diesem Bereich den Grundgedanken von Tantra weiter: die Überschreitung der Grenzen rein rationalen Denkens, die Auflösung von Hierarchien, die Verbindung von Dualitäten, innerhalb und außerhalb von sich selbst, das Erfahren der Welt als Gewebe.
Kranz erläutert das so: "Es gibt dieses Bild von der Lotosblüte, dass quasi der Matsch, aus dem die Lotosblüte wächst, genauso wichtig ist wie die Lotosblüte selbst. Dass es sogar in der tiefsten Konsequenz dasselbe ist und dass beides einander bedingt. Der Matsch bedingt, dass daraus die Lotosblüte werden kann, und die Lotosblüte bedingt, dass daraus wieder Matsch werden kann."
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