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Stradivari-Biografie
Geigenbauer ohne Mythen und Legenden

Sein Name ist längst so klangvoll wie der seiner Instrumente: Antonio Stradivari. Doch wer war der Instrumentenbauer wirklich? Ein neues Buch der Kunsthistorikerin Alessandra Barabaschi geht diesen Fragen nach und bringt die Stradivari-Forschung auf aktuellen Stand – frei von Mythen und Legenden.

Von Christoph Vratz | 07.06.2021
Geige von Stradivari, ausgestellt in Moskau.
Wenn irgendwo Geigen für Millionen den Besitzer wechseln, fällt meist der Name eines bestimmten italienischen Geigenbauers (picture alliance / Eugene Odinokov)
Cremona. Die Stadt in der Lombardei, im Norden Italiens. Hier soll eine junge Frau – das Jahr lässt sich nicht genau klären – um 1640 einen Jungen geboren haben, mitten auf einer Piazza der Stadt. Antonio wird das Kind heißen, angeblich nach dem Namen des dortigen Pfarrers. Eine sehr rührende Geschichte, die zum Mythos Stradivaris beitrug. Schade, dass der Prior des Augustinerklosters damals Nicola hieß und der Pfarrer Lodovico. Es gab nicht einmal den Schatten eines Antonios.

Aufräumen mit hartnäckigen Legenden

Ein Mythos wird enträtselt. Vieles am Leben des legendären Instrumentenbauers Antonio Stradivari ist von Legenden umrankt, von schönen Geschichten, die teils nicht der Wahrheit entsprechen, sich aber bis heute hartnäckig halten. Nach jahrelanger Forschungsarbeit räumt Alessandra Barabaschi in ihrem neuen Buch auf mit einigen von diesen Gerüchten:
"Es ist so schwierig, Legenden loszuwerden, weil skrupellose Menschen relativ früh erkannt haben, dass sich mit Legenden bessere Geschäfte machen lassen. Noch vor kurzem wurde in einer Publikation die uralte Legende wiederholt, dass Antonio Stradivari Mutter Anna Moroni geheißen hätte. Diese Frau war mit einem Alessandro Stradivari verheiratet, dieser Alessandro ist im Jahr 1630 gestorben, das heißt, mehr als 15 Jahre vor Antonios Geburt. Dies konnten also auf keinen Fall die Eltern von Antonio Stradivari gewesen sein."
Mehrere Forscher haben die in Cremona verbliebenen Pfarreiregister mehrfach überprüft, die Geburtsurkunde von Antonio Stradivari konnte jedoch bisher nicht gefunden werden. Barabaschis Recherchen zu dieser ersten deutschsprachigen Lese-Biografie über den berühmten Instrumentenbauer begannen mit dem Fund in einem Sterbebuch:
"Dort wurde Stradivaris Frau unter dem Namen Costa und nicht unter Zambelli aufgelistet. Frühere Biografen hatten argumentiert, der Priester habe sich bei der Transkription des Namens geirrt, aber mir erschien das höchst unwahrscheinlich. Ich begann zu recherchieren und stellte fest, der Priester hatte sich nicht geirrt.

Ein gewiefter Geschäftsmann – seiner Zeit voraus

Auch dies ein Beleg für Irrtümer, die sich im Laufe der langen Stradivari-Rezeption eingeschlichen haben. Anhand genauer Quellenauswertungen liefert Barabaschi ein möglichst genaues Bild über den Lebensweg Stradivaris. Doch ihre Auswertungen lassen auch Erkenntnisse über den Menschen Stradivari zu.
"Zum Beispiel erfahren wir durch sein Testament, dass Stradivari alle seine Kinder als Universalerben eingesetzt hat, also Söhne und Töchter – das galt damals nicht als selbstverständlich. Er legte für seine Töchter ein Jahreseinkommen fest, denn er wollte Ihnen ein friedliches Leben sichern. In diesem Sinne war er seiner Zeit definitiv voraus. Sicherlich war Stradivari auch ein gewiefter Geschäftsmann, er hat seine Verdienste immer wieder investiert und daraus Gewinn geschlagen."
Um 1690 entwickelte Stradivari eine neue Form von Geigen […] Sie sind breiter, denn Stradivari hatte verstanden, dass bei erhöhtem Volumen der Tonreichtum zunahm, aber auch flacher und damit gewann ihr Ton an Kraft."

Instrumente von unübertroffener Perfektion und Qualität

Auch wenn Stradivari diese so genannte Allongé-Bauweise später wieder aufgeben wird – sie bildet ein zentrales Mosaik-Steinchen auf dem Weg zu späterem Ruhm. Allerdings, so Alessandra Barabaschi:
"Stradivari hat nicht nur Geigen geschaffen, er hat Lauten repariert, Harfen, Gitarren, Mandolinen gebaut, und sicher war er auch ein begabter Schnitzer. Anhand seiner Instrumente lernen wie die Entwicklungsphasen seines Stils kennen, von der Amatisé zur Allongé-Periode, von der goldenen Zeit zu den reifen Jahren."
Mehrere von Antonio Stradivari zwischen 1700 und 1725 gebaute Instrumente gelten als von unübertroffener Perfektion und Qualität. […] Um die Kraft des Klangs zu erhöhen, vergrößerte er den Mittelkörper des Instruments und fand den perfekten Grad der Wölbung von Decke und Boden, die im Allgemeinen flacher als früher wurden. Alessandra Barabaschi:
"Die Legende von Stradivaris unübertroffenem Lack hat im 19. Jahrhundert sicher zu seinem Mythos beigetragen. Es wurden Dutzende Bücher darübergeschrieben. Heute wissen wir, dass der Lack nur eine der zahlreichen Komponenten ist, die ein Stradivari-Instrument zu einem Meisterwerk machen. Es gibt so viel zu berücksichtigen, die Qualität des Holzes, die Form, die Symmetrie, die Präzisionsarbeit, die Vielfältigkeit des Klanges."

Nach Stradivaris Tod geht die Geschichte weiter

Alessandra Barabaschi zeichnet das Bild eines Mannes, der geradezu besessen ist von seinen eigenen Idealen. So gerät ihre Biografie auch zu einem Buch über die allgemeine Kunst des Geigenbaus – dabei so präzise und, vor allem, so anschaulich, dass jeder Laie der Schilderung gut folgen kann, ja mehr noch: Immer wieder kann man sich lesend eigene Bilder vor das innere Auge holen, weil Barabaschi die richtigen Fragen stellt: Woran kann man eine echte "Strad" eigentlich erkennen? Welche Komponisten standen in Kontakt mit Stradivari? Wer waren seine Kontrahenten? Wer hat die Instrumente in Auftrag gegeben und wie wurden sie übergeben?
"Damals wurde der Preis für ein Instrument nicht im Voraus, sondern erst nach seiner Fertigstellung verhandelt und bezahlt […]. Die Geigenbauer übergaben ihre Instrumente selten persönlich. In den meisten Fällen wurde ein Werk per Kurier an den Kunden geschickt. Für den Geigenbauer war es daher unerlässlich, dass er den Kunden zufriedenstellen konnte. Nur wenn die Erwartungen des Auftraggebers übertroffen waren, durfte der Geigenbauer eine höhere Belohnung verlangen."
Das Buch endet nicht mit dem Tod Stradivaris, denn danach beginnt ein zentrales Kapitel seines Vermächtnisses: Welche Instrumente gelangten wann in wessen Hände? Natürlich kann Barabaschi nicht allen Fährten nachgehen, doch sie liefert exemplarische Beispiele, etwa anhand der so genannten Dornröschen- Geige, die heute von der Geigerin Isabelle Faust gespielt wird.
Die Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte runden ein Buch ab, dessen äußere Aufmachung mit der inhaltlichen Qualität Schritt halten kann: Papier, Bebilderung, Layout – ein in jeder Hinsicht hochwertiger Band, der ein breites Lesepublikum verdient und der mit seinen Ergebnissen die Stradivari-Forschung auf aktuellen Stand bringt – frei von Mythen und Legenden.
Alessandra Barabaschi
Stradivari. Die Geschichte einer Legende
Böhlau Verlag
308 Seiten, 32,00 Euro