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Griechenland-Krise
"Vor Tsipras muss man den Hut ziehen"

Griechenlands Ministerpräsident gelinge es mit einer sehr kleinen Partei, das Volk zu überzeugen, um eine politische Meinung zu verändern. Bereits deswegen gebühre Alexis Tsipras Respekt, sagte der deutsch-griechische Politiker Jorgo Chatzimarkakis im Deutschlandfunk.

Jorgo Chatzimarkakis im Gespräch mit Bettina Klein | 11.07.2015
    Jorgo Chatzimarkakis, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments (FDP).
    Jorgo Chatzimarkakis, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments (FDP). (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Tsipras bringt das griechische Volk nun auf einen Kurs, den es kurz zuvor im Referendum abgelehnt hat. "Man kann das als Deutscher fragwürdig sehen, als Grieche muss man den Hut ziehen", sagte Jorgo Chatzimarkakis, der für die FDP im Europaparlament saß.
    Die griechische Politik folge schließlich einer gänzlich anderen Logik als die in Deutschland. Wenn man als David dem Goliath nur am Knie kratze, reiche das schon, um in Griechenland ein Held zu werden, sagte Chatzimarkakis. Auch diejenigen, die beim Referendum mit Nein gestimmt haben, hofften, dass Tsipras nun bei neuen Verhandlungen etwas heraushole, das zumindest weniger hart werde als früher.
    Dennoch bezeichnete Chatzimarkakis Griechenland als reformunfähig. Allerdings wolle das in Europa niemand zugeben. "Ich habe gesehen, wie sehr man sich die Wahrheit in Europa zurechtschneidert. Wir lügen uns in die Tasche."
    Gegen den enormen Missbrauch von EU-Geldern helfe letztendlich nur eines: bessere Kontrollen.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Am Telefon ist der frühere FDP-Europapolitiker Jorgo Chatzimarkakis, heute Vorsitzender der Deutsch-Hellenischen Wirtschaftsvereinigung. Ich grüße Sie!
    Jorgo Chatzimarkakis: Hallo, Frau Klein!
    Klein: Beginnen wir mal damit: Ein Referendum, das mit viel Begleitmusik angekündigt wurde und auf den Straßen Athens vergangenen Sonntag enthusiastisch gefeiert wurde – nichts davon ist übrig. Das Parlament überstimmt das Volk. Wie glaubwürdig ist das, was wir in den vergangenen Tagen und Stunden gesehen haben?
    Chatzimarkakis: Das ist ein wenig typisch für die griechische Politik, weil die auf anderen logischen Parametern aufbaut. Und wer sieht, wie sehr Alexis Tsipras die Politik beherrscht in so kurzer Zeit – seine politische Karriere ist ja noch nicht so lang und mit einer so kleinen Partei, vor zwei Jahren war die Syriza-Partei bei drei Prozent –, der muss schon den Hut ziehen vor jemandem, der das Referendum, also das Volk, einsetzt, um sozusagen eine politische Meinung zu verändern. Das hat er geschafft, den Rücktritt des amtierenden Oppositionsführers Samaras, früherer Ministerpräsident, sofort herbeizuführen. Damit konnten Ein-Parteien-Gespräche starten, und die haben die Wende eingeleitet. Es war ein Kalkül von vornherein, er hat das Volk als Werkzeug benutzt, um seine Ziele zu erreichen.
    Klein: Muss man davor nur den Hut ziehen oder kann man das auch fragwürdig finden?
    Chatzimarkakis: Man kann das aus deutscher Sicht fragwürdig finden. Wenn man Grieche ist, muss man den Hut ziehen.
    In Griechenland gelten andere politische Regeln
    Klein: Was ist der Unterschied?
    Chatzimarkakis: Na, das ist ein großer Unterschied, weil die griechische Politik ganz klar andere logische Parameter aufweist, die sich einem Nicht-Griechen nicht so leicht erschließen. Das hängt mit vielen Dingen zusammen, vor allem aber damit, dass man zum Beispiel ein Held wird, wenn man den Goliath als David am Knie kratzt. Also man muss ihn nicht erlegen. Man muss ihn schon am Knie kratzen, damit kann man schon zum Helden werden. Und allein, dass er es gewagt hat, ein Referendum gegen diese Europäer sozusagen einzuleiten, zu organisieren, um dann natürlich in der Rhetorik immer zu sagen, die erpressen uns, das, was da passiert, ist Erpressung, das reicht den Griechen schon, um ihm eine Art Heldenstatus zuzuschreiben. Ich selber war überrascht, wie viele Menschen, die eigentlich vernünftig sind, die eigentlich pro-europäisch sind, gesagt haben: Mein Gott, da haben wir jetzt eine Führungsfigur! So ist das in Griechenland, es gelten andere politische, logische Regeln.
    Klein: Ja, da Sie die anderen logischen Regeln angesprochen haben – erklären Sie noch mal kurz mir: Wie würde ich mich denn als Griechin fühlen, wenn ich am vergangenen Sonntag mit "Nein" gestimmt habe und jetzt aber sehe, dass im Grunde genommen die gleiche Rettungsstrategie auf den Weg gebracht wird? Wie kann ich das gut finden?
    Chatzimarkakis: Man darf nicht unterschätzen, dass gestern eine Umfrage gezeigt hat, dass 84 Prozent aller Griechen auf jeden Fall im Euro bleiben will. Also wenn man gesagt hat, ich will Tsipras stärken, ich will auch diese Härte der Maßnahmen reduzieren, aber gleichzeitig im Euroraum verbleiben, dann ist man zufrieden mit dem "Nein" beim Referendum und dem "Ja" zu neuen Verhandlungen. Die Griechen gehen davon aus in ihrer Mehrheit, auch die, die mit Nein gestimmt haben: Jetzt wird Tsipras für uns etwas herausholen, was nicht ganz so hart ist wie früher. Wir sehen ein, dass es ein Memorandum, ein Maßnahmenpaket braucht, aber es wird sanfter, es wird leichter sein, es wird vielleicht sogar Investitionen geben.
    Klein: Sie sprechen von einer griechischen Logik, Herr Chatzimarkakis. Die Frage ist ja: Wie verhält sich diese griechische Logik, von der Sie sprechen, zu den europäischen Grundregeln, nach denen sich ja alle anderen Staaten und auch Griechenland im europäischen Zusammenleben verhalten müssen? Tsipras überstimmt ja sein Volk nicht mit seiner Regierungsmehrheit, sondern mithilfe der Opposition, die abgewählt wurde, aufgrund der, so Tsipras jetzt selbst, unhaltbaren Wahlversprechen. Ist damit nicht auch die Demokratie in Griechenland, wenn wir jetzt mal europäische Standards anlegen, beschädigt?
    Chatzimarkakis: Wir dürfen keine europäischen Standards im jetzigen heutigen griechischen politischen Geschäft anlegen.
    Klein: Aber das ist ein EU-Mitglied und wir alle müssen uns doch an die gleichen Regeln halten?
    "Die machen so weiter, so lange man sie missbrauchen lässt"
    Chatzimarkakis: Da genau liegt der Hase im Pfeffer! Liebe Frau Klein, ich war zehn Jahre EU-Parlamentarier, ich hatte ein Jahr die Möglichkeit, als sozusagen Chefkontrolleur aller Ausgaben für den Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments die Entlastung zu machen. Ich habe gesehen, welcher Missbrauch in vielen Ländern Europas, nicht in allen, getrieben wird. Ich habe aber auch gesehen, wie sehr man sich die Wahrheit in Europa zurechtschneidert. Und wenn wir so weitermachen, wenn wir einfach hinwegsehen darüber, dass in Spanien, in Italien, aber eben auch in Griechenland Missbrauch mit EU-Mitteln und jetzt auch Missbrauch mit den Hilfsgeldern getrieben wird, ja, dann müssen wir uns nicht wundern. Die machen so weiter, so lange man sie missbrauchen lässt. Also es hilft nur eins: eine bessere Kontrolle und eine größere Wahrheit. Glaubt denn irgendjemand, die letzten fünf Jahre ist alles immer so gelaufen, wie es gesagt wurde? Mal war ja der Daumen oben seitens der Troika, mal war er unten. De facto ist immer das Gleiche nicht passiert. Griechenland ist, wenn man sich das genau anguckt, eine klientelistische Kleptokratie, die reformunfähig ist. Man redet sich das schön, wenn man glaubt, es würde anders sein. Es gibt Lösungsmöglichkeiten, aber die passen jetzt nicht in unsere Sendezeit.
    Klein: Was, Herr Chatzimarkakis, folgt denn aber aus dieser Ihrer Feststellung jetzt für das, was die Eurofinanzminister und die ganze EU an diesem Wochenende entscheiden muss? Daumen hoch oder Daumen runter für neue Verhandlungen über ein Hilfspaket?
    Chatzimarkakis: Meines Erachtens wird der Daumen oben bleiben, weil die Europäer insgesamt die Verantwortung für ein Scheitern Griechenlands im Euro nicht übernehmen wollen. Das bleibt dabei, auch trotz der zögerlichen Haltung Berlins. Das wird sich im Laufe des Wochenendes meines Erachtens ändern. Was aber daraus folgern muss für die nächsten drei bis fünf Jahre, ist, dass man endlich anfängt, dem griechischen Staat das zu geben, was er braucht, nicht finnische oder deutsche Beamte, die da helfen, sondern griechischstämmige Beamte, die ein anderes konstitutionelles Umfeld kennengelernt haben. 2.500 Griechen arbeiten bei der EU, die kann man nutzen, um jetzt den griechischen Staat an den entscheidenden Stellen zumindest für die EU-Hilfen so auszugestalten, dass er die EU-Hilfen annehmen kann. Im Moment kann er das nicht. Wir haben in Ihrem Beitrag vorhin den Herrn Bastian gehört, der freut sich über die Investitionen, die jetzt kommen – die werden nur dann in den Projekten und bei den Menschen ankommen, wenn tatsächlich dort auch Beamte sind, die das können. Meines Erachtens könnten die griechischen, griechischstämmigen EU-Beamten zwei Hüte tragen: Sie bleiben weiterhin sozusagen Herrn Juncker verpflichtet, aber hätten auch eine wichtige Aufgabe im neuen griechischen Staat.
    "Was uns weiterhilft ist, die Regeln vielleicht zu überdenken"
    Klein: Sie haben jetzt konkrete Vorschläge noch mal eingebracht, Herr Chatzimarkakis, aber Sie haben eben auch gesagt, was Sie vermuten, was passieren wird heute. Wäre denn angesichts dessen, was Sie vorhin geschildert haben, das die richtigen Entscheidung Ihrer persönlichen Meinung nach, jetzt über weitere Hilfsmaßnahmen zu verhandeln?
    Chatzimarkakis: Die richtige Entscheidung wäre gewesen, schon vor fünf Jahren die große Europroblematik anders zu lösen. Wir haben seit fünf Jahren nur Zeit gewonnen. Deswegen haben wir jetzt noch mal die Chance, mit der Zeit, die wir gewinnen – und deswegen halte ich es für richtig, noch mal Zeit gewonnen zu haben –, jetzt endlich nach fünf Jahren die grundsätzlichen Fragen anzugehen. Die haben natürlich was mit der Beachtung von Regeln zu tun. Ich will jetzt nicht die alte Leier, wer hat die Regel zuerst gebrochen, hier wieder anfangen. Das hilft uns nicht weiter. Was uns weiterhilft ist, die Regeln vielleicht zu überdenken, übertriebene Regeln, No-Bailout zum Beispiel als übertriebene Regel, vielleicht ad acta zu legen, aber andere Regeln, nämlich kein Missbrauch von EU-Mitteln und konkrete Kontrolle, diese Regeln anzuwenden. Alles andere hilft nicht weiter. Ich war lange genug EU-Parlamentarier, um zu wissen und um zu sehen, dass wir uns sozusagen in die Tasche lügen. Und wenn wir das weiter tun, dann ist allerdings das große Projekt Europa in Gefahr, weil die Bürger merken das ja langsam, dass da irgendwas nicht in Ordnung ist. Und da hilft auch nicht, wenn Staats- und Regierungschefs mit ihrem großen Getöse sozusagen alles schönreden. Es muss der Wahrheit ins Gesicht geblickt werden.
    Klein: Der frühere FDP-Europapolitiker Jorgo Chatzimarkakis heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für dieses Interview!
    Chatzimarkakis: Danke, Frau Klein!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.