Medizin für alle

Mehr Sensibilität für Patientinnen

53:17 Minuten
Illustration verschiedener Menschen in bunten Farben, fast alle tragen ein Stethoskop um den Hals.
"Medizin hat sich lange am Mann orientiert und die Frauen liefen irgendwie mit", sagt Denise Hilfiker-Kleiner, Dekanin am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg. © imago / Ikon Images / Benjamin Harte
Moderation: Birgit Kolkmann · 02.07.2021
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Frauen reagieren bei Krankheiten anders, körperlich und seelisch. Und doch ist in der Medizin der Mann das Maß aller Dinge. Auch Kinder und alte Menschen werden in der Forschung weniger berücksichtigt. Eine Chance für eine sensiblere Medizin?
Männer haben ein schwächeres Immunsystem als Frauen und sterben zum Beispiel häufiger an Lungenentzündung. Frauen leiden öfter an Autoimmunkrankheiten wie Arthritis oder Multiple Sklerose. Bei Herzinfarkt klagen Frauen meist über weniger bekannte Symptome als Männer. Mit fatalen Folgen: Herzinfarkte werden bei Frauen weitaus seltener erkannt. Brauchen wir mehr Sensibilität für Geschlecht und Alter der Patienten?

"Die Frauen liefen irgendwie mit"

"Medizin hat sich lange am Mann orientiert und die Frauen liefen irgendwie mit", sagt Denise Hilfiker-Kleiner, Dekanin am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg. Lange sei vernachlässigt worden, dass Männer und Frauen sich in ihrer Biologie unterscheiden, was sich auch in Krankheitsbildern niederschlägt – und dementsprechend auch in der jeweiligen Behandlung berücksichtigt werden müsse. Die Biologin gehört zu den Pionierinnen der geschlechtersensiblen Medizin, auch Gendermedizin genannt.

Plädoyer für die Gendermedizin

Vorreiterin ist auch Vera Regitz-Zagrosek. Die Kardiologin ist Gründungsdirektorin des "Berlin Institute for Gender in Medicine" (GiM) an der Charité Berlin. Es ist nach wie vor das einzige Institut für Geschlechterforschung in Deutschland. Bis heute würden Medikamente zumeist nur an männlichen Mäusen entwickelt und zuerst an jungen Männern getestet, kritisiert die Gendermedizinerin.
So könnten Substanzen, die vor allem bei Frauen wirksam wären, gar nicht gefunden werden. Es benötige zudem unbedingt mehr geschlechtersensible Forschung und Therapie – und mehr Bewusstsein auch in den Praxen. "Wir brauchen Hausärzte, die sich mit gendermedizinischen Problemen auskennen und genügend Selbstverständnis und Selbstreflektion haben, um zu wissen, wie sie als weibliche Ärztin oder als männlicher Arzt mit Patientinnen oder Patienten kommunizieren."

Unterschiedliches Gesundheitsbewusstsein

Wie verschieden Männer und Frauen mit ihrer Gesundheit umgehen, beobachtet auch Frank Christoph, niedergelassener Facharzt für Urologie in Berlin. "Die einfache Zahl, dass 70 bis 80 Prozent der Frauen zu einer Früherkennungsuntersuchung gehen, die dann von einem Gynäkologen vorgenommen wird, während es bei Männern 17 bis 20 Prozent sind, zeigt, wie das Gesundheitsbewusstsein bei den unterschiedlichen Geschlechtergruppen ausgeprägt ist."

Einblick in die Pharmaforschung

"Wir arbeiten in der Forschung mit idealen Patientenkollektiven", sagt Andreas Franken vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller. Es könne nicht jede einzelne Gruppe berücksichtigt werden. Gleichwohl werde natürlich auf die spezifischen Belange von Frauen und jüngeren Patientinnen und Patienten geachtet.
Aber gerade bei der Forschung für Kinder seien Grenzen gesetzt, nicht nur aus ethischen Gründen, so Franken. "Es ist auch das kleine Kollektiv: Sie sind mit 20 Prozent der Bevölkerung noch mal in fünf Subgruppen aufgeteilt. Und dann müssen sie auch noch an dieser Krankheit erkrankt sein. Denn wir dürfen keine gesunden Kinder in solche Untersuchungen einbinden für therapeutische Zwecke."

Dieser "Wortwechsel" wurde im Rahmen des Herrenhäuser Forums Mensch-Natur-Technik, bei einer Online-Veranstaltung der Volkswagen-Stiftung aufgezeichnet.

(sus)
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