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50 Jahre Pentagon Papers
Von Lügen und Verheimlichungen der US-Politik

Das US-Verteidigungsministerium selbst hatte mit den Pentagon Papers dokumentieren lassen, wie die amerikanische Öffentlichkeit während des Vietnamkriegs belogen wurde. Die Veröffentlichung dieser Dokumente hat bis heute Folgen für das Vertrauen der Amerikaner in die Politik.

Von Norbert Seitz | 12.06.2021
Eine Aufnahme aus dem Vietnamkrieg der U.S. Army, aufgenommen im Oktober 1969
Die damalige US-Politik wollte der Bevölkerung mit allen Mitteln verheimlichen, in welch ausweglose strategische Lage sich die USA mit dem Vietnamkrieg begeben hatte. ( picture-alliance/ dpa | Consolidated Hector Robertin)
"My name is Daniel Ellsberg. In 1969 I was working at the Rand Corporation working with a study that later should be known as Pentagon Papers with 7.000 pages – top secret – about US-decisions, making in Vietnam between 1961 und 1968."
Daniel Ellsberg war seit 1969 beim regierungsnahen think tank der Rand Corporation angestellt. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen arbeitete er an einem streng geheimen Konvolut. Im Zentrum stand die Vietnam-Politik wechselnder amerikanischer Regierungen aus über drei Jahrzehnten. Daraus entstand eine voluminöse Sammlung von Dokumenten aus dem Verteidigungsministerium, genannt: die Pentagon Papers.
47 Bände mit 7.000 Seiten, davon 3.000 Seiten mit Schilderungen der Ereignisse und 4.000 Seiten mit beigefügten Dokumenten. Aufzeichnungen unmittelbar Beteiligter mit ihren Memoranden, Telegrammen und schriftlichen Anordnungen. Analysiert von 36 Autoren, anonymen Chronisten der Regierung, zum Beispiel erfahrenen Beamten, Mitarbeitern im Außen- und Verteidigungsministerium, Offizieren aber auch Intellektuellen.
Seine persönliche Katharsis hatte Daniel Ellsberg während einer Schreckensvisite in Vietnam erfahren, als er sich vom anfänglich loyalen Unterstützer der US-Kriegspolitik zum radikalen Kritiker wandelte. Schließlich fasste er den Vorsatz zivilen Ungehorsam zu begehen, um die aus seiner Sicht schmählich hintergangene amerikanische Öffentlichkeit aufzuklären.
Der Whistleblower und Friedensaktivist Daniel Ellsberg (aufgenommen im Jahr 2016)
Der Whistleblower und Friedensaktivist Daniel Ellsberg (aufgenommen im Jahr 2016) (picture alliance / dpa / Arno Burgi)

"Gegen Ende des Jahres 1969 fing ich an, die 7.000 Seiten streng geheimen Materials zu kopieren und gab sie Stück für Stück an den Außenpolitischen Ausschuss des Senats. Als dann auch noch Laos und Kambodscha überfallen worden waren, gab ich die Papiere 1971 an die New York Times."
Die New York Times stellten eine solide Medienadresse dar, hatte das Blatt doch schon ganz früh, wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges im November 1964 Alarm gegen Präsident Johnsons neue Vietnam-Politik geschlagen:
"In Vietnam sind wieder Änderungen im Gang. Wenn nun eine Politik eingeschlagen wird, wenn ein asiatischer Krieg in einen amerikanischen Krieg verwandelt werden soll, dann hat unser Land ein Recht darauf, zu erfahren, was sich in den letzten Monaten so grundlegend geändert haben soll, dass eine neue Politik gerechtfertigt wäre."
Wie WikiLeaks zum Staatsfeind wurde
Einst hat WikiLeaks Tausende Dokumente veröffentlicht, die Kriegsverbrechen der USA im Irak-Konflikt belegen sollen. Die USA wollen den Gründer der Plattform, Julian Assange, wegen Geheimnisverrat vor Gericht stellen.
Doch das Land erfuhr nichts. Der von US-Verteidigungsminister Robert McNamara in Auftrag gegebene Bericht war nur für den Hausgebrauch bestimmt, genauer: für die Propaganda im Innern und zur Täuschung des Kongresses. Allerdings fiel der Bericht nicht unter das Spionagegesetz, weil er keinerlei militärische Geheimnisse enthielt. McNamara war das offenbar nicht klar. Torben Lütjen, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Kiel, sieht darin eine folgenreiche Fehleinschätzung des damaligen Verteidigungsministers:
"Er glaubte, man könne da irgendwie ganz klar festhalten, wie man Politik zu machen hat. Das war der Sinn dieses Papiers, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern irgendwie intern. Im Nachhinein muss man sagen, wenn man schon wusste, wie der Krieg gelaufen ist und man damit rechnen muss, dass alles irgendwie an die Öffentlichkeit kommt, war es wahrscheinlich keine kluge Idee, diese Expertise anfertigen zu lassen."

Die Lüge zum Ausbruch des Vietnamkriegs

Daniel Ellsberg musste bereits zu Beginn seiner Tätigkeit im Pentagon erfahren, dass die Erklärung von Kennedy-Nachfolger Lyndon B. Johnson zum Ausbruch des Vietnamkrieges eine einzige Lüge war: Es hatte keinen Angriff von nordvietnamesischen Patrouillenbooten auf amerikanische Kriegsschiffe im südchinesischen Meer nahe des Golfs von Tonking gegeben.
Die Pentagon Papers dokumentierten auch in vielen anderen Zusammenhängen, wie sehr die gesamte Vietnam-Politik auf Selbsttäuschungen und Täuschungen beruhte. Die Öffentlichkeit wurde mit vorsätzlich konstruierten Behauptungen in die Irre geführt, zum Beispiel mit manipulierten Zahlen über den Einsatz von US-Soldaten, erlittene Opfer oder Wirkungstreffer beim Gegner. Der ‚credibility gap‘, die anfangs noch übersehbare Glaubwürdigkeitslücke, habe sich dadurch in einen riesigen Abgrund verwandelt, konstatiert Bernd Greiner, Gründungsdirektor des Berliner "Kollegs Kalter Krieg", und Autor einer Henry-Kissinger-Biografie:
"Die Pentagon Papers waren ein Glied in einer ganzen Kette von Aktionen, Vorfällen, die das Vertrauen der Regierung, des Präsidenten, teilweise auch des politischen Systems und seine Institutionen schwer erschüttert haben. Es wurde klar, beginnend mit den Pentagon Papers über Watergate über alle anderen Skandale, die sich mit dem Vietnamrieg verbinden ließen, dass mehrere Regierungen seit Harry Truman die Öffentlichkeit in fundamentalen außen- und sicherheitspolitischen Fragen nach Strich und Faden belogen hat."
Südvietnamesische Soldaten in Kambodscha.
1966 in Vietnam Ein Krieg spaltet die Welt
Während in Europa der Kalte Krieg tobte, spaltete der Vietnamkrieg die amerikanische Gesellschaft. Mit der "Ballade Of The Green Berets" schrieb Barry Sadler ein Loblied an die tapferen Soldaten. Der Song war auf Platz 1 der US-Charts.
"Und zum anderen kam in diesen Pentagon Papers auch sehr stark zum Ausdruck, dass eigentlich alle Präsidenten sehr früh erkannt haben, in welch ausweglose strategische Lage die USA sich da begeben hatten und früh den Optimismus verloren hatten, dass der Krieg in irgendeiner Weise zu gewinnen war und trotzdem bestimmten Sachzwängen unterworfen waren und glaubten, ohne Gesichtsverlust da schwer rauszukommen, diesen Krieg weiter eskalierten", stellt Torben Lütjen fest. Doch wie konnte Südostasien mit einer – wie Henry Kissinger immer sagte – "kleinen, viertklassigen Macht" wie Vietnam zur Schicksalsregion der USA werden? Dazu Amerika-Experte Bernd Greiner:

"Weil die USA in imperialer Selbstüberhebung der Meinung waren, sie könnten dort gegen den expliziten Willen einer Mehrheit einer Bevölkerung ihren eigenen politischen Ordnungsvorstellungen durchsetzen. Und weil sie zum Zweiten der Meinung waren, mit einer konventionellen Streitmacht, also der US-Army, einen Guerillakrieg gewinnen zu können, der nach einer ganz anderen Logik funktioniert. Und unter beiden Voraussetzungen war völlig klar, dass dieser Versuch in einem Desaster enden muss. Allerdings hat man erst nach gut 15 Jahren eingesehen, dass das ein Desaster würde und die entsprechenden Konsequenzen gezogen."

Hannah Arendts bahnbrechender Essay

Scharf analysierte seinerzeit auch die Politikphilosophin Hannah Arendt, dass das Interesse der Vereinigten Staaten an einem militärischen Sieg weder an territorialen Gewinnen noch an wirtschaftlichen Vorteilen, gar an Hilfen oder der Einlösung einer Verpflichtung für einen angeblichen "Freund" im nicht-kommunistischen Südvietnam orientiert sein konnte. Und der kommunistische "Feind" in Nordvietnam? Der hatte, so Arendt, "weder den Willen noch die Macht, der Feind der USA zu sein."
In ihrem bahnbrechenden Essay "Wahrheit und Lüge in der Politik" stellte sie fest, in den Pentagon Papers sei es nicht um die Veröffentlichung von Irrtümern, Illusionen oder Fehlkalkulationen, sondern um Verheimlichung, Unwahrheit und bewusstes Lügen gegangen. Die sogenannten "Problem-Löser" aus den think tanks hätten sich die Oberhand verschafft, um mit Spieltheorien und Systemanalysen an "Probleme" der Außenpolitik heranzugehen. Hannah Arendt:
"Der Endzweck waren weder Macht noch Profit. Das Ziel, das allen vorschwebte, war das Image selbst. Als alles auf eine Niederlage hindeutete, bestand das Ziel nicht mehr darin, die demütigende Niederlage zu vermeiden, sondern Mittel und Wege zu finden, um ein Eingeständnis zu vermeiden und `das Gesicht zu wahren`. Image-Pflege als Weltpolitik – nicht Welteroberung, sondern Sieg in der Reklameschlacht um die Weltmeinung."
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Die Pentagon Papers machten zudem deutlich, wie sehr die US-Politik die Berichte ihres besser informierten Geheimdienstes CIA ignorierte. So übersah man in Südostasien, dass die Dominotheorie von der regionalen Ausstrahlung des Kommunismus auf Nachbarstaaten hinfällig geworden war. Ebenso wurde der aufkommende Antagonismus zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion mit der schiefen Annahme eines "monolithisch" geprägten Welt-Kommunismus zugedeckt und somit falsch eingeschätzt. Das komplizierte Verhältnis der süd-ostasiatischen Nachbarstaaten zum chinesischen Großreich wurde einfach außer Acht gelassen.
Mit den Lügen und Täuschungen in der Politik von Napoleon Bonaparte bis zur jüngsten Vergangenheit mit Trump und Putin befasst sich eine jüngst erschienene Studie des Aachener Historikers Helmut König. Im Anschluss an Hannah Arendts berühmten Essay bemerkt er, dass die in den Pentagon Papers dokumentierten Täuschungen nicht mehr unter die konventionelle Rubrik einer "rationalen Kriegslist" fielen, mit denen Kriege häufig rasch und siegreich beendet wurden. Im Vietnamkrieg sei alles anders verlaufen.
"Dort haben wir das Phänomen, dass bei den Lügenakteuren über lange Zeiträume hinweg Phantome aufgebaut worden sind, die mit der Realität der Tatsachen – Kräfteverhältnisse mit Blick auf China und den Kommunismus und die Frage, in welchem Ausmaß ausländische Einflussnahmen hinter dem Aufstand in Vietnam gestanden sind – also die diese Realität gar nicht angemessen zur Kenntnis genommen hat. Und das Irritierende ist, die Geheimdienste wussten das und die Geheimdienste haben auch den Akteuren die entsprechenden Informationen auf den Tisch gelegt. Aber die Akteure waren so in ihrer eigenen Welt des Probleme-Lösens und des Image-Making befangen, dass sie die Realität gar nicht mehr wahrgenommen haben."

Nixons Angst vor weiteren Papieren

Nachdem die New York Times drei Teile der Pentagon Papers veröffentlichen konnte, gelang es der Nixon-Administration am 15. Juni 1971, per Gerichtsbeschluss den weiteren Abdruck zu unterbinden. Doch der Supreme Court entschied am 30. Juni 1971 mit 6:3 Stimmen, die weitere Herausgabe der Papers freizugeben. Warum aber ließ sich Präsident Nixon durch diese Affäre so sehr beeindrucken, obwohl sich doch die Dokumentation primär mit der verfehlten Vietnam-Politik seiner Amtsvorgänger Kennedy und Johnson befasst? Dazu Torben Lütjen:
"Es hätte für ihn auch die strategische Option gegeben, zu sagen, das zeigt eigentlich, wie die anderen Regierungen versagt haben Wir machen es besser. Aber ich glaube, dass da eigentlich bereits sehr früh Nixons Paranoia begann und sein Feldzug gegen die Medien. Das ist der frame, indem er das alles so ge-sehen hat, natürlich auch gegen Ellsberg selber als Geheimnisverrat."
"Diese Pentagon Papers betrafen nur die Regierungen Kennedy und Johnson. Und einige Berater von Nixon – vorweg sein Stabschef Haldeman – haben gesagt `Da können wir ganz ruhig schlafen, die anderen sind blamiert, wir stehen gut da. Das ist deren Krieg und nicht unser Krieg.‘"
Doch Nixon hatte eine andere Befürchtung.
"Er glaubt, dass diejenigen, insbesondere Daniel Ellsberg, der die Pentagon Papiere an die New York Times durchgestochen hatte, dass er möglicherweise noch im Besitz weiterer Dokumente sein könnte, die die Regierung Nixon belasten. Und Nixon steigerte sich in die fixe Idee hinein, dass Ellsberg oder seine Mitstreiter möglicherweise Unterlagen haben könnten über die Art und Weise, wie Nixon während des Wahlkampfs 1968 versuchte, die Friedensverhandlungen mit Nordvietnam zu hintertreiben, und wie er auf diese Weise Präsident Johnson unter Druck setzen wollte, vor der Wahl im November `68 zu keinem Waffenstillstandsabkommen zu kommen."
Außerdem befürchtete Nixon, dass noch etwas anderes auffliegen würde, nämlich die geheime Bombardierung von Kambodscha. Er hatte sie angeordnet, aber der Presse und teilweise auch dem eigenen Kabinett verschwiegen. Bernd Greiner:
"Er glaubte also, dass Daniel Ellsberg und andere auch dieses Material irgendwann in absehbarer Zeit veröffentlichen könnten. Wer die Pentagon Papers an die Öffentlichkeit bringt, der ist auch zu einem zweiten Schritt fähig. Das hätte Nixon verwundbar gemacht."
Deshalb setzte er auf die Plummers, zu Deutsch: "die Klempner", die dafür zu sorgen hatten, Löcher im Regierungsapparat zu stopfen und keine weiteren Dokumente nach außen dringen zu lassen. Aus diesem geheimen Eingreifkommando wurden dann auch jene rekrutiert, die den Einbruch im Wahlbüro der Demokratischen Partei durchgeführt haben, der die Watergate-Affäre auslösen sollte. Richard Nixon fühlte sich am point of no return angelangt, wie die später veröffentlichten Tonbänder aus dem Weißen Haus dokumentieren:
"Es ist mir wurscht, wie es gemacht wird, aber macht, was getan werden muss, um die undichten Stellen zu stopfen. Verhindert weitere nicht autorisierte Veröffentlichungen. Ich will nicht hören, warum es unmöglich ist. Die Regierung kann nicht überleben, sie kann nicht arbeiten, wenn jeder, der will, daherkommt und Dokumente preisgeben kann, wie es ihm gerade einfällt. Ich will keine Ausreden, ich will Ergebnisse. Ich will, dass es gemacht wird. Um jeden Preis."
Steffen Kopetzky: "Propaganda" - Indianer trifft Whistleblower
Die Schlacht im Hürtgenwald, die Pentagon Papers und ein Schuss Karl May: Steffen Kopetzky verbindet in seinem unterhaltsamen Roman "Propaganda" politische Geschichte, Militärgeschichte und Abenteuerliteratur.
Zuvor schon hatten sich Nixon und sein Team schwere Rechtsbrüche geleistet. Torben Lütjen:
"Es gab ja damals den Versuch, in das Büro des Psychiaters des Therapeuten von Daniel Ellsberg einzudringen, um Akten zu bekommen über seinen psychologischen Zustand, um in der Öffentlichkeit ihn desavouieren zu können. Ich nehme aber auch an, dass diese ganze Immoralität dieser Regierung und auch Watergate wahrscheinlich auch ohne die Pentagon Papers passiert wäre."
Trotz der desaströsen Wirkung der Pentagon Papers konnte sich der Vietnam-Krieg noch anderthalb Jahre hinziehen, bis am 27. Januar 1973 in Paris das sogenannte "Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam" geschlossen wurde.
Am Ende haben die Nordvietnamesen den Krieg militärisch zu ihren Gunsten entschieden und nicht die Nixon-Administration mit ihren verheerenden Flächenbombardements und kriminellen Übergriffen im Innern. Völlig verstrickt in die Watergate Affäre, vom Kongress überführt und einem Impeachment zuvorkommend, trat Richard Milhous Nixon oder "Tricky Dick", wie sie ihn nannten, als 37. Präsident der Vereinigten Staaten am 8. August 1974 von seinem Amt zurück.
"Guten Abend. Ich trete morgen als Präsident der Vereinigten Staaten zurück."
Die Affären um die Pentagon Papers und den Watergate-Einbruch hatten beträchtliche Konsequenzen für das künftige Verhältnis zwischen Staat, Politik und Medien. Sie lösten einen Glaubwürdigkeits-Gau aus, von dem sich das Land bis heute nicht richtig erholt hat. Kissinger-Biograf Bernd Greiner:
"Seit der Zeit ist das Vertrauen in Institutionen im freien Fall. Die einzige Institution, die bei allen Umfragen noch verlässlich hohe Zustimmungswerte genießt, ist das Militär. Dieses Misstrauen macht mittlerweile auch vor dem Supreme Court nicht mehr Halt."
Der US-Historiker Timothy Snyder während eines Vortrags 
Historiker Timothy Snyder: „Trumps Erbe ist die große Lüge“
Der Historiker Timothy Snyder warnt vor den Folgen zentralisierter Medien für die Demokratie. Fehlende lokale Berichterstattung habe in den USA dazu geführt, dass große Lügen einen so breiten Raum in der Gesellschaft bekommen hätten.
Dass eine Regierung in einer liberalen Demokratie die Wähler und das Parlament systematisch hintergeht, ist heutzutage keine Sensation mehr. Im Zeitalter der fake news scheint dies bedauerlicherweise fast schon zur Normalität zu gehören. Auch Jessica Gienow-Hecht, Historikerin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin sieht das so:
"Wir haben uns auch in den USA an viele Sachen gewöhnt, Affären, Wahlbetrug, Watergate, Iran-Contra, Monika Lewinsky usw. 1971 galt das Amt der Exekutive, also des Präsidenten, immer noch als ein integres Amt, das heißt Präsidenten waren Menschen, die moralisch integrer waren als der Durchschnitt der Amerikaner und die das Volk dadurch auch inspirierten."
Das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten ist im 20. Jahrhundert in ein Spannungsverhältnis geraten. Die moralischen Erwartungen der Öffentlichkeit sind sehr hoch, andererseits scheint es unmöglich, diese Ansprüche moralisch kerzengerade und ohne Täuschungsversuche gegenüber Kongress und Volk einlösen zu können.
"In diesem Sinne ist 1971 selber gar kein turning point, keine Zäsur, kein Wendepunkt. Aber es ist der Punkt, wo unter dem Druck einer ohnehin angeheizten Situation diese Spannung ganz offensichtlich wird. Und zwar so krass, dass der eigentliche Konsens des Präsidentenamtes daran beinahe zerbricht. Also die Pentagon Papers 1971, die Veröffentlichung zusammen mit dem Watergate-Skandal sind eigentlich in ihrer Enge und in ihrer Symbolik gar nicht mehr zu überbieten. Denn sie markieren genau den Augenblick, in dem die amerikanische Öffentlichkeit realisiert, dass ihre Präsidenten keine guten und auch keine unschuldigen Menschen sind, sie selber auch kein unschuldiges Volk."
Die Pentagon Papers berührten aber noch einen weiteren folgenreichen Aspekt. Denn von Daniel Ellsberg, der im Mai 1973 freigesprochen wurde, ging das investigative Narrativ des Whistleblowings aus, das inzwischen über die WikiLeaks von Julian Assange und den Veröffentlichungen von Edward Snowden zu weiteren Aufsehen erregende Enthüllungen geführt hat. Sogenannte "Durchstecher" gelten längst nicht mehr als Landesverräter, sondern als willkommene Aufklärer. Daniel Ellsbergs mutiges Verhalten war hierbei beispielgebend.
"Ellsberg war ein sehr talentierter, ein sehr mutiger investigativer Journalist. Und er hat dieses Image des objektiven und eben nicht regierungstreuen Reporters sehr nachhaltig geprägt und inspiriert. Heute gibt es in den USA viele Preise "for investigative journalism", die ihn ehren. Hier geht es um das Selbstbewusstsein einer vierten Macht im Staat, eines Berufsbildes, das viel zu tun hat mit detektivischer Arbeit, mit Aufklärung und sogar mit Kontrollinstanz."