Dienstag, 23. April 2024

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Griechisch-mazedonische Grenze
"Es ist irgendwie surreal"

Der bayerische Integrationsbeauftragte Martin Neumeyer hat sich an der griechisch-mazedonischen Grenze ein Bild vom Flüchtlingsansturm gemacht. Geschockt habe ihn vor allem die Schlepper-Kriminalität der türkisch-albanischen Mafia auf griechischer Seite, sagte der CSU-Politiker im Deutschlandfunk.

Martin Neumeyer im Gespräch mit Thielko Grieß | 24.08.2015
    Martin Neumeyer (CSU), bayerischer Integrationsbeauftragter und Landtagsabgeordneter
    Martin Neumeyer (CSU), bayerischer Integrationsbeauftragter und Landtagsabgeordneter (picture alliance / dpa - Armin Weigel)
    Die meisten der Flüchtlinge wollen nach Deutschland, sagte Martin Neumeyer (CSU). "Die Leute wissen, dass Deutschland gute Standards hat und viel bietet."
    Die Prognose von 800.000 Asylanträgen bis Ende des Jahres sei wahrscheinlich zu niedrig angesetzt, so der bayerische Integrationsbeauftragte - "Ich glaube nicht, dass das reicht." Neumeyer begründete dies vor allem mit einer langfristigen Familienzusammenführung, die stattfinden werde - "ähnlich wie in den 60er- und 70er Jahren bei unseren Gastarbeitern."
    Neumeyer vermisst eine aktive Anti-IS-Koalition
    Eine Liste sogenannter sicherer Herkunftsländer festzulegen, hält Neumeyer für wichtig. "Zumindest für diejenigen Länder, bei denen die Bleiberecht-Chancen ohnehin gegen Null gehen."
    Um die Flüchtlingssituation zu entspannen, müsse endlich die Terrormiliz IS gestoppt werden, "sonst wird es eine Never-ending-Story". Neumeyer fragte kritisch: "Doch wo ist diese Anti-IS-Koalition?" Das ist ein Papiertiger, der gut klingt."

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Jetzt sind wir verbunden mit dem Integrationsbeauftragten nicht Sachsens, nein, sondern eines südlicheren Bundeslandes: des Freistaates Bayern. Guten Morgen, Martin Neumeyer.
    Martin Neumeyer: Hallo! Grüß Gott! Hier ist Neumeyer.
    Grieß: Sie sind Mitglied der CSU.
    Neumeyer: Ja!
    Grieß: Sie waren vor wenigen Tagen an der mazedonisch-griechischen Grenze und haben sich dort einen Eindruck verschaffen wollen von der Situation. Flüchtlinge drängen nach Mazedonien, wollen weiter über die sogenannte Balkan-Route nach Deutschland. Wer weiß: Manch einer wird vielleicht am Ende in der Unterkunft in Heidenau unterkommen, über die wir gerade gesprochen haben. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
    Neumeyer: Es ist irgendwie surreal, was an dieser Grenze am Freitag war. Am nächsten Tag sind ja Leute über diese Grenze gesprungen. Das ist einfach Stacheldraht gewesen, der die beiden Länder Griechenland und Mazedonien abgrenzt. Auf der einen Seite Soldaten mit Waffen, wenige Soldaten, 10, 20 Leute, und auf der anderen Seite Hunderte, Tausende von Menschen, die einfach warten, um über diese Grenze zu kommen und dann in den Zug einzusteigen, nachdem sie registriert worden wären oder mittlerweile wieder sind, in Mazedonien einzusteigen und weiterzufahren.
    Grieß: Warum wollen die Menschen nach Deutschland?
    Neumeyer: Ich denke, dass viele auch schon Verwandte da haben, dass viele auch in den Medien oder durch wen auch immer erfahren, dass Deutschland gute Standards hat, dass Deutschland hier sehr offen ist und dass Deutschland hier viel bietet. Ich denke, das ist auch in den Köpfen drin, wir wollen nach Deutschland, zumindest nach West- oder Mitteleuropa, aber auch natürlich einige oder ein Teil nach Skandinavien. Es ist in den Köpfen Deutschland. Ich habe das erlebt. Auf der griechischen Seite wurde wirklich "wir lieben Deutschland" skandiert und in vielen Augen und in vielen Menschen ist Hoffnung für ein anderes Leben. Andererseits hat mir ein Syrer direkt an der Grenze erzählt, dass viele der hier Wartenden, so seine Aussage - ich habe noch mal nachgefragt, fifty oder fifteen -, er sagte fifty percent, also 50 Prozent sind nicht Syrer, sind aus anderen Teilen, und das bedarf natürlich auch ein gewisses Nachschauen. Was mich besonders überrascht hat, sind auf der griechischen Seite die Strukturen der Mafia, der türkisch-albanischen Mafia, die uns ein NGO-Mann geschildert hat - wir sind da etwas weiter weg von, um einfach miteinander zu reden -, der einfach ganz eindeutig gesagt hat, hier laufen Dinge ab im finanziellen Bereich, die alles übersteigen, was man sich vorstellen kann.
    Grieß: An mafiösen Schlepperstrukturen und Schlepperkriminalität.
    Neumeyer: Ja.
    Grieß: Herr Neumeyer, jetzt sind Sie wieder in München, oder zumindest in Bayern sind sie wieder zurück. Haben wir schon verstanden in Deutschland, was da auf uns zukommt?
    Neumeyer: Ich denke, viele wissen es, und wir haben ja letzte Woche die Zahl gehört, die sich ja verzweifacht hat zumindest von der Analyse ...
    Grieß: Die Prognose für das laufende Jahr.
    Neumeyer: Die Prognose, genau.
    Grieß: 800.000 Asylanträge.
    Neumeyer: Ja.
    "Die Familienzusammenführung wird kommen"
    Grieß: Zu wenig?
    Neumeyer: Ich denke, es sind zu wenig. Es werden mehr werden, weil viele schon auf dem Weg sind, die man vielleicht noch nicht sieht. Und wenn man das da vor Ort weiß - und ich habe auch mit Verantwortlichen auf beiden Seiten, auf der mazedonischen und auf der griechischen Seite, auch mit Vertretern von NGOs gesprochen -, wenn man dies dann subsumiert, dann, denke ich, ist die 800.000 schon eine Riesenzahl. Aber ich glaube nicht, dass es reicht.
    Grieß: Viele dieser Menschen werden Asyl bekommen, wenn die Umstände entsprechend sind. Sie werden bleiben, sie werden in einigen Jahren vielleicht ihre Familien nachholen. Deutschland kann sich darauf vorbereiten, diese Menschen zu integrieren, wie es so schön heißt. Wie soll das gehen?
    Neumeyer: Die Familienzusammenführung wird kommen. Das ist meiner Ansicht nach ähnlich wie in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren im Bereich der Gastarbeiter. Das wird natürlich dann noch eine größere Anzahl werden. Die Integration bedeutet, dass man von Anfang an, sofern man das auch alles umsetzen kann, was gewünscht ist, einfach Schule, Bildung anbietet von A bis Z und ohne Bildung keine Chance. Da ist die Sprache ein Teil, mit Sicherheit die Basis, aber Sprache allein reicht nicht. Das muss wirklich Schule, Fortbildung, Ausbildung und Weiterbildung sein. Da ist universitäre genauso wichtig oder umgekehrt handwerkliche genauso wichtig wie universitäre. Das ist die einzige Chance und das ist der Teil der Integration, der notwendig ist.
    Grieß: Aber zugleich halten sich Teile der Politik damit auf, darüber zu diskutieren, ob manche Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden sollen. Das alles löst ja das Problem im Nahen Osten nicht. Das was Sie hier schildern, drohen wir da eine Entwicklung wieder einmal zu verschlafen?
    Neumeyer: Ich denke, die sicheren Herkunftsländer müssen wir trotz allem feststellen, weil diese Plätze, die wir in Zukunft mit Sicherheit brauchen, einfach belegt werden durch Menschen, die bei Bleiberechtsmöglichkeiten gegen null gehen. Was mich schockiert hat war auch die Aussage, dass man ISIS allein mit Luftangriffen nicht stoppen kann, sondern wir brauchen Bodentruppen, und ich erlebe das auch schon an E-Mails, ich soll meine eigenen Söhne schicken und wenn der erste schwarze Sarg kommt, dann soll ich mich hinstellen. Es ist natürlich schwer, mittlerweile solche Dinge überhaupt in die Debatte einzuwerfen, um das seriös zu debattieren. Aber wir müssen alles debattieren, weil ich glaube, wenn wir diese IS nicht stoppen können, dann wird das eine Never-ending-Story. Das müssen wir einfach ganz ehrlich angehen, ehrlich miteinander zu reden. Wir haben schon mal gesprochen über die Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch. Dann müssen wir auch darüber nachdenken, wie weit wir unsere Freiheit auf diesem Teil der Erde verteidigen.
    Grieß: Das ist ja ganz interessant, Sie dazu zu hören. Sie sind ja auch Mitglied der CSU, arbeiten in der Staatskanzlei. Warum hört man denn von Ihren Parteioberen, den oberen Hierarchen so wenig dazu?
    Neumeyer: Ich glaube, manche dieser Themen sind auch No-Go-Themen, wie wir es vorher gehört haben. Ich muss aber trotzdem sagen, man muss das anreden ganz offen. Man muss auch dann die internationale Solidarität einfordern.
    Grieß: Warum ist das ein No-Go-Thema, aus Angst vor dem Stammtisch?
    Neumeyer: Bitte?
    "Wo ist diese Anti-IS-Koalition?"
    Grieß: Aus Angst vor dem Stammtisch?
    Neumeyer: Nein, das Gegenteil. Ich glaube, dass es nicht die Angst vor dem Stammtisch ist. Ich glaube, die Zeiten müssen vorbei sein, dass wir Angst vor dem Stammtisch haben, sondern wir müssen uns ganz offen mit offenem Visier diesem Thema stellen und ohne Ideologie, sondern einfach wirklich die Leute fragen an diesen Stammtischen, die Sie zitieren, wo sind die Lösungen. Die Lösungen muss ich offen debattieren, ohne Scheuklappen und ohne, dass ich mir schon wieder selber eine Hürde aufbaue. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Die Frage ist auch wichtig zu stellen: Wo ist diese Anti-IS-Koalition? Das sind viele Staaten, was ist bisher erreicht worden? Es ist meiner Meinung nach nicht viel erreicht und es ist vielleicht ein Papiertiger, der jetzt gut klingt - aber was ist erreicht worden? Ich muss natürlich auch fragen, wir müssen darüber nachdenken: Wo sind die Wege der Waffen, Hightech-Waffen?
    Grieß: Einige dieser Fragen müssen wir leider offen lassen, denn wir müssen unser Gespräch wegen der nahenden Nachrichten beenden. Aber Sie haben einige Beiträge zur Debatte heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk angeboten. Danke schön, Martin Neumeyer, der Integrationsbeauftragte des Freistaates Bayern. Gruß in den Freistaat!
    Neumeyer: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.