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Ein Jahr Präsident der Ukraine
Selenskyjs Bilanz mit Licht und Schatten

Genau ein Jahr lang ist Wolodymyr Selenskyj nun ukrainischer Präsident. Die Bilanz des früheren Komikers: gespalten. Sein größter Erfolg: Er beschaffte dem Land neue Kredite. Den Krieg in der Ostukraine konnte er dagegen noch nicht beenden. Auch die Korruptionsbekämpfung läuft nicht wie geplant.

Von Florian Kellermann | 20.05.2020
Wolodymyr Selenskyj zieht eine resignierte Grimasse.
Wolodymyr Selenskyj - nicht alles lief rund in seinem ersten Amtsjahr, etwa die Hälfte der Ukrainer steht aber noch hinter ihm (Getty Images / Spencer Platt)
Ein derart unerfahrener Präsident, das müsse ja schiefgehen, meinten die Skeptiker vor einem Jahr. Doch das befürchtete Chaos sei ausgeblieben, sagt Iwan Werstjuk von der unabhängigen Wochenzeitung "Neue Zeit":
"Es kommt vor allem darauf an, ein guter Manager zu sein, hat sich gezeigt. Man muss in der Lage zu sein, die richtigen Anordnungen zu treffen und Deadlines im Blick zu behalten. Das ist Selenskyj gelungen, wohl auch deshalb, weil er früher ja auch eine Filmproduktionsfirma geleitet hat."
Neue Kredite für die Ukraine
Die größten Erfolge hatte der 42-Jährige damit gerade in den vergangenen Wochen. Er brachte zwei wichtige Gesetzesvorhaben durch das Parlament, die der Internationale Währungsfonds gefordert hatte. Nur so konnte er sicher stellen, dass die Ukraine neue Kredite bekommt – und trotz Corona-Krise zahlungsfähig bleibt. Zunächst beschloss das Parlament eine Bodenreform: Ackerland kann von der Mitte des kommenden Jahres an verkauft werden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
Ukraine-Krise - Selenskyjs Bewährungsprobe
Der Truppenabzug in den Ortschaften Stanyzja Luhanska, Solote und Petriwske ist erfolgt. Doch der politische Gegenwind innerhalb der Ukraine gegen den Weg des neuen Präsidenten ist deutlich spürbar.
Für das andere Gesetz kam Selenskyj extra ins Parlament:
"In dieser Legislaturperiode gibt es einige Gesetzesinitiativen von historischer Bedeutung. Bei ihnen sollten sich alle Parteien, sollte sich das ganze Land einig sein. Ich bitte Sie mit allem Respekt, für dieses Gesetz zu stimmen, das die ukrainische Wirtschaft schützt."
Keine Klientelpolitik für Kolomojskyj
Dieses zweite Gesetz bewirkt, dass die Ukraine Banken, die sie einmal nationalisiert hat, nicht mehr an den ehemaligen Eigentümer zurückgeben kann. Selenskyj stellte sich damit gegen seinen früheren Gönner, den Oligarchen und Ex-Bankier Ihor Kolomojskyj. Ein positives Signal, Beobachter hatten befürchtet, der Präsident werde Klientelpolitik für Kolomojskyj betreiben.
Zu den Erfolgen von Selenskyj zählen auch die Gefangenenaustausche mit Russland. Dutzende Ukrainer sind so in die Heimat zurückgekehrt.
Selenskyj versprach allerdings gleichzeitig, den Krieg im Donezbecken zu beenden. Doch dort kämpft die Ukraine weiterhin gegen von Russland gesteuerte sogenannten Separatisten. Selenskyjs Vorstellung, er müsse nur mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ins Gespräch kommen, erwies sich als naiv.
Immer wieder hatte es den Anschein, als wolle Selenskyj Russland erhebliche Zugeständnisse machen, um Frieden zu erreichen. Dagegen regte sich aber erheblicher, und letztlich erfolgreicher Widerstand auch in seiner eigenen Partei.
Gerichtsreform kommt nicht vom Fleck
Ebenfalls kaum Fortschritte hat der Präsident bei seinem anderen großen Versprechen erzielt: die Korruption zu bekämpfen. Immerhin hob das Parlament die Immunität der Abgeordneten auf, hinter der sich korrupte Politiker immer wieder versteckten. Aber die dringend nötige Gerichtsreform kommt einfach nicht vom Fleck. Der Politologe Wolodymyr Fesenko im privaten Fernsehsender 1+1:
"Hier zeigt eines der Hauptprobleme von Selenskyj und seiner Mannschaft. Als er an die Macht kam, hatte er keine klare Vorstellung davon, in welche Richtung er das Land entwickeln will. Zum Beispiel, ob die Oligarchen dabei eine wichtige Rolle spielen sollen oder nicht. Wie der Staat künftig funktionieren soll."
Dass der große Plan fehlt, wurde deutlich, als Selenskyj im März die Regierung entließ, nach nur wenigen Monaten. Der als Reformer geltende ehemalige Ministerpräsident musste seinen Hut nehmen, ohne das klar wurde, warum. Sein Nachfolger gilt in Sachen Korruptionsbekämpfung als weniger ambitioniert.
"Kein verlorenes Jahr"
Noch habe Selenskyj ja vier Jahre Zeit, heißt es aus dem Lager des Präsidenten. Dessen wichtigster Berater, Ruslan Stefantschuk, erklärte bei einer Pressekonferenz:
"Das war meiner Beurteilung nach keinesfalls ein verlorenes Jahr. Natürlich können wir nicht mit allem zufrieden sein. Aber wir können es schaffen, die schwierigen Probleme zu lösen und unsere Fehler auszubessern."
Viele Ukrainer sehen das auch so. Selenskyj vertrauen weniger Menschen als vor einem Jahr, aber immerhin noch etwa die Hälfte der Ukrainer. Der Präsident liegt damit deutlich vor allen anderen Politikern.