Ältere Zuhörer erinnern sich vielleicht noch an das 60er-Jahre-Erfolgsmusical "Anatewka" um den braven Milchmann Tewje und seine Töchter. Der Titelsong "Wenn ich einmal reich wär" war damals ein Hit. Im amerikanischen Original hieß das Musical "Fiddler on the roof" - "Der Geiger auf dem Dach"- und löste in der westlichen Welt eine wahre Schtetl-Nostalgie aus: Man pflegte die Vorstellung vom kleinen östjüdischen Nest, wo die Klezmer-Geiger auf den Dächern sitzen und alle arm, aber fröhlich sind.
Nach der Vernichtung der ostjüdischen Welt und ihrer Bewohner in der Zeit des Nationalsozialismus war das Schtetl offenbar zu einer Leerstelle geworden, die sich nun mit Sentimentalität füllen und zum Sehnsuchtsort machen ließ.
Grigori Kanowitschs Roman "Ewiger Sabbat" setzt der kitschigen Verklärung die Realität entgegen. Das Werk spielt in einem namenlosen litauischen Schtetl in den dramatischen Jahren zwischen 1937 und 1944. Wären da nicht die Gespräche über einen gewissen Hitler in Deutschland und die überstürzte Emigration ganzer Familien - man könnte es eine Idylle nennen, die der Ich-Erzähler Daniel, zu Beginn der Handlung elf Jahre alt, anfangs schildert.
"Das wird ein herrlicher Markttag, dachte ich. An solch einem Tag ist es ein Vergnügen, über den Marktplatz zu streifen, die wimmelnde Menschenmenge und die reifbedeckten Pferde zu betrachten, dem Gedröhn und Gelärm zu lauschen: Gänse schnattern, Schweine grunzen, Kälber muhen. Und was für Gerüche gibt es auf dem Markt! Sogar die Pferdeäpfel duften dort auf besondere Weise. Und der Sauerkohl in den Fässern! Und der gelbliche Käse mit Kümmel! Und der Honig, der unvergleichliche litauische Honig in den Emaille-Eimern! Gesegnet sei die Erde, über der solche Bienen schwärmen!"
Lakonischer Witz in der Übersetzung treffend nachgebildet
Seinen Protagonisten Daniel hat Grigori Kanowitsch einem anderen literarischen Helden nachempfunden: Motl Peisje, dem Sohn des Kantors, aus dem gleichnamigen Roman des berühmten jiddischsprachigen Autors Scholom Alejchem. Mit Motl teilt Daniel die unbändige Lebensfreude und Neugier, die Abneigung gegen das Stillsitzen und Lernen. Einige Passagen hat Kanowitsch fast wörtlich von Scholom Alejchem übernommen und bekennt sich so als dessen Erbe. Seine eigene Position zwischen den Sprachen und Kulturen kann Grigori Kanowitsch nur im Negativen definieren, wenn er sagt: "Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, weil ich russisch schreibe, kein russischer Schriftsteller, weil ich über Juden schreibe, und kein litauischer Schriftsteller, weil ich nicht auf Litauisch schreibe." Die Muttersprache des Autors ist das Jiddische, die Umgangssprache des Schtetls - "unsere Sprache", wie er seinen Helden sagen lässt. Der Autor verlieh seinen Protagonisten im Russischen eine jiddische Klangfarbe. Waltraud Ahrndt, die den Roman Anfang der 80er-Jahre für den Aufbau-Verlag übersetzte, hat diesen Ton und den bärbeißigen, lakonischen Witz, den Kanowitschs Schtetl-Bewohner pflegen, im Deutschen behutsam und treffend nachgebildet.
Wie sein literarisches Vorbild Motl träumt auch Daniel den Traum vom Fliegen: In diesem Traum kann der Junge der Wirklichkeit entfliehen und den Vater befreien, der wegen seiner sozialistischen Überzeugungen im Gefängnis sitzt, er kann fremde Länder bereisen. Daniels Träume erinnern an die Bilderwelten Chagalls mit ihren frei im Raum schwebenden Menschen.
"Ich lag und bemühte mich, nicht ans Waisenhaus zu denken. Mal schaute ich an die Decke, mal auf die eingerissene Tapete, hinter der vorsichtig die Wanzen raschelten. An der Zimmerdecke spazierte der Synagogendiener Chaim und entzündete Sterne wie am Himmel, und unter der Himmelskuppel - der Decke - flog Großvater, er flatterte wie eine Ringeltaube, und die Sterne versengten seine Flügel. Meine Fantasie zauberte nicht nur den Großvater und den Synagogendiener Chaim an die Decke. Auch mein Vater (...) floh dort aus dem Gefängnis, um mich vorm Waisenhaus zu retten. So sehr ich mich bemühte, das Waisenhaus zu vergessen, meine Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück, zu ihm und zum Totengräber Josef, und da verschwanden die Sterne von der Decke, und sie hing über mir wie ein Grabstein."
Der Totengräber nimmt Daniel nach dem Tod der Großmutter, die den elternlos aufwachsenden Jungen versorgt hat, zu sich und rettet ihn vor dem Heim. Der Freiheitstraum und das Fernweh bleiben dem Heranwachsenden, der bald die erste Liebe, aber auch die Bedrohung seiner kleinen Welt erlebt. Aus beiläufigen Gesprächen erfährt er, dass Hitler Polen überfallen hat. Bald rollen sowjetische Panzer in Litauen ein, das – wie auch die anderen baltischen Staaten - in den geheimen Zusatzprotokollen des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 der Sowjetunion zugesprochen wurde.
Mangel an editorischer Sorgfalt
Grigori Kanowitsch schrieb sein Werk in den Siebzigerjahren als Bürger der Litauischen Sowjetrepublik - allzu offen durfte er die sowjetische Machtübernahme damals nicht schildern. Dabei haben die Menschen nicht nur in Litauen, auch in Lettland und Estland die sowjetischen Zeiten ihrer Geschichte mit den Enteignungen, den Verhaftungen und der Verschleppung Zigtausender nach Sibirien als traumatisch erlebt - in der kollektiven Erinnerung der baltischen Völker ist dieses Trauma bis heute präsent und verstellt bisweilen sogar den Blick für die Gräuel der deutschen Besatzer an der jüdischen Bevölkerung des Baltikums in den Jahren zwischen 1941 und 1944.
Es ist schade, dass kein Nachwort dem Leser die notwendigen historischen Zusammenhänge bietet. Auch die Anmerkungen zum Text und die Informationen über den Autor sind viel zu dürftig. Man wüsste gern so Vieles, zum Beispiel, wo Kanowitschs Bücher erschienen, in Litauen oder in Moskau, ob er Probleme mit der Zensur hatte - immerhin verschweigt er die Kollaboration vieler Litauer mit den deutschen Besatzern nicht. Kollaboration und Mitschuld sowjetischer Menschen waren ein Tabuthema in der Sowjetunion. Warum erfährt man nicht, dass sich bei diesem Werk eigentlich um eine Romantrilogie handelt, deren Titel "Kerzen im Wind" lautet? Warum erscheint sie hier unter dem Titel "Ewiger Sabbat"?
Der Mangel an editorischer Sorgfalt ist leider eine alte Krux der Anderen Bibliothek mit ihren - wie auch in diesem Falle - hochinteressanten Wiederentdeckungen.
Der Schriftsteller Grigori Kanowitsch, geboren 1929 als Sohn eines Schneiders und in einem kleinen, jüdisch geprägten Ort in der Nähe von Kaunas aufgewachsen, kennt das Schtetl aus eigenem Erleben. Die Schrecken des deutschen Vernichtungskriegs blieben ihm und seiner Familie erspart - seine Eltern konnten rechtzeitig nach Kasachstan fliehen und kehrten erst 1945 nach Litauen zurück.
Trilogie über Leben und Sterben eines litauischen Schtetls
Nur sechs Prozent der litauischen Juden haben den Holocaust überlebt. In keinem anderen von den Deutschen besetzten Land erlitt die jüdische Bevölkerung so hohe Verluste. Seinen jugendlichen Helden lässt der Autor erfahren, was er selbst nur aus Erzählungen Überlebender kannte - das Getto, die ständig drohenden Transporte in die Vernichtungslager. Daniel, inzwischen 18 Jahre alt, wird - wie sein biblischer Namensvetter - zum Helfer in der Not, zum Retter der Seinen. In Jauchefässern schmuggelt er Waisenkinder aus dem Getto. Daniel trotzt dem Tod und vergisst das Leben nicht. Auf Menschen wie ihm ruht alle Hoffnung. Mit Daniels Besuch einer Probe des Getto-Orchesters endet Grigori Kanowitschs Trilogie über Leben und Sterben eines litauischen Schtetls.
"Die Frauenstimmen sangen leise: "Alle Menschen werden Brüder ... Seid umschlungen, Millionen!" Ich hielt die Geige fest und wiederholte hartnäckig vor mir selbst: Seid umschlungen, Millionen! Seid umschlungen, umarmt euch, Totengräber und Jauchefahrer, Uhrmacher und Schneider, Schornsteinfeger und Hochzeitsmusikanten. Umarmt euch, Lehrer und Doktoren, Synagogendiener und Flüchtlinge! Umarmt euch, Litauer und Juden, Russen und Deutsche, Getaufte und Mohammedaner! Umarmt euch, Lebende und Tote! Alle Menschen werden Brüder, wiederholte ich unentwegt. Alle sind sie Kinder der Menschheit. Und kein einziges Stiefkind ist darunter!"
Nach dieser inbrünstigen Litanei der Hoffnung beschwört Daniel mit einem Appell an eine Ziege - das friedliche Wappentier des Schtetls - den Glauben an eine Zukunft, in der das Leben weitergeht. Es sind die letzten Worte des Romanwerks:
"Weide, Ziege, weide, noch bleckt der graue Wolf die Zähne, aber Großmutter backt schon Hochzeitskuchen mit Rosinen und Zimt."
Grigori Kanowitsch, Ewiger Sabbat. Aus dem Russischen von Waltraud Ahrndt. Die Andere Bibliothek. Berlin 2014. 600 Seiten.