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Grit Poppe: "Schuld"
Szenen einer DDR-Jugend

Grit Poppe schreibt Erzählungen und Romane, in die sie ihre Jugenderfahrungen in der DDR einfließen lässt. In "Schuld", ihrem neuen Roman, spürt man deutlich, dass die Autorin das repressive Milieu in der Schule mit Blauhemd und Fahnenappell oder die Atmosphäre in oppositionellen Kreisen aus eigener Erfahrung kennt.

Von Sylvia Schwab | 08.11.2014
    Das Logo vom Jugendradio DT64 auf einer Aufnahme von 1991.
    Grit Poppe hat mit "Schuld" einen spannenden Entwicklungsroman geschrieben, der zugleich ein politischer Roman und auch eine Liebesgeschichte ist. (picture-alliance/ ZB / Jan Bauer)
    Ihre Titel klingen wie Fanfaren – oder wie zuschlagende Gefängnistüren: "Der Fluch", "Weggesperrt", "Abgehauen". Und nun: "Schuld". Hinter Grit Poppes knalligen Jugendbuch-Titeln versteckt sich ihre eigene Erfahrung mit dem DDR-Regime. Sie schreibe "gegen das Vergessen" an, sagte sie einmal. Ihr Interesse, ihr Engagement und auch ihr Mitgefühl gelten den Menschen, die mit dem Staat aneinandergerieten. Und all den psychologischen, moralischen, politischen und sozialen Konflikten, die sich daraus ergaben. Grit Poppes jugendliche Helden geraten in extreme Situationen.
    "Ich fand es einfach wichtig, dass man auch für Jugendliche von heute solche Stories erzählt, mit denen die was anfangen können. Wo die merken, da ist auch viel Authentisches dahinter und gleichzeitig wird mir da auch eine existenzielle Geschichte erzählt."
    Durch das Cover ihres neuen Romans geht ein Riss. Doch hinter dem schwarz gedruckten Begriff "Schuld" auf dem Umschlag steht weder ein Ausrufezeichen noch ein Fragezeichen. Grit Poppe sieht da eher ...
    "... ein Fragezeichen. Weil: es geht da um Jana, die eher ein Schuldbewusstsein hat, aber es ist ja die Frage, ob sie schuldig ist. Sie fühlt sich schuldig, auf jeden Fall, aber sie ist nicht schuld."
    In "Schuld" erzählt Jana mit 18 Jahren – im Jahr 1992 – was sich drei Jahre zuvor ereignete: im Sommer und Herbst 1989. Da wurde sie fünfzehn Jahre alt. Damals zog sie mit ihren streng parteitreuen Eltern nach Berlin und wurde in ihrer neuen Schule als "Landei" und "Dorftusse" gemobbt. Was den real existierenden Sozialismus betrifft, war Jana völlig naiv. Stasi, Überwachung, Angst vor Bespitzelung oder Angst um Angehörige im Gefängnis – sie hatte keine Ahnung.
    Mit Jakob wird alles anders
    Doch mit Jakob, ihrem neuen Banknachbarn, wird alles anders. Sie freunden sich an und er klärt sie auf: über Mauerschützen, Ausreiseanträge und Berufsverbote, denn er ist selbst betroffen. Seine Eltern sind Regimegegner und wollen raus. Jakob Jana in seine Aktionen ein, er nimmt sie mit in eine kirchliche Widerstandsgruppe und verschwindet nach einer geplanten Flugblattverteilung im Gefängnis. Und Jana scheut - trotzig und wütend - nicht länger den Konflikt mit den Eltern. Erst drei Jahre später, als sie im Jahr 1992 ihre Stasi-Akte liest, begreift sie, dass ihr eigener Vater IM war und sie und Jakob und ihre Liebe damals verraten hat.
    "Es ist tragisch, einerseits, und andererseits ist es auch so eine Selbstfindungsgeschichte für die Jana. Sie findet zu einem politischen Bewusstsein, dass sie vorher gar nicht hatte. Und am Ende beteiligt sie sich auch an der friedlichen Revolution - und weiß, das ist ihr Weg, mit den Freunden von Jakob eine Veränderung zu erreichen."
    Grit Poppe hat mit "Schuld" einen spannenden Entwicklungsroman geschrieben, der zugleich ein politischer Roman und auch eine Liebesgeschichte ist. Viel bewegender Stoff, der ebenso viele Emotionen, Diskussionen, Auseinandersetzungen und Ängste freilegt. Man spürt deutlich, dass die Autorin das repressive Milieu in der Schule mit Blauhemd und Fahnenappell oder die Atmosphäre in den oppositionellen Kreisen aus eigener Erfahrung kennt. Und dass sie lange recherchiert hat über als "Jugendhäuser" und "Jugendwerkhöfe" bezeichnete Jugendgefängnisse. Authentizität ist oberstes Gebot!
    Doch "Schuld" ist nicht nur spannend geschrieben, sondern auch psychologisch überzeugend. Janas Hin- und Hergerissensein zwischen Vertrauen und Misstrauen ihren Eltern gegenüber, zwischen ihrer Wut über das verlogene System und ihrer Angst vor Repressalien, zwischen Aufmüpfigkeit und Gehorsam – dieses Chaos an Gefühlen ist genauso packend wie Jakobs Einsamkeit. Sein Entsetzen und seine Verzweiflung, nachdem er verurteilt ist zu einem Jahr Haft unter unmenschlichen Bedingungen, sind packend geschildert. Die Verhöre und Gefängnis-Szenen vergisst man so leicht nicht! Und das geht Jugendlichen im Westen und im Osten ähnlich, wie Grit Poppe bei Lesungen feststellen konnte.
    "Was ein bisschen anders ist, ist natürlich das Verhalten der Lehrer und vom Unterricht her: DDR ist im Westen ein reines Geschichtsthema und im Osten halt Vergangenheit."
    Schwarz-weiß gemalte Vergangenheit
    Eine Vergangenheit, die nur manchmal ein wenig schwarz-weiß gemalt wirkt: Der hinterhältig-egoistische Vater, der Lehrer mit den Nazi-Methoden, die eiskalte Staatsanwältin einerseits, – und ihnen gegenüber Jakobs oppositionelle Eltern, seine freakigen Freunde oder der mutige Jugendpfarrer. Gut und Böse, stark und schwach, naiv und kritisch - auf den ersten Blick sind sie eindeutig.
    "So eindeutig find ich das nicht! Die Jana hat ja eine Klassenlehrerin, die schwankt. Einerseits will sie nicht anecken, andererseits tut ihr auch der Jakob leid, als er von der Stasi abgeholt wird. Sie gibt ja der Jana auch einen Tipp ... also bei der Figur ist es auch so, sie will selber keine Probleme bekommen, andererseits ist sie auch auf der Seite der Jugendlichen."
    Auch Janas Mutter ist eine gespaltene Figur. Sie steht im Schatten des dominanten Vaters und traut sich erst am Schluss, sich hinter ihre Tochter zu stellen. Oder der Rechtsanwalt, der Jakob vertritt – er verteidigt ihn engagiert, ohne ein Oppositioneller zu sein. So entdeckt man, je länger man liest, doch nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Grautöne. Sogar der Schluss – Jana und Jakob sehen sich nach drei Jahren wieder, umarmen und küssen sich – ist kein eindeutiges Happy-End.
    "Zum einen ist es ein Jugendroman, und da will man auch nicht ganz so düster enden. Nach dieser ganzen Düsternis, die die beiden erleben mussten, braucht es diesen Kuss. Aber für mich ist das kein Happy-End. Die Geschichte mit dem Vater ist noch nicht geklärt für Jana und der Jakob, der wird das, was er da im Knast erlebt hat, ewig mit sich rumschleppen, nämlich lebenslänglich."
    Grit Poppe spielt nicht nur auf Romeo und Julia an, sondern bringt ganz konkret George Orwells "1984" und die Bücher des genialen Trampers Jack London ins Spiel. Zwischen diesen Polen spannt sich die Handlung aus: zwischen Liebe, Diktatur und Freiheit. Die komplexe Struktur des Romans – er springt zwischen 1992 und 1989, zwischen Ich-Erzählung und dritter Person hin und her; außerdem werden Janas Tagebucheintragungen zitiert – diese komplexe Struktur erzeugt ein sich steigerndes Erzähltempo. So rasant wie die politischen Ereignisse, so dynamisch entwickelt sich auch die Erzählung. Plötzlich ändert sich alles! Grit Poppe ist dieser Zeitenwende im Roman "Schuld" unmittelbar auf den Spuren. Und ganz nah dran an den jungen Menschen, die gegen das Regime opponierten.
    "Es ist ja so, dass viele hammerharte Geschichten auf der Straße liegen. ... Es geht ja in die Seele der Betroffenen hinein, die sind bis heute traumatisiert. ... Es ist einfach was, was raus muss. Nach 25 Jahren wird es Zeit, die Geschichten der Opfer auch zu erzählen."